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Titel: Zionismuskritische jüdische Stimmen im deutschen Mediensystem – Eine Analyse ihrer Marginalisierung seit 1948
Datum: 23. Mai 2025 um 10:00 Uhr
Rubrik: Antisemitismus, Audio-Podcast, Erosion der Demokratie, Medienkritik, Strategien der Meinungsmache
Verantwortlich: Redaktion
Von der Gründung des Staates Israel bis in die Gegenwart ist der deutsche Diskurs über den Zionismus von einer bemerkenswerten Enge geprägt. Während die Medien in pluralistischen Demokratien wie den USA oder Großbritannien regelmäßig jüdische Stimmen zu Wort kommen lassen, die den Zionismus oder die israelische Regierungspolitik dezidiert kritisieren, erscheinen solche Positionen in den deutschen Leitmedien seit 1948 – wenn überhaupt – nur randständig, verzerrt oder in delegitimierender Weise. Diese Marginalisierung ist kein Zufall, sondern Ausdruck eines historisch gewachsenen, institutionell stabilisierten und medial reproduzierten Meinungskorridors. Von Detlef Koch.
Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.
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Die kritische Frage, welche Risiken damit für die demokratische Debattenkultur einhergehen, wurde lange kaum gestellt. Dabei ist der Ausschluss innerjüdischer Dissidenz aus dem öffentlichen Diskurs nicht nur ein medienpolitisches, sondern ein demokratiepolitisches Problem.
Die Ursachen dieser systematischen Ausblendung zionismuskritischer jüdischer Positionen reichen tief in die Nachkriegszeit zurück. Der Holocaust und die daraus erwachsene Schuld der Deutschen schufen ein moralisches Klima, in dem Kritik am jüdischen Staat – und sei sie noch so sachlich oder innerjüdisch – schnell als pietätlos galt. Israel wurde als Symbol der jüdischen Wiedergeburt und als Projekt historischer Wiedergutmachung verklärt. In dieser Logik war das Selbstbestimmungsrecht der Juden sakrosankt – Kritik an dessen realpolitischer Ausgestaltung galt als ungehörig.
Dies betraf selbst solch herausragende jüdische Intellektuelle wie Hannah Arendt oder Martin Buber. Ihre Warnungen vor einem ethnonationalistischen Staatsmodell und ihre Plädoyers für eine binational-demokratische Ordnung fanden in deutschen Medien kaum Resonanz. Vielmehr wurden ihre Positionen – wenn überhaupt – als theoretische Exzentrik oder gar als „jüdischer Selbsthass“ etikettiert.
Mit der Erklärung der Sicherheit Israels zur „Staatsräson“ (Merkel, 2008) wurde diese symbolische Loyalität institutionell verankert. Sie wurde zum Prüfstein deutscher Identität – mit Folgen für den Journalismus: Medien, die über Kritik an Israel berichten, riskieren den Vorwurf, sich außerhalb des staatstragenden Konsenses zu bewegen.
Entscheidend für die Diskurshoheit über „das Jüdische“ in Deutschland ist die Rolle des Zentralrats der Juden. Dieser beansprucht seit Jahrzehnten die alleinige Vertretung jüdischer Interessen – und tut dies fast ausschließlich aus einer israelsolidarischen Perspektive. Zionismuskritische Juden wie Rolf Verleger oder Evelyn Hecht-Galinski wurden daher öffentlich marginalisiert oder institutionell ausgeschlossen. Verleger verlor nach seiner Kritik am Libanonkrieg 2006 seinen Sitz im Zentralrat.
In der medienpolitischen Praxis führt dies dazu, dass fast ausschließlich Vertreter dieser loyalistischen Linie als Gesprächspartner eingeladen oder zitiert werden. Alternative Organisationen – etwa die „Jüdische Stimme für gerechten Frieden“ oder das internationale Netzwerk „Jewish Voice for Peace“ – tauchen nur dann in Berichterstattung auf, wenn sie skandalisiert werden, z. B. im Zusammenhang mit BDS-Unterstützung oder provozierenden Aktionen.
Die mediale Behandlung zionismuskritischer jüdischer Stimmen folgt einem wiederkehrenden Muster: Sichtbar werden sie meist erst durch Kontroversen – und dann in einem abwertenden Ton. Judith Butler, eine bedeutende jüdische Philosophin, wurde 2012 nicht für ihre ethische Kritik am Staatsnationalismus gewürdigt, sondern als „umstrittene BDS-Unterstützerin“ porträtiert. Ihre Gegendarstellungen erschienen nur verzögert und nach öffentlichem Druck.
Neturei Karta, eine ultraorthodoxe, anti-zionistische Gruppierung, wurde von der Welt als „Fanatiker“ und „Israel-Hasser“ betitelt – ohne ernsthafte Auseinandersetzung mit ihrer theologischen Argumentation gegen einen säkularen jüdischen Staat. Der israelische Soziologe Moshe Zuckermann, ein scharfer Kritiker des politischen Zionismus, wurde vom Deutschlandfunk Kultur pauschal als „polemisch“ und „psychologisch spekulativ“ abgetan. Seine inhaltlichen Argumente über die politische Funktion des Antisemitismusvorwurfs wurden nicht aufgenommen, sondern psychologisiert.
Hinzu kommt ein strukturierendes Framing: Jüdische Israelkritik wird routinemäßig als „extrem“, „randständig“ oder „nicht repräsentativ“ dargestellt. Selbst ein Offener Brief von Holocaust-Überlebenden, die Israels Gaza-Politik kritisierten, wurde in Spiegel Online relativiert, indem betont wurde, viele Unterzeichner seien „nur Angehörige“.
Diese Ausblendung hat weitreichende Folgen. Sie beschneidet die Meinungsvielfalt innerhalb des jüdischen Spektrums, fördert ein monolithisches Bild vom „Judentum“ als staatsloyale, pro-zionistische Formation – und verstärkt so die gefährliche Tendenz, jüdische Identität mit israeltreuer Haltung gleichzusetzen. Dadurch entsteht paradoxerweise eine Konstellation, in der ausgerechnet Juden, die an universalistische Ethiken, pazifistische Traditionen oder diasporische Identitäten anknüpfen, aus dem Diskurs ausgeschlossen werden – oft unter dem Vorwurf des Antisemitismus.
Diese Logik pervertiert nicht nur den Begriff des Antisemitismus, sie gefährdet auch die demokratische Debattenkultur. Wenn jüdische Kritik an Israel – ob aus theologischer, historischer oder politisch-ethischer Motivation – reflexhaft delegitimiert wird, dann wird der öffentliche Raum enger. Die deutschen Medien riskieren, zur Bühne einer Selbstzensur zu werden, bei der bestimmte Fragen als unzulässig gelten – nicht weil sie polemisch, sondern weil sie historisch belastet sind.
Wie Jacobin 2024 analysierte, kulminiert diese Praxis in einer „gefährlichen Verzerrung“: Deutschland stilisiert sich zum Wächter Israels – und verdrängt dabei, dass gerade jüdische Kritik ein Ausdruck lebendiger, pluraler Tradition ist.
Es gibt Anzeichen für eine allmähliche Öffnung: Tagesspiegel und Deutschlandfunk Kultur publizieren vereinzelt differenzierte Positionen. Persönlichkeiten wie Avi Primor oder Moshe Zimmermann intervenieren öffentlich gegen den Antisemitismusverdacht gegenüber jüdischen Israelkritikern. Solche Gesten haben Wirkung – und könnten helfen, einen breiteren, inklusiveren Diskurs zu ermöglichen.
Doch der strukturelle Druck bleibt hoch. Die Angst vor Skandalisierung, institutionellem Gegenwind oder Anzeigen boykottfreudiger Verbände wie dem Zentralrat hemmt weiterhin viele Redaktionen. Es braucht daher nicht nur einzelne Beiträge, sondern eine konsequente journalistische Selbstvergewisserung: Wie viel Pluralität verträgt der Diskurs? Und welche Stimmen fehlen – gerade, weil sie unbequem sind?
Fazit
Die Marginalisierung zionismuskritischer jüdischer Stimmen in deutschen Leitmedien ist kein mediales Randphänomen, sondern ein zentrales Symptom einer diskursiven Verengung. Sie ist historisch erklärbar, institutionell abgesichert und journalistisch dokumentierbar – aber demokratisch riskant. Denn eine Debatte, die zentrale innerjüdische Kontroversen systematisch ausblendet, beraubt sich nicht nur kritischer Perspektiven, sondern verliert auch an Integrität. Gerade in Zeiten zunehmender Polarisierung und identitätspolitischer Instrumentalisierung wäre es eine journalistische Tugend, die Vielfalt jüdischer Stimmen sichtbar zu machen – auch und gerade dann, wenn sie dem dominanten Konsens widersprechen.
Meine verwendeten Quellen:
Titelbild: Pixel-Shot / Shutterstock
Hauptadresse: http://www.nachdenkseiten.de/
Artikel-Adresse: http://www.nachdenkseiten.de/?p=133337