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Titel: Verhalten zum Gedenktag: „Weil es der Offenbarungseid von alter und neuer Bundesregierung ist“

Datum: 2. Mai 2025 um 14:45 Uhr
Rubrik: Friedenspolitik, Gedenktage/Jahrestage, Interviews
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Der 80. Jahrestag der Befreiung vom Faschismus steht bevor. Die Feierlichkeiten sind längst geplant, doch im Vorfeld kracht es. Geht es nach dem Willen der deutschen Regierung, sollen Vertreter Russlands nicht an den Feiern teilnehmen. Die Friedensaktivistin Christiane Reymann hat zusammen mit Mitstreitern eine Veranstaltung organisiert und einen Aufruf verfasst, um sich der aktuellen Politik entgegenzustellen. Im interview spricht Reymann über ihre Motivationen und ordnet das Verhalten der deutschen Politik zum Gedenktag ein. Von Marcus Klöckner.

Frau Reymann, der Tag der Befreiung vom Faschismus rückt näher. Sie haben zusammen mit einer Handvoll Anhängern der Friedensbewegung eine Initiative gestartet, die auf der Webseite befreiung.org zu finden ist. Sagen Sie uns bitte: Worum geht es? Was macht die Initiative?

Wir wollen laut und deutlich Danke sagen für die Befreiung Deutschlands vom Faschismus.

Dazu haben wir einen Aufruf verfasst, unter den wir Unterschriften sammeln. Er soll zum 8. und 9. Mai als „Brief an die Befreier“ an eben jene verschickt werden. Und wir laden zu einer politisch-kulturellen Kundgebung am 3. Mai (!) am sowjetischen Ehrenmal in Berlin Tiergarten ein.

Das Besondere an der Kundgebung ist nicht nur die politische Breite der Rednerinnen und Redner und die Vielfalt der Musiker, Musikerinnen, die sich beteiligen – allein die sind sehr ermutigend!. Das Besondere ist zudem der Ort: Wir sagen im Herzen Berlins mit Blick auf den Reichstag und das Brandenburger Tor: „Danke! Frieden! Gute Nachbarschaft mit Russland!“. Das ist das Motto der Kundgebung. Im Gleichklang damit endet auch der Brief an die Befreier mit dem Gedanken: „Kriegstüchtigkeit setzen wir Friedfertigkeit, Friedenswillen, Friedensfähigkeit entgegen als Grundlage eines gesamteuropäischen Sicherheitssystems unter Einschluss Russlands. Statt dem Einsturz des Europäischen Haus tatenlos zuzuschauen, bauen wir Brücken der Verständigung und guten Nachbarschaft.“

Mit diesen Gedanken hat sich eine interessante Mischung von Rednerinnen und Rednern zusammengefunden, von denen ich beispielhaft einige namentlich nennen möchte: Egon Krenz, der letzte Regierungschef eines deutschen Staates, dessen Armee nie im Ausland, nie in einem Krieg eingesetzt war; Alexander von Bismarck, der, wenn ich mich nicht verrechnet habe, Urgroßneffe des Reichskanzlers ist; die Autorinnen Gabriele Krone-Schmalz (per Video) und Inge Pardon. Aus Russland beteiligen sich per Video der stellvertretende Leiter des Europa-Instituts der Russischen Akademie der Wissenschaften, Vladislav Belov, der ehemalige Oberbürgermeister von Wolgograd, das jeweils am 9. Mai wieder Stalingrad heißt, Juriy Starovatikh, und Ludmilla Sirota, eine 95-jährige Überlebende aus Leningrad/St. Petersburg.

Wie kam es zu der Initiative? Was hat Sie dazu veranlasst?

In Kurzfassung: Die etablierte bundesdeutsche Politik. Als wir uns im Oktober vergangenen Jahres erstmals zusammengesetzt haben, war bereits absehbar: Wie seit 2022, werden auch anlässlich des 80. Jahrestages der Befreiung zu regierungsoffiziellen Gedenken keine Vertreter Russlands eingeladen. Das wollten wir nicht nur in Worten kritisieren.

Nun wurde bekannt, dass vonseiten der Bundesregierung und dem Auswärtigen Amt empfohlen wurde, Vertreter Russlands und Belarus von der zentralen Gedenkfeier zum 80. Jahrestag der Befreiung auszuschließen. Wie denken Sie darüber?

Das ist makaber, bitter und erbärmlich. Makaber, weil die Regierung des Tätervolks sich anmaßt zu entscheiden, wer hierzulande in welchen Formen seiner Opfer gedenkt. Es waren Deutsche, die den Raub- und Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion vom Zaun gebrochen und barbarisch geführt haben, mit – auf der Seite der Überfallenen – 27 Millionen Toten aus allen Republiken und Nationalitäten der ehemaligen Sowjetunion, Ungezählten, die schwere körperliche, tiefe seelische Verletzungen erlitten haben; jede Familie dort hat als Arbeitende im Hinterland, als Partisanen, als Hungernde, Kämpfende den Krieg direkt erlebt.

Es ist bitter, weil diese Respektlosigkeit, dieser Hochmut Züge des ekelhaften deutschen Herrenmenschentums aufweist.

Und es ist erbärmlich, weil es der Offenbarungseid von alter und neuer Bundesregierung ist. Auf dem Gebiet der Diplomatie steht sie mit leeren Händen da, bankrott, pleite, komplett unfähig. Ihr penetranter Moralismus kann das nicht mehr verdecken: Der Kaiser ist nackt. Ohne Respekt, ohne Anstand, ohne Friedenswillen.

In der Bild-Zeitung war die Tage Folgendes zu lesen: „Wir haben die russische Botschaft seit dem Überfall auf die Ukraine von allen Jahrestagen ausgeladen“, sagte Brandenburgs Gedenkstätten-Chef Prof. Axel Drecoll zu BILD, „wenn der Botschafter trotzdem kommt, werden wir unser Hausrecht durchsetzen – in enger Abstimmung mit Sicherheitskräften!“

Dieser Herr ist meines Erachtens ein willfähriger Vollstrecker der Vorgaben aus dem Auswärtigen Amt. Von einem Gedenkstättenleiter sollte man Achtung und Wertschätzung des Gedenkens, der Erinnerung, der Geschichte erwarten können. Ich kenne Axel Drecoll nicht persönlich. Doch wenn jemand in einer Position wie der seinen bereit oder gar entschlossen ist, den Botschafter des Landes, das Nazi-Deutschland vernichten wollte, von Polizisten abführen zu lassen, dann entsteht der Eindruck, dass Posten, die sich mit deutscher Geschichte befassen, nicht nach Eignung, sondern nach politischer Fügsamkeit besetzt werden. Staatliches Interesse hat inzwischen die deutsch-russischen Beziehungen in Vergangenheit und Gegenwart zu einem Kampffeld gemacht.

Die Argumentation im Hinblick auf den Ausschluss lautet ja, dass Russland in der Ukraine Krieg führe und deshalb nicht eingeladen werde. Was halten Sie davon?

Zunächst hat das eine mit dem anderen nichts zu tun. Man muss weder den Krieg gutheißen noch ihn verurteilen, um sich dafür einzusetzen, dass Russland zum Gedenken an die Millionen Toten eingeladen wird. Das ist schlicht eine Frage von Anstand und Respekt. Wenn man allerdings mit berücksichtigt, dass der Ukraine-Krieg selbst auch etwas mit Sicherheitsinteressen Russlands heute zu tun hat und diese Sicherheitsinteressen wiederum mit geprägt sind von den grausamen Erfahrungen des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion 1941, dann ergibt sich eine Verbindung zum Gedenken heute – allerdings andersherum: Dann wäre es nicht nur moralisch, sondern auch politisch und rechtlich geboten, Vertreter Russlands ausdrücklich einzuladen und sie um eine Rede zu bitten.

Das entspräche dem 2+4-Vertrag von 1990. Er ist die völkerrechtliche Basis der deutschen Einigung. Darin haben die damals noch zwei Deutschlands und die vier alliieren Siegermächte eindeutige Regeln für ihr Zusammenleben aufgestellt. Die Unterzeichner zeigen sich – in Versalien – „ENTSCHLOSSEN, die Sicherheitsinteressen eines jeden zu berücksichtigen“, sie bekräftigen ihre Bereitschaft, „sich gegenseitig nicht als Gegner zu betrachten, sondern auf ein Verhältnis des Vertrauens und der Zusammenarbeit hinzuarbeiten“. Aus meiner Sicht brechen Deutschland und Frankreich, Großbritannien und die USA diesen international verbindlichen Vertrag, indem sie Russland wieder zu unserem Feind machen wollen.

Leider reicht die Dauerpropaganda in diese Richtung bis in die gesellschaftliche und auch in die parteipolitische Linke. Wulff Gallert, Leiter der Internationalen Kommission der LINKEN, sagte laut dpa am 25. April: „Wer heute einen Angriffskrieg führt und diesen ohne Rücksicht auf die Zivilbevölkerung, sollte im Namen dieses Staats nicht an Gedenkfeiern für den Frieden teilnehmen“. Damit hat sich Wulff Gallert der Masse von selbsternannten Richtern aus dem Tätervolk zugesellt.

Auf der gleichen Linie bewegt sich der LINKEN-Vorsitze Jan van Aken, wenn er die Bundeswehr durchaus in die Lage zur Landesverteidigung versetzen will , aber erklärt, Deutschland werde nicht am Hindukusch verteidigt, sondern an der russischen Grenze. Er versetzt gedanklich bereits die Bundeswehr an die russische Grenze! Das wäre vor wenigen Jahren noch undenkbar gewesen, unsagbar allemal. Ich frage mich auch, was Polen und Ukrainer wohl davon halten, zwecks Landesverteidigung kurzerhand in Deutschland eingegliedert zu werden.

Wie erklären Sie sich das Verhalten der Bundesregierung?

Die Bundesregierung gehört inzwischen zu den 150-Prozentigen unter den Kriegstreibern. Diese Ultra-Überzeugung zeigt, dass die Decke über dem rassistischen Nazi-Bild der slawischen Untermenschen doch dünner war, als „wir Entspannungspolitiker“ – um pauschal eine Gruppe zu bilden – das wahrgenommen hatten. Auf diesem Hintergrund sehe ich drei Ursachen:

Ob mit oder ohne oder nur einem Teilrückzug der USA „aus Europa“, wie es euphemistisch heißt, mit ihrem (Teil-)Rückzug aus dem Ukraine-Krieg ist der Kampf um die Vorherrschaft in Europa wieder aufgebrochen. Die Akteure sind Deutschland, Frankreich, Großbritannien und Polen als selbsternannter Führer der baltischen und osteuropäischen Staaten. Der Einfluss auf den Ukraine-Krieg ist zugleich das Terrain, auf dem dieser Kampf ausgetragen wird.

Den hat – zum zweiten – die alte Bundesregierung begonnen, die neue steigert die Kriegsrhetorik und -vorbereitung bis zum lauten Nachdenken über Taurus-Lieferungen, Angriffe auf die Brücke von Kertsch und eigene Atomwaffen.

Drittens schließlich hat es – von Westdeutschland aus gesehen – eine Phase der Abrüstung mit fruchtbarer wissenschaftlicher, wirtschaftlicher, kultureller Zusammenarbeit von, wie man heute sagen würde: Lissabon bis Wladiwostok im Zuge des Helsinki-Prozesses gegeben. Seinen Höhepunkt hat diese Phase in umfangreicher materieller Abrüstung, in Rüstungskontrollabkommen und 1990 in der Charta von Paris gefunden. Diese Erfahrungen fanden langsam Eingang in das gesellschaftliche Bewusstsein.

In Ostdeutschland haben abertausende Menschen in der Sowjetunion studiert, in Freundschaftsbrigaden oder als Fachleute gearbeitet, dort war das Feindbild Russland überwunden, nicht nur in der politischen Leitungsebene, auch in der Bevölkerung. So erlebe ich das; ich wohne seit der Wende in Ostdeutschland.

Diese Haltung steht einer Aufrüstungspolitik im Weg. Sie soll geschliffen werden. Deshalb wird aus Putin ein landräuberischer Imperialist gemacht, der nach der Ukraine weiter nach Westen vordringen und die Loreley schänden will. Ohne Feind kein Krieg.

Dieser Prozess erfasst das gesamte EU-Europa. Ich erinnere an den gemeinsamen Entschließungsantrag des Europäischen Parlaments zum europäischen Geschichtsbewusstsein, in dem das Parlament schon 2019 festgestellt hat, dass es – bedauerlicherweise – in einigen Mitgliedsstaaten immer noch Denkmäler in Parks, auf Plätzen oder Straßen und dass es Gedenkstätten gäbe, die historische Tatsachen über Verlauf und Folgen des II. Weltkrieges verfälschten, wie es dort heißt. Gemeint sind, das geht aus dem Zusammenhang klar hervor, Denkmäler zur Befreiung von der deutschen Okkupation und teils auch um Friedhöfe von Soldaten der Roten Armee. In einzelnen Ländern, auch in der Ukraine, wurden sogar Hammer und Sichel von Soldatengräbern entfernt. Im Jahr 2024 stellte das Europäische Parlament fest, dass dieser Prozess voranschreite, aber immer noch nicht befriedigend abgeschlossen sei.

Bitte schildern Sie uns kurz: Warum ist die Rolle Russlands am Tag der Befreiung von Bedeutung?

Nach den Siegen der Roten Armee in der Schlacht von Stalingrad im Winter 1942/43 und der größten Schlacht des 2. Weltkrieges bei Kursk im Sommer 1943 war die Hitler-Armee militärisch geschlagen. Von da an ging es für sie nur noch rückwärts, wobei sie der Roten Armee und der Bevölkerung mit ihrer Strategie der Verbrannten Erde noch ungeheure Verluste zufügte. Doch ohne diese bereits beigefügte militärische Niederlage wären die USA nicht in Sizilien gelandet, sie hätten nicht im Sommer 1944 mit den Briten in der Normandie die zweite Front eröffnet. In anderen Worten: Ohne die Rote Armee kein Sieg über den Faschismus in Europa.

Wie Sie wissen, soll das politische Großvorhaben „Kriegstüchtigkeit“ umgesetzt werden. Das Feindbild ist klar: Russland. Dürfen wir Ihre Gedanken dazu erfahren?

Das Feindbild Russland macht mich unendlich traurig. Ich könnte mich vor Fremdschämen in das nächstbeste Mauseloch verkriechen. Das änderte nur nichts; besser also mit anderen zusammen aufklären, sich gegenseitig stützen, dieser Politik entgegentreten. Das Drama ist doch, die reden nicht nur von Kriegstüchtigkeit, die meinen das ernst.

Wie sollte der Tag der Befreiung gefeiert werden?

In Wien veranstaltet das Mauthausen-Komitee seit 2013 auf dem zentralen Heldenplatz am 8. Mai das Fest der Freude. Dieser Titel gefällt mir. Dank der Befreiung leben wir. Wir können uns des Lebens freuen. Wie schön! In jede Lebensfreude geht eine Träne ein, auch mehrere, gehen Erfahrungen von Widerstand und Niederlagen ein. Und Dankbarkeit! Deshalb gehört zum Tag der Befreiung ein Innehalten, Erinnern … und nicht mit den eigenen Gedanken und Sorgen allein zu sein, sondern gemeinsam zeigen: Wir bleiben widerständig. Wir bleiben heiter.

Titelbild: Screenshot YouTube


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