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Titel: Stimmen aus Ungarn: Merz – Vom ewigen Verlierer zum gescheiterten Kanzler?

Datum: 22. Mai 2025 um 12:00 Uhr
Rubrik: Außen- und Sicherheitspolitik, einzelne Politiker/Personen der Zeitgeschichte, Innen- und Gesellschaftspolitik
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Der neue deutsche Bundeskanzler Friedrich Merz versucht, mit einem harten Russland-Kurs und der Nutzung des Ukraine-Krieges als Hebel europäische Führung zurückzugewinnen und die deutsche Wirtschaftskrise zu lösen. Merz setzt damit Deutschland und die EU einem hohen Risiko aus und könnte sich selbst als ewigen Verlierer der deutschen Politik etablieren. Ein Beitrag von Gábor Stier. Aus dem Ungarischen übersetzt von Éva Péli.

Der beharrliche Friedrich Merz, der von Angela Merkel lange Zeit in den Hintergrund gedrängt wurde, sich deshalb in der Geschäftswelt bei einem US-amerikanischen multinationalen Unternehmen [BlackRock, Anm. d. Red.] tröstete und erst im dritten Anlauf an die Spitze der Partei gewählt wurde, erreichte schließlich den Gipfel. Doch als Kanzler beginnt er aus einer schwierigeren Position als vielleicht jeder seiner Vorgänger. Er gewann von vornherein mit dem zweitschlechtesten Ergebnis in der Geschichte der CDU und manövrierte sich im Wahlkampf in eine Lage, in der er im Wesentlichen nur mit den stark geschwächten Sozialdemokraten eine Koalition bilden konnte. Als die Koalitionsverhandlungen abgeschlossen waren, wurde die CDU in der Popularität in beispielloser Weise von der in politische Quarantäne gehaltenen AfD überholt. Doch als ob das Merz’ Antritt nicht schon genug belastet hätte, erhielt der CDU-Chef bei seiner Wahl zum Kanzler eine historische Ohrfeige. Im ersten Wahlgang bekam er keine Mehrheit. So etwas gab es im Bundestag seit 1949 nicht. Danach ging er bereits als geschwächter Kanzler auf seine erste Auslandsreise nach Paris.

Zur tiefen Krise des deutschen Wirtschafts- und Strategiemodells, das durch die Migrationsfrage stark belastet ist, kam die politische Unsicherheit um den Amtsantritt des Kanzlers hinzu. Das sind keine guten Nachrichten für die desorientierten Deutschen, aber auch nicht für die Europäer. Denn wie man es auch dreht und wendet, Deutschland hat die Europäische Union zwar seit fast einem Jahr mit seinen inneren Problemen allein gelassen, ist aber immer noch ihre Führungsmacht und ihr Motor. Seine jetzige Krise bedeutet einen Rückschritt für das gemeinsame europäische Projekt. Der Handlungsspielraum von Merz ist in dieser Situation ziemlich eng.

Er ist von vornherein der unbeliebteste Kanzler der jüngeren Geschichte, die AfD sitzt der CDU/CSU im Nacken, sodass die neue deutsche Regierung ihre Amtszeit ohne Schonfrist beginnen musste. Nicht nur die geopolitischen und wirtschaftlichen Entwicklungen setzen sie unter Druck, sondern auch die deutsche Gesellschaft, die spürbar skeptisch ist und wenig Vertrauen in den Erfolg der alt-neuen politischen Kraft hat. Und wie die Abstimmung im Bundestag zeigte, gibt es auch in den Reihen der Partei Zweifler. Stabilität ist also nicht gegeben, sie muss vom neuen Kanzler erst geschaffen werden.

Merz’ Offensive: Europäische Führung und Eskalation mit Russland

Die neue Berliner Führung trat zudem in einer Zeit ihr Amt an, in der die Europäische Union mit der größten strategischen und geopolitischen Unsicherheit seit dem Ende des Kalten Krieges vor 35 Jahren konfrontiert ist.

Am Rande Europas tobt ein Krieg, der nicht nur die Sicherheit des Kontinents, sondern aufgrund der fehlerhaften Politik auch seine wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit sichtbar schwächt. Zudem hat sich das transatlantische Verhältnis dramatisch verschlechtert. Merz versucht, diese tiefe und vielschichtige Krise zu überwinden und gleichzeitig die Führung von den Briten und Franzosen zurückzuerobern, die im Machtvakuum das europäische Steuerrad an sich gerissen haben. So will er alle in der Frage der Haltung zu Russland und des Krieges in der Ukraine übertönen. Er stellt Ultimaten, setzt Moskau Fristen, droht mit der Lieferung von Taurus-Raketen und Sanktionen. Mit diesem etwas kindischen oder eher verzweifelten Verhalten, das den Anschein von Selbstvertrauen erweckt, versucht der Kanzler, die Aufmerksamkeit auf sich, auf Deutschland und auf das an den Rand gedrängte Europa zu lenken – und gleichzeitig von allem abzulenken, was den neugierigen und misstrauischen Blick auf sich zieht und das Image eines starken europäischen Anführers trübt.

Und ähnlich wie die von postimperialen Träumen getriebenen Briten und die nach europäischen Machtambitionen strebenden Franzosen scheint er zu glaubten, dass der Konflikt in der Ukraine eine hervorragende Gelegenheit ist, hart durchzugreifen und die globale Initiative zurückzuerobern.

In der veränderten globalen Landschaft erweist sich dieses Vorgehen als realitätsferne Illusion. Der europäische Mainstream, verhaftet in überholten Narrativen, verkennt die Zeichen der Zeit. Während die US-Regierung bereits die aussichtslose Lage in der Ukraine erkannt hat und sich zurückzieht, setzen die europäischen „Willigen“ zynischerweise auf eine Fortsetzung des Krieges, um Zeit für den Aufbau eigener Verteidigungsfähigkeiten zu gewinnen und Russland zu schwächen.

Zynischerweise wird die russische Gefahr geschürt und aufrechterhalten, um in den westlichen Gesellschaften die Akzeptanz für die Lasten des Wiederaufbaus der in den vergangenen Jahrzehnten sträflich vernachlässigten Verteidigung und der notwendigen Aufrüstung zu erzeugen. Die Militarisierung, die über moralische Aspekte hinaus wenig sinnvolle, aber beharrliche Unterstützung der Ukraine und die damit verbundene Aufnahme enormer gemeinsamer Schulden beschleunigen die Föderalisierung der Europäischen Union auf wohlüberlegte und unumkehrbare Weise. Merz versucht nun, sich an die Spitze dieser europäischen Politik zu stellen, die von falsch verstandenen Interessen ausgeht, und das Steuerrad zurückzuerobern.

Merz’ Kurs: Zwischen Rhetorik und Realitätsverlust

Für Merz ist die Ukraine-Krise paradoxerweise auch eine Art Wendepunkt. Die vehemente kriegsbefürwortende Haltung des neuen, von BlackRock „delegierten“ deutschen Kanzlers entspringt auch der oben genannten Denkweise, dass die EU stark verschuldet werden muss, um endlich eine vollständige finanzielle Einheit mit zentraler Besteuerung zu schaffen.

All dies wurde durch die Programmrede von Friedrich Merz im Bundestag veranschaulicht, in der er ausführlich über den Krieg in der Ukraine und die Sicherheitsherausforderungen für Europa sprach. Laut seinen Worten greifen 80 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und im 35. Jahr der deutschen Wiedervereinigung die Feinde der Freiheit und der liberalen Demokratie diese stärker an als je zuvor.

In Bezug auf den fälschlicherweise zu einer existenziellen Frage gemachten Ukraine-Konflikt erklärte Merz, dass der Ausgang des Krieges nicht nur über das Schicksal der Ukraine entscheidet, sondern auch darüber, ob Recht und Ordnung in Europa und der Welt herrschen oder ob militärische Gewalt, Tyrannei und das Recht des Stärkeren gelten.

Laut Merz steht mit dem Krieg der Frieden des gesamten Kontinents auf dem Spiel. In Bezug auf den Ukraine-Krieg erklärte Merz, dass Deutschland keine Kriegspartei, aber auch nicht neutral sei. Aus der Lagebeurteilung zog er schließlich den Schluss, „dass wir in der Lage sein müssen, uns zu verteidigen, damit wir uns nicht verteidigen müssen“.

Aus all dem können wir den Schluss ziehen, dass sich mit dem Sieg der CDU die Berliner Politik, die die deutschen Interessen falsch interpretiert oder ignoriert, nicht ändern wird. Berlin will sich, eingebettet in den europäischen Mainstream, nicht eingestehen, dass Trump und sein Team, die aufgrund ideologischer Gegensätze fast als Feinde behandelt werden, die Veränderungen in der Welt richtig einschätzen, während Europa, irgendwo in der Vergangenheit verhaftet, Herausforderungen ideologisch statt interessenorientiert angeht und, anstatt seine eigenen Probleme zu lösen, die Rolle des Verteidigers und Führers der progressiven liberalen Ordnung von den sich abwendenden USA übernehmen will. Doch diese Welt existiert nicht mehr.

Merz verkennt jedoch auch, dass ein bedeutender Teil der deutschen Gesellschaft die AfD gewählt hat, weil viele kein Vertrauen mehr in die traditionellen Parteien haben. Und das zu Recht, denn anstatt die deutsche Deindustrialisierung, den dramatischen Rückgang der Wettbewerbsfähigkeit, den revolutionären grünen Übergang und die Folgen der Migration zu bewältigen und die bisherige verfehlte Politik zu korrigieren, werden wieder nur kosmetische Maßnahmen vorgenommen. Die Krise der deutschen Wirtschaft wird dadurch nicht gelöst. Die Ankurbelung der Verteidigungsindustrie und die damit verbundene Aufhebung der Schuldenbremse sind für die strukturellen Probleme allein keine Lösung. Zudem droht die fehlerhafte Ukraine-Politik Deutschland unmittelbar in einen eskalierenden globalen Konflikt zu verwickeln.

Der Beitrag ist auf Ungarisch auf moszkvater.com erschienen.

Titelbild: Shutterstock / Ryan Nash Photography


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