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Titel: Das neue Buch „Ich bin nicht dabei“ von Michael Andrick

Datum: 28. Juni 2025 um 13:00 Uhr
Rubrik: Erosion der Demokratie, Rezensionen, Strategien der Meinungsmache
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Er gehört mittlerweile zu den wichtigsten kritischen Stimmen Deutschlands: der Philosoph Michael Andrick. Durch seine klare, philosophische Argumentation hat er es, anders als viele andere seines Metiers, geschafft, sich auch in etablierten Kreisen Anerkennung zu verschaffen und etwa von großen Medienhäusern als Redner eingeladen zu werden. Sein Buch „Im Moralgefängnis“ (2024), in dem er sich kritisch mit der moralischen Aufladung politischer Diskurse auseinandersetzt, schaffte es in die Spiegel-Bestsellerliste. Nun ist sein Buch „Ich bin nicht dabei“ erschienen – eine Zusammenstellung verschiedenster Kolumnen, Essays und Aphorismen, die Beachtung verdient. Eine Rezension von Alrun Vogt.

Wohl kaum jemand würde von sich sagen, nicht kritisch zu sein. Und dennoch haben wir meistens vorgefertigte Meinungen, an denen wir allzu gerne niemanden rütteln lassen wollen. Das betrifft nicht nur politische Meinungen, sondern alle unsere Denkgewohnheiten. Doch da, wo Gewohnheit das Denken übernimmt, sind wir nicht mehr frei, führt Andrick aus. Denn frei sein bedeutet, anders denken und handeln zu können als üblich. „Das Nachdenken beginnt immer mit dem ‘Nein’: Mit dem Unterbrechen des gewohnten Flusses der Gedanken”, so der Philosoph. In diesem Sinne ist sein Buch ein Plädoyer, alles zu hinterfragen: Unsere eigenen Einstellungen zur Arbeitswelt, Erfolg und Autoritätsgläubigkeit, zur Politik, zur Künstlichen Intelligenz, zur Philosophie. Andrick gibt dem Leser durch klare begriffliche Definitionen das philosophische Handwerkszeug und die Anregung dazu.

Vor allem macht er die immense politische Dimension des Hinterfragens und des Diskurses deutlich. Heute haben wir einen Zustand erreicht, in dem viele Bürger einen Staat wollen, der ihnen sagt, wie Demokratie funktionieren muss; einen Verfassungsschutz, der ihnen sagt, welche Oppositionsparteien wie zu beurteilen sind; eine Wissenschaft, die widerspruchslos verkündet, welche Maßnahmen richtig sind – einen Zustand, in dem viele bereitwillig der geschickten öffentlichen Darstellung glauben, dass das Gemeinwohl mit Milliardeninteressen identisch ist. Grund genug, mit dem Hinterfragen zu beginnen.

Andrick beschreibt, wie leicht wir in einen gedankenlosen Konformismus geraten, in einen Zustand, den er definiert als geschwächte Fähigkeit, die eigene Erfahrung durch Nachdenken zu verarbeiten. Der Konformismus beginnt in unserer Arbeitswelt, in der wir uns durch einen quasireligiösen Kult um den „Erfolg“ dem Getriebe eines sinnentleerten Systems unterwerfen und dabei uns selbst und unsere Kreativität verlieren.

Das Nachdenken und Hinterfragen muss, so Andrick, kultiviert und geübt werden – als Voraussetzung für die Sinnhaftigkeit des eigenen Lebens, als Voraussetzung, um mit persönlichen Verletzungen umgehen zu können, und für das Funktionieren der Demokratie. Dabei erreichen wir neue Ansichten gerade durch das Andere, durch Abweichler, durch Provokateure – also gerade durch etwas, was einflussreiche Kreise heute durch Kulturkorrektur eliminieren wollen und auch tun. Nach deren mittlerweile erschreckend weit verbreitetem Narrativ hat der Liberalismus seine Schuldigkeit bereits getan; nun habe man die Wahrheit erkannt und man könne die Gesellschaft schließen, auf die richtigen, eigenen Ziele hin, stellt Andrick fest. So ist es möglich, dass sich die Herrschenden im Namen nobler Ideen immer mehr Machtfülle aneignen, bis hin zur Aufkündigung der Demokratie im Namen der Verteidigung gegen „das Böse”.

Wer zu ähnlicher Feststellung gekommen ist, aber andere Menschen mit Argumenten noch nicht erreichen konnte, der vermag vielleicht mit der Weitergabe dieses Büchleins etwas auszurichten. Denn sich gegen sauber begründete, philosophische Argumentation zu verschließen, ist vermutlich nicht so leicht. In kurzen Abhandlungen über politische Korrektheit, über die Gefahr und Psychologie von Notständen, über die Absurdität „gerechter“ Sprache, Brandmauern, Milliardäre, die Arbeitswelt der Industriegesellschaft und anderes mehr macht der Autor nachvollziehbar deutlich, dass wir momentan Gefahr laufen, in eine totalitäre Gesellschaft hineinzuschlittern. Er macht vor allem deutlich, was heute mit Bezug auf uns selbst und auf die Gegenwart mittlerweile oft verlorenes Wissen zu sein scheint: dass Menschen, die sich im Vorhinein jeder politischen Auseinandersetzung als privilegiert betrachten und mündige Bürger als Erziehungssubjekte behandeln, keine Demokraten sind.

Nun steht die Demokratie immer im Spannungsfeld zwischen Universalanspruch und Partikularinteressen: Jeder nennt sich Demokrat, aber hält seine eigene Meinung trotzdem für die einzig richtige. Diese fortwährende Schizophrenie der Demokratie hätte Andrick klarer benennen können. Dennoch macht er deutlich: Auch wenn wir den pluralistischen Diskurs als Voraussetzung für eine freie Gesellschaft immer in Ehren halten und pflegen müssen, dürfen wir doch den Anspruch, dass es eine einsichtige Wahrheit gibt, nicht fallen lassen; dürfen nicht dem Reiz des totalen, scheinbar toleranten Relativismus verfallen, im Sinne von: Jeder hat irgendwie recht.

Einige wenige Formulierungen und Textstellen werden manchem Leser vielleicht zu akademisch sein. Andererseits beinhaltet das Buch auch Texte von unterhaltsamer, beißender Ironie. Dazu gehört zum Beispiel der Text „Dir ist Schutz befohlen“, in dem ein virtueller Staat seinem Bürger gut begründet versichert, dass er zu seinem totalen Schutz und zur Rettung des Planeten die totale Herrschaft übernehmen müsse. Bei solchen Stellen möchte man lachen, wenn die vorgebrachte Argumentation nicht so erschreckend nah an derjenigen wäre, wie man sie von Staatsseite tatsächlich kennt.

Alles in allem ist es Andricks Verdienst, die Philosophie aus ihrem akademischen Elfenbeinturm herauszuholen und sie zu benutzen, wofür sie im besten Falle da ist: zur Einwirkung auf die Gesellschaft hin zu einer freien, geistvollen, kreativen und pluralistischen Gesellschaft.

Michael Andrick: Ich bin nicht dabei. Baden-Baden 2025, Verlag Karl Alber, 1. Auflage, Taschenbuch, 203 Seiten, ISBN 978-3495990889, 22,90 Euro.

Titelbild: Screenshot vom Buchcover


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