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Titel: „Verantwortung für Deutschland“ – Friedrich Merz und die gefährliche Sehnsucht nach Stärke
Datum: 15. Mai 2025 um 10:00 Uhr
Rubrik: Bundesregierung, einzelne Politiker/Personen der Zeitgeschichte, Erosion der Demokratie
Verantwortlich: Redaktion
Die erste Regierungserklärung von Friedrich Merz kommt nicht als Erneuerung, sondern als Selbstvergewisserung einer politischen Klasse daher, die an ihrer Vergangenheit leidet, aber unfähig oder unwillig scheint, eine gerechtere Zukunft zu entwerfen. Diese Regierungserklärung ist kein Aufbruch – sie ist ein ethisch verarmter Rückschritt. Sie inszeniert Führung ohne Führsorge; Sicherheit ohne Gerechtigkeit und Freiheit ohne Gleichheit. Von Detlef Koch.
1. Strukturelle Einordnung: Regierung der Alternativlosigkeit
Der Zeitpunkt ist markant: Beginn einer neuen Legislatur, in Zeiten von Völkermord, Krisen, Krieg und Kontrollverlust. Der Ton: staatsmännisch, entschlossen – aber auch technokratisch kalt und im Innersten: zutiefst marktkonform.
Die Zielgruppen sind klar konturiert: internationale Partner – von Macron über Biden bis Netanjahu – die Wirtschaftselite im Inland sowie ein misstrauisch gewordener Mittelstand. Wer fehlt? Die prekär Beschäftigten, die Armutsrentnerinnen, die alleinerziehenden Mütter, die Kinder im Hartz-IV-Nachfolger „Bürgergeld“, die „Working Poor“ – kurz: die Mehrheit.
2. Inhaltliche Schwerpunkte: Sicherheit, Standort – und sonst?
Die Regierungserklärung lässt keinen Zweifel: Sicherheitspolitik ist das neue Zentrum. Sicherheit nach außen (Aufrüstung, NATO, Ukraine, China), Sicherheit nach innen (Migration, Polizei, Strafrecht). Es ist das Bild eines bedrohten Staates, der sich zur Festung umbaut – mental, materiell, ideologisch.
Die wirtschaftspolitischen Passagen inszenieren Merz als Erneuerer: Entbürokratisierung, Digitalisierung, Abschiebungsoffensiven. Das Schlagwort „Transformation“ ist allgegenwärtig – aber nie als soziale oder ökologische, sondern als technologische und investorenfreundliche. Das Versprechen lautet: Wohlstand durch Wachstum. Tja, und wer nicht wächst, bleibt eben zurück.
Die soziale Frage wird marginalisiert – wo sie auftaucht, erscheint sie als Belastung, nicht als Gerechtigkeitsimperativ. Bezahlbarer Wohnraum, Kindergrundsicherung, Pflegekrise, prekäre Beschäftigung – all das spielt in der Dramaturgie dieser Rede keine tragende Rolle.
3. Rhetorik und Ideologie: Die Sprache des Gehorsams
Merz’ Rede ist ein Lehrstück marktkonformer Politlyrik. Hinter Begriffen wie „Verantwortung übernehmen“, „Verlässlichkeit“ oder „Bürokratieabbau“ verbirgt sich ein altbekanntes ideologisches Koordinatensystem:
4. Die blinden Flecken: Sozialpolitik als Zumutung
Die soziale Kälte dieser Regierungserklärung ist schockierend. Friedrich Merz spricht von „Wohlstand für alle“, meint aber steuerpolitische Entlastungen für die Wohlhabenden. Während Millionenerben und Großunternehmen entlastet werden, sollen Geringverdiener mit mehr „Anreizen“ zur Arbeit erzogen werden. Es ist ein Rückfall in die Logik der Agenda 2010 – mit härterem Ton und dünnerer Maske.
Dass soziale Ungleichheit die zentrale Spaltungsursache in westlichen Gesellschaften ist – diese Erkenntnis scheint bei Merz nicht angekommen zu sein. Wer aber wirtschaftliche Notlagen individualisiert, erzeugt politische Verzweiflung. Und wer Verzweiflung erzeugt, öffnet das Tor zur Radikalisierung. Merz stärkt durch seine Politik jene Kräfte, die er rhetorisch zu bekämpfen vorgibt – die AfD wird von der politischen Verachtung der Abgehängten genährt, nicht von ihrer Kulturkritik. Vielleicht sollte Herr Merz mal Didier Eribon lesen.
5. Israel, Staatsräson und moralische Erpressung
Besonders kritisch fällt der Umgang mit dem „Nahostkonflikt“ ins Gewicht, der sich zu einem ausgewachsenen Völkermord gemausert hat. Merz erneuert die Formel der „Staatsräson“ gegenüber Israel – ohne jeden kritischen Vorbehalt. Der Angriff der Hamas wird als „barbarisch“ bezeichnet – zu Recht. Doch kein Wort fällt über den Tod von über 51.000 Palästinensern in Gaza. Kein Wort über das Völkerrecht, kein Wort über Siedlungspolitik, Apartheidstrukturen oder den Internationalen Gerichtshof. Stattdessen wird Solidarität mit einer Regierung bekundet, die nachweislich Kriegsverbrechen begeht – und das unter dem Banner deutscher „Verantwortung“. Die Katze lässt das Mausen nicht … oder wie dürfen wir Sie da verstehen Herr Merz?
Wer jüdisches Leben in Deutschland wirklich schützen will, muss die Unterscheidung zwischen Antisemitismus und ethisch gebotener Israelkritik verteidigen. Merz hingegen vermischt Judentum mit israelischen Verbrechen, schützt Täter, beschämt Opfer – und delegitimiert damit jüdische, völkerrechtlich fundierte Kritik. Das ist nicht „Staatsräson“, das ist ideologisierte Komplizenschaft.
6. Wer profitiert, wer verliert?
Profiteure:
Verlierer:
7. Was fehlt in der öffentlichen Debatte?
8. Die Bilanz: Eine Regierung der Ordnung – ohne Gerechtigkeit
Die Regierung Merz verfolgt kein ideologisches Großprojekt – das ist richtig. Doch gerade diese Absage an Visionen entlarvt sich als gefährliches Programm: Wer Politik nur noch als Verwaltung von Zwängen begreift, kapituliert vor den Systembedingungen, statt sie zu verändern.
Diese Regierungserklärung ist Ausdruck eines neuen autoritären Liberalismus: Er vertraut auf Märkte, diszipliniert Arme, militarisiert Außenpolitik und spricht von Freiheit, ohne soziale Gerechtigkeit zu meinen. Das ist keine Demokratiepolitik – hier wird Armut zum Herrschaftsinstrument.
Wenn Friedrich Merz von einem neuen Generationenvertrag spricht, dann ist das in Wahrheit ein Rückzug des Staates aus der Verantwortung. Ein Vertrag ohne soziale Sicherheit, ohne politische Teilhabe, ohne intergenerationelle Umverteilung – ist kein Vertrag, sondern ein Diktat.
Schlusswort: Eine Regierungserklärung als Warnung
Diese Regierungserklärung ist kein Aufbruch – sie ist ein ethisch verarmter Rückschritt. Sie inszeniert Führung ohne Führsorge; Sicherheit ohne Gerechtigkeit und Freiheit ohne Gleichheit.
Was Merz verspricht, ist die Rückkehr zu einer vermeintlich normalen Ordnung – dabei ist es genau diese Ordnung, die viele Menschen an den Rand der Verzweiflung gedrängt hat. Wer jetzt weiter dereguliert, privatisiert und diszipliniert, zerstört nicht nur Vertrauen in die gute Kraft des Staates – er zerstört am Ende das Herz dieses Staates – die Demokratie selbst.
Titelbild: Ryan Nash Photography / shutterstock.com
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