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Titel: Ihr sollt nicht Tacheles reden!

Datum: 22. Juli 2023 um 14:00 Uhr
Rubrik: Antisemitismus, Ideologiekritik, Kampagnen/Tarnworte/Neusprech
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Deutschland, Israel und die deutsche Staatsraison: Denkverbot, Diskussionsverbot, Kritikverbot. Arn Strohmeyers Vortrag, präzise seine Buchvorstellung, organisiert vom „Nürnberger Evangelischen Forum für den Frieden“ – Arbeitskreis Palästina, konnte trotz massiver Widerstände aus verschiedenen Ecken mit der Diffamierung Strohmeyers als Antisemit gehalten werden (anders als z.B. der Vortrag von Jakob Reimann in Augsburg, den die Veranstalter verschieben mussten angesichts des massiven Drucks gegen Reimann und gegen die Veranstalter). Aber Strohmeyer und die Veranstalter hatten den abgrundtiefen Hass gegen Strohmeyer unterschätzt. Im Anschluss an den Vortrag, der in Nürnberg vom Publikum sehr positiv aufgenommen worden war, zeigten die „Kritiker“ Strohmeyers ihn wegen „Volksverhetzung“ an. Von Helga Baumgarten.

Die Causa Arn Strohmeyer: Dümmer kann es kaum noch kommen

Worin besteht die „Volksverhetzung“ durch Strohmeyer? Auf der Polizeistation in seinem Wohnort wurde er mit diesen Vorwürfen konfrontiert, die er sofort publik machte:

1. Ich hätte in meinem Vortrag referiert, dass nicht nur Juden Opfer unter dem Nationalsozialismus gewesen seien.

2. Ich hätte behauptet, dass Israel sich auf den Holocaust berufe, um unter diesem Deckmantel die Palästinenser zu unterdrücken.

Anders ausgedrückt:

  • Strohmeyer habe gesagt (und geschrieben), dass es neben den Juden noch andere Opfer des Holocaust gegeben habe.
  • Er habe gesagt (und geschrieben), dass Israel den Holocaust instrumentalisiere zur Unterdrückung der Palästinenser, die seit 1967 unter israelischer Besatzung stehen.

Der Inhalt dieser Anzeige ist angesichts der demonstrierten Unkenntnis der deutschen Geschichte, insbesondere der deutschen Vernichtungspolitik unter dem Nazi-Regime, atemberaubend. Dasselbe gilt für Teil zwei der Anzeige. Offensichtlich hat sich die Person, die die Anzeige erhob, nie mit der israelischen Besatzung seit 1967 und ihrer Unterdrückungspolitik beschäftigt. Schließlich fehlt jede Kenntnis über die gesamte, sehr umfangreiche Literatur sowohl zum Holocaust als auch zur israelischen Besatzung.

Die Argumentation von Moshe Zuckermann, den Strohmeyer um eine Stellungnahme gebeten hat, ist für den/die Anzeigensteller geradezu vernichtend.

Vorher kurz einige Informationen zu Zuckermann für die Leser, die ihn nicht kennen:

Zuckermann war jahrelang Professor für deutsche Geschichte an der Universität Tel Aviv und dort von 2000 bis 2005 Leiter des Instituts für Deutsche Geschichte. Er ist Autor zahlloser Bücher über den Umgang Deutschlands mit und seinem Verhältnis zu Israel, zum Holocaust und zur israelischen Besatzung (zum Beispiel: Der Allgegenwärtige Antisemit oder Die Angst der Deutschen vor der Vergangenheit. Frankfurt/Main 2018, und zuletzt: Die Kunst ist frei? Eine Streitschrift für die Kunstautonomie. Frankfurt/Main 2022).

Zum Verständnis der Causa Strohmeyer ist es hilfreich, Zuckermann ausführlich zu zitieren:

Ad 1: „Man weiß nicht, ob es ein Witz sein soll bzw. in welcher Welt der Anzeigenerstatter lebt. Weiß er allen Ernstes nicht, dass auch Nichtjuden Opfer der Nazis waren? Nie was von Sinti und Roma, von Homosexuellen, von Euthanasie-Opfern, von Kommunisten und anderen politisch verfolgten Nichtjuden, von Zivilisten in den von den Nazis eroberten Ländern und von zahllosen anderen „Feinden” gehört? Was will man da in Abrede stellen? Und was genau soll daran Volksverhetzung sein, wenn man das feststellt?“

Ad 2: „Und so verkam dieses Amalgam – Judentum-Zionismus-Israel – zur Ideologie, die von Israel selbst als Herrschaftsinstrument missbraucht und von ignoranten Israelanhängern als „Argument” gebraucht wird. Das Resultat war das ideologische Ungetüm des sogenannten „israelbezogenen Antisemitismus”: Wer Israel kritisiere, sei definitionsgemäß Antisemit. Nun hat sich Israel über Jahrzehnte als ein Staat erwiesen, der permanent Verbrechen gegen das Menschen- und Völkerrecht begeht, und zwar ganz offiziell und ideologisch proklamiert – im Jahrzehnte währenden Okkupationsregime und in der strukturellen Knechtung der Palästinenser. Das zum Apartheidstaat verkommene Israel kann nicht nur, sondern muss kritisiert werden. Das hat Arn Strohmeyer begriffen und in seinem Buch getan. Das merke sich auch jener hurtige Anzeigenerstatter, der ihn deshalb der Volksverhetzung angeklagt hat. Wie viele andere fanatisierte Israel-Zionismus-Judentum-Anhänger hat auch er offenbar nicht begriffen, wer da gegen wen hetzt, und letztlich – worum es eigentlich historisch wie gegenwartspolitisch geht.“

Im Folgenden soll Arn Strohmeyers Buch „Falsche Loyalitäten – Israel, der Holocaust und die deutsche Erinnerungspolitik“, erschienen 2022 im Promedia Verlag Wien, von dem oben mehrmals die Rede war, vorgestellt werden.

Die zentralen Argumente Strohmeyers richten sich gegen den sogenannten bundesdeutschen „Katechismus“ zum Holocaust. Er beruft sich dabei auf die Arbeit von Dirk Moses und im Besonderen dessen 2021 auf Deutsch in der Zeitschrift „Geschichte der Gegenwart“ erschienenen Artikel: „Der Katechismus der Deutschen“.

Kurz zu Dirk Moses. Er stammt aus Australien, lehrt aber seit Jahren in den USA, seit 2022 am City College New York. Er ist einer der herausragenden Genozid-Spezialisten weltweit und Herausgeber des „Journal of Genocide Research“. In seinen Büchern hat er sich dem Problem des Genozids und seiner Definition gewidmet sowie dem Zusammenhang zwischen Kolonialismus und Genozid[1]. Außerdem thematisiert er immer wieder das Thema Deutschland und der Holocaust, u.a. 2007: German Intellectuals and the Nazi Past. Cambridge University Press.

Worin besteht der von Moses analysierte und kritisierte Katechismus der Deutschen?

Es geht in diesem Katechismus primär um das deutsche Verständnis, die deutsche Interpretation des Holocaust sowie um das deutsche Verhältnis zu Israel, direkt aus dieser Interpretation abgeleitet.

Hier kann er nur kurz vorgestellt werden mit seinen zentralen fünf Aspekten.

  1. Der Holocaust ist historisch einzigartig
  2. Die Erinnerung an den Holocaust als Zivilisationsbruch bildet das moralische Fundament der deutschen Nation, ja der europäischen Zivilisation.
  3. „Deutschland trägt für die Juden in Deutschland eine besondere Verantwortung und ist Israel zu besonderer Loyalität verpflichtet. ‚Die Sicherheit Israels ist Teil der Staatsraison unseres Landes’.“
  4. Der Antisemitismus ist ein Vorurteil sui generis sowie ein spezifisch deutsches Phänomen. Er muss klar vom Rassismus unterschieden werden.
  5. Antizionismus ist Antisemitismus.

Der Inhalt des Buches besteht nach der Vorstellung dieses von Moses herauskristallisierten Katechismus aus der Kritik an den einzelnen Punkten und der Entwicklung eines neuen Holocaust-Verständnisses, einer neuen Interpretation des Antisemitismus sowie einer neuen Politik gegenüber Israel.

Die entscheidenden neuen Argumente betreffen zum einen die Holocaust-Interpretation. Hier vertritt Strohmeyer die universelle Interpretation des Holocaust mit der daraus abgeleiteten Folgerung, dass jede rassistische Verfolgung von Menschen, egal wo und egal durch wen, kritisiert und gestoppt werden muss. Er versteht Antisemitismus als eine von vielen Spielarten des Rassismus. Und jede Form des Rassismus muss grundsätzlich verurteilt und bekämpft werden.

Zur deutschen Politik gegenüber Israel übernimmt Strohmeyer die Interpretation des Tübinger Philosophen Ernst Tugendhat aus dem Jahre 1991. Tugendhat argumentierte damals – und Strohmeyer hält diese Argumentation bis heute für gültig –, dass die Schuldgefühle der Deutschen nach wie vor sehr groß und nicht rational aufgearbeitet sind. Israel baut eben darauf seine Politik gegenüber Deutschland auf, wenn es „auf diesem irrationalen Schuldgefühl der Deutschen virtuos wie auf einem Klavier“ spielt. Erst wenn die Deutschen also ihre Schuld rational aufgearbeitet haben, müssen sie sich den irrationalen Forderungen des anderen, also Israels, nicht mehr unterwerfen. Stattdessen verfügten sie dann über „autonomes Handlungsvermögen“ und könnten so die Frage stellen, wie die deutsche Politik Israel auf der Basis seiner offen artikulierten Interessen unterstützen könne. Davon aber, so Tugenhat 1991 und im Anschluss daran Strohmeyer 2022, sind die deutsch-israelischen Beziehungen noch weit entfernt.

Der Leser würde sich manchmal wünschen, dass Strohmeyer kürzer und prägnanter argumentiert, vor allem aber, dass er weniger Zitate und weniger Verweise auf andere Autoren und ihre Bücher sowie immer neue Quellenangaben in seine Arbeit einbaut. Statt 175 Seiten hätte man dann ein schmales Buch von 120 Seiten in der Hand.

Wenn wir allerdings das Buch in den bundesdeutschen Kontext von 2023 stellen, müssen wir einsehen, dass Strohmeyer keine Alternative hatte.

Schließlich wird derzeit jeder/jede, die sich zu Israel und Israel/Palästina äußern, ohne vorbehaltlos jede politische Entscheidung in Tel Aviv begeistert zu unterstützen, nicht nur kritisiert, was ja legitim wäre, sondern regelrecht „zur Sau gemacht“.

Heute kommen die vernichtenden und immer wieder ad personam gerichteten Angriffe allerdings nicht mehr nur von den üblichen Verdächtigen, also z.B. Anti-Deutschen (dazu immer noch unübertroffen Moshe Zuckermanns Buch von 2010 (2014) „Antisemit!“ Ein Vorwurf als Herrschaftsinstrument. Promedia Verlag, Wien. Dort speziell der Anhang S.193-199), konservativ-reaktionären Richtungen aus den offiziellen jüdischen Gemeinden in Deutschland, Antisemitismusbeauftragten etc. …kaum mehr relevant scheint dagegen „Honestly Concerned“ zu sein, einst „schwergewichtig“ mit Henryk Broder und dem ehemaligen Israel-Korrespondent Ulrich Sahm (u.a. n-tv oder die Hannoversche Allgemeine Zeitung). Inzwischen schaltet sich die Israelische Botschaft in Berlin direkt ein, parallel zu bekannten rechtsradikalen Aktivisten in Israel. Und das ist eine neue und bisher unbekannte Stufe bei den vielfältigen Versuchen, Israel-Kritiker mundtot zu machen.[2]

Strohmeyer hatte und hat also keine Alternative, als jedes Wort dreimal auf die Waage zu legen sowie jede Analyse ausführlich zu dokumentieren, am besten doppelt und dreifach. Das gilt ebenso für jeden Politologen und Geschichtswissenschaftler, der zu Israel und speziell zu Palästina forscht und schreibt.

Dennoch: In immer mehr Publikationen (Bücher und Artikel) ebenso wie in der Mainstream-Presse zeichnet sich im Ansatz eine Entwicklung ab, die offen Kritik übt an der bisherigen bundesdeutschen Politik gegenüber Israel und Palästina. Das betrifft zum einen die deutsche „Staatsräson a-la-Angela Merkel“, zum anderen die Hinterfragung der bis dato nie in Zweifel gezogenen „gemeinsamen Werte“, die die Bundesrepublik so eng mit Israel verbinden. Dies ist zweifellos eine direkte Folge der politischen Entwicklungen in Israel seit Ende 2022 mit der rechtsradikalen Regierung Netanyahu, in der offen rassistische Minister wie Ben Gvir und Smotrich wohl das Sagen haben. Selbst in Kreisen der politischen Elite in Berlin wird sich der eine oder andere inzwischen fragen, wie die bedingungslose „Liebe“ zu Israel unter diesen Umständen erhalten bleiben kann.

Ein guter und selbstkritischer Start könnte in diesem Kontext der Verweis auf den historischen Satz von Gustav Heinemann sein. Als dieser provokativ gefragt wurde, ob er Deutschland liebe, antwortete er schlicht: „Ich liebe meine Frau.“

Was heißt das für das deutsch-israelische Verhältnis? In Israel gibt es bis heute noch etwa 150.000 Überlebende der deutschen Judenvernichtung, des „Holocaust“. Vielleicht wäre es an der Zeit, diese unsere Opfer an die erste Stelle unserer Politik zu stellen und ihnen unsere „bedingungslose Liebe“ zu beweisen: nicht nur den Wenigen, die direkt aus Deutschland unterstützt werden, NEIN: allen ohne Ausnahme.

Laut Angaben der Times of Israel leben etwa ein Drittel dieser Überlebenden, also unsere direkten Opfer, in Armut und sind sogar abhängig von Nahrungsmittelspenden! Das ist eine Schande für die deutsche Politik.

Titelbild: Lightspring/shutterstock.com

Anhang:

Stellungnahme von Professor Dr. Moshe Zuckermann, Tel Aviv, zum Vorwurf der Volksverhetzung gegen Arn Strohmeyer

Von „Volksverhetzung” und Ideologie

Der Journalist Arn Strohmeyer hat ein Buch veröffentlicht, in dem es um Israel, Holocaust und deutsche Erinnerungspolitik geht. Daraufhin hat man gegen ihn eine Anzeige wegen „Volksverhetzung” erstattet.

Arn Strohmeyer hat letztes Jahr das Buch „Falsche Loyalitäten – Israel, der Holocaust und die deutsche Erinnerungspolitik” veröffentlicht. Der Untertitel bezeichnet genau, worum es in diesem Buch geht: um Israel, seinen Bezug zum Holocaust und die deutsche Erinnerungspolitik. Zu einem Vortrag über sein Buch wurde Strohmeyer jüngst vom Nürnberger Evangelischen Forum für den Frieden eingeladen. Im Vorfeld versuchte man, die Veranstaltung zu verhindern, was aber nicht gelang. Dennoch wurde gegen den Autor eine Anzeige wegen „Volksverhetzung” erstattet. Während der Vorladung bei der Polizei erfuhr Strohmeyer, was ihm vorgeworfen wird: 1. Er habe in seinem Vortrag referiert, dass nicht nur Juden Opfer unter dem Nationalsozialismus gewesen seien. 2. Er habe behauptet, dass Israel sich auf den Holocaust berufe, um unter diesem Deckmantel die Palästinenser zu unterdrücken.

Es gab Zeiten, da mußte man schon Schwerwiegenderes auffahren, um der Volksverhetzung angeklagt zu werden. Aber zunächst zu den Vorwürfen selbst. Ad 1.: Man weiß nicht, ob es ein Witz sein soll bzw. in welcher Welt der Anzeigenerstatter lebt. Weiß er allen Ernstes nicht, daß auch Nichtjuden Opfer der Nazis waren? Nie was von Sinti und Roma, von Homosexuellen, von Euthanasie-Opfern, von Kommunisten und anderen politisch verfolgten Nichtjuden, von Zivilisten in den von den Nazis eroberten Ländern und von zahllosen anderen „Feinden” gehört? Was will man da in Abrede stellen? Und was genau soll daran Volksverhetzung sein, wenn man das feststellt? Es scheint dem Anzeigenerstatter um die Singularität der Juden als Opfer der Nazis zu gehen. Dies gemahnt an die Einstellung von Yad Vashem zur Einzigartigkeit des Holocaust – eine alte Debatte, die aber eher etwas mit Politik und Ideologie zu tun hat als mit einer Wesensbestimmung des von den Nazis an den Juden begangenen Völkermordes. Und ähnlich wie Yad Vashem in einem nahezu Pawlowschen Reflex auf jeglichen Vergleich mit dem Holocaust reagiert (etwa mit dem von den Türken in den Jahren 1915-16 an den Armeniern begangenen Genozid), reagiert auch der empörte Anzeigenerstatter auf die schiere Feststellung, daß auch Nichtjuden Opfer der Nazis gewesen seien. Bei Yad Vashem weiß man ja, warum die Institution die Singularität der Shoah tabuisiert; das Tabu erbringt beträchtliches nationales politisch-ideologisches Kapital. Was aber läßt den deutschen Anzeigenerstatter gegen Arn Strohmeyer in solche Aufwallung geraten, daß er ihn der Volksverhetzung zeiht? Schwer zu beantworten. Ich weiß nicht, ob er selbst Jude ist oder nicht. Aber was immer er ist – Jude oder Nichtjude –, er wird sich damit abfinden müssen, daß auch Nichtjuden Opfer der Nazis waren. Wie muß man drauf sein, um das nicht zu wissen bzw. leugnen zu wollen.

Ad 2: Bei der Verteidigung gegen den zweiten Vorwurf beruft sich Arn Strohmeyer darauf, daß auch jüdische Autoren der Feststellung, daß Israel die Holocaust-Erinnerung zu heteronomen Zwecken instrumentalisiere, das Wort reden. Dem ist auch so, aber für sich selbst genommen, ist das kein schlagendes Argument. Denn dafür haben ja Legionen von (deutschen) Sachwaltern der „jüdischen Sache” den Begriff des sich „selbsthassenden Juden” kreiert. So besehen, dürfen auch Autoren wie Dan Diner, Tom Segev, Yehuda Elkana, Moshe Zimmermann und ich (um nur einige zu nennen) der „Volksverhetzung” angeklagt werden. Es geht aber um den Inhalt der von Arn Strohmeyer gemachten Feststellung. Die ist zwar mannigfach belegt, kann aber dennoch dem Deutungsdiskurs preisgegeben werden: Man kann die Dinge so sehen oder auch anders. Wer sich aber der Behauptung Strohmeyers (und vieler jüdischer Autoren) verweigert, muß sich fragen lassen, was es damit auf sich habe, daß die Palästinenser von prominenten israelischen Politikern (und ihrer jeweiligen Anhängerschaft) als die Nachfolger der Nazis bezeichnet (und auch als solche behandelt) werden; daß Benjamin Netanjahu behaupten durfte, nicht Hitler, sondern Mohammed Amin al-Husseini sei der eigentliche Initiator des Holocaust gewesen; daß das als Zufluchtstätte der Juden nach dem Holocaust gegründete Israel in seiner Sicherheit von den Palästinensern bedroht werde, weshalb es gelte, die Palästinenser in Schach zu halten, was nur durch die Okkupation zu gewährleisten sei; vor allem aber, daß der Holocaust-Überlebende Yehuda Elkana angesichts der Brutalität israelischer Soldaten beim Ausbruch der ersten Intifada im Jahre 1988 schreiben zu sollen meinte: „Symbolisch gesprochen, sind aus Auschwitz zwei Völker hervorgegangen: Eine Minderheit, die behauptet: ‚Es soll nie wieder passieren’, und eine verschreckte, furchterfaßte Mehrheit, die behauptet: ‚Es soll nie wieder uns passieren’”. Sofern sich in diesen beiden Postulaten die einzig möglichen Lehren aus dem Holocaust darstellten, hing Elkana, wie zu erwarten, der ersten Auffassung an und distanzierte sich von der zweiten. Ihm ging es indes nicht um die Entscheidung für eine dieser Möglichkeiten, vielmehr zielte er in seinem Aufsatz auf die „normative Behauptung, daß jede Lebenslehre oder -anschauung, die ihre Gültigkeit aus dem Holocaust bezieht, ein Unglück sei”, und er fügte dem hinzu: „Die dem Kollektivgedächtnis zukommende historische Bedeutung wohl bedacht: Eine Atmosphäre, in der ein ganzes Volk aufgrund seines dominierenden Bezugs zu den Lehren der Vergangenheit sein Verhältnis zur Gegenwart bestimmt und seine Zukunft gestaltet, ist ein Unglück für eine Gesellschaft, die wie alle Völker in relativem Frieden und relativer Sicherheit leben will.” Elkanas Einsicht war zum einen von bewundernswerter Tiefe geprägt, zugleich aber (vermutlich schon damals) naiv. Denn das israelische Erziehungssystem und letztlich die gesamte politische Kultur des Landes hatten bereits ganze Arbeit geleistet: Wenige hingen dem universalistischen (dem neuen kategorischen Imperativ Adornos verschwisterten) Postulat „Es soll nie wieder passieren” an; die allermeisten hielten sich am anderen, partikularistischen Postulat: „Es soll nie wieder uns passieren”. Und damit dem auch so sei, dürfe man sich bei der Bekämpfung der Feinde Israels, allen voran der Palästinenser, alles herausnehmen – auch eine über ein halbes Jahrhundert währende barbarische Okkupation und kollektive Knechtung der Palästinenser.

Aber es erhebt sich hier eine ganz andere Frage: Wie kommt es, daß ein ignoranter Mensch sich bemüßigt fühlt, sich zum öffentlichen Sachwalter des Kampfes gegen „Volksverhetzung” aufzuschwingen. Welchen Begriff von Verhetzung hat er? Welches Volk wird da seiner Meinung nach verhetzt, wenn man feststellt, daß nicht nur Juden Opfer der Nazis waren? Die Antwort darauf sollte nicht auf der individuellen Ebene gegeben werden. Es handelt sich da um ein spezifisch deutsches gesellschaftliches Phänomen. Es ist schon viel gesagt worden über die nach der NS-Zeit in Deutschland erfolgte Aufarbeitung der Vergangenheit. Ich bin noch heute der Meinung, daß in dieser Hinsicht in Deutschland Herausragendes geleistet worden ist. Gemessen daran, wie andere Nationen mit ihrer verbrecherischen Vergangenheit umgegangen sind, darf Deutschland in der Tat als vorbildlich gelten. Es war nicht von Anbeginn selbstverständlich, daß dem so sein werde: Eliten der NS-Zeit waren relativ glatt in das BRD-Establishment übergegangen; die wirtschaftswunderselige deutsche Bevölkerung wollte mit dem jüngst Geschehenen nichts mehr zu tun haben, Verdrängung war angesagt. Und Schlußstrich-Forderungen waren schon kurze Zeit nach den Wiedergutmachungsabkommen mit Israel zu hören (nicht nur im Stammtischgedröhn). Als aber dann, in den 60er Jahren, nach und nach die Auseinandersetzung mit dem hitlerischen Verbrecherstaat begann, hat sie in der Erziehung, der Kultur, in den Medien und selbst in der Politik Beachtenswertes hervorgebracht.

Nun scheint aber in den letzten beiden Jahrzehnten eine zum Fetisch geronnene Verdinglichung des Aufklärungsprozesses eingetreten zu sein. „Antisemitismus” scheint zur Matrix des deutschen Selbstverständnisses erhoben worden zu sein (jedenfalls unter denen, die sich mit ihm in welcher Funktion auch immer befassen). Daran ist nichts auszusetzen: Der Antisemitismus gehört bekämpft wie jede Form des Rassismus bzw. des gesellschaftlich wirksamen Vorurteils. Zu fragen gilt es aber, welchen Begriff man von Antisemitismus hat, und welchen Gebrauch man von ihm macht. In Deutschland leb(t)en seit 1945 nicht sehr viele Juden, entsprechend ist der offen artikulierte Antisemitismus in diesem Land eher randständig, zumal er auch legal verfolgt wird. Früh genug hat man sich um einen adäquaten Adressaten für „jüdische Angelegenheiten” auf internationaler Ebene bemüht, und den fand man in Israel; so ist es gekommen, daß die Wiedergutmachungsabkommen mit dem jungen Staat Israel abgeschlossen wurden. Bereits für die alte BRD gerann Israel zum Synonym für Juden; und weil der Zionismus die Staatsideologie Israels darstellt, wurden alle drei Kategorien – Juden, Zionismus, Israel – zusammengebündelt. Aber man weiß ja, daß das in jeder Hinsicht unzulänglich ist: Es gibt Juden, die keine Zionisten sind und auch keine sein wollen; es gibt Zionisten, die nicht in Israel leben und auch solche, die mit dem heutigen Israel nicht sehr viel im Sinn haben; und es gibt Israelis, die keine Juden sind, und israelische Juden, die mit dem religiösen Judentum nichts zu schaffen haben wollen.

Und so verkam dieses Amalgam – Judentum-Zionismus-Israel – zur Ideologie, die von Israel selbst als Herrschaftsinstrument mißbraucht und von ignoranten Israelanhängern als „Argument” gebraucht wird. Das Resultat war das ideologische Ungetüm des sogenannten „israelbezogenen Antisemitismus”: Wer Israel kritisiere, sei definitionsgemäß Antisemit. Nun hat sich Israel über Jahrzehnte als ein Staat erwiesen, der permanent Verbrechen gegen das Menschen- und Völkerrecht begeht, und zwar ganz offiziell und ideologisch proklamiert – im Jahrzehnte währenden Okkupationsregime und in der strukturellen Knechtung der Palästinenser. Das zum Apartheidstaat verkommene Israel kann nicht nur, sondern muß kritisiert werden. Das hat Arn Strohmeyer begriffen und in seinem Buch getan. Das merke sich auch jener hurtige Anzeigenerstatter, der ihn deshalb der Volksverhetzung angeklagt hat. Wie viele andere fanatisierte Israel-Zionismus-Judentum-Anhänger hat auch er offenbar nicht begriffen, wer da gegen wen hetzt, und letztlich – worum es eigentlich historisch wie gegenwartspolitisch geht.


[«1] 2021.Problem of Genocide: Permanent Security and the Language of Transgression. Cambridge Univ. Press. Herausgeber 2009. Empire, Colony, Genocide: Conquest, Occupation and Subaltern Resistance in World History. New York and Oxford: Berghahn Books, 2008/paperback 2009. Herausgeber, zusammen mit Dan Stone. 2008. Colonization and Genocide. Routledge, London, sowie ebenfalls Herausgeber. 2020. Decolonization, Self-Determination and the Rise of Global Human Rights Politics. Cambridge University Press.

[«2] zeit.de/politik/ausland/2023-07/nahost-debatte-israel-muriel-asseburg
sueddeutsche.de/politik/israel-botschaft-asseburg-interview-tilo-jung-antisemitin-kritik-1.6035432


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