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Titel: Kanzler Merz zu NachDenkSeiten: „Wir haben hier einen fundamentalen Dissens zu Russland und Israel“

Datum: 21. Juli 2025 um 15:30 Uhr
Rubrik: Militäreinsätze/Kriege
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Am 18. Juli stellte sich Friedrich Merz erstmals in seiner Funktion als Kanzler in der Bundespressekonferenz den Fragen der Hauptstadt-Journalisten. Auch die NachDenkSeiten waren dabei. Die NachDenkSeiten fragten ihn unter anderem, wieso er vor dem Hintergrund massiver Kriegsverbrechen und immenser ziviler Opferzahlen in Gaza auf EU-Ebene jede Form der Sanktionsbemühungen gegen Israel aktiv ausbremst, ganz im Gegensatz zu seinem diesbezüglichen Vorgehen gegen Russland. Seine Antwort zeugt von einer völlig verzerrten Sicht auf die Realitäten und humanitären Folgen der israelischen Kriegsführung in Gaza. Der SPIEGEL wird diese Realitätsverweigerung des Kanzlers später als „Merz’ stärkster Moment“ bezeichnen. Von Florian Warweg.

Vorgeschichte und Hintergrund

Da ich bisher bei den entsprechenden „Sommerpressekonferenzen“ von Kanzlerin Angela Merkel und Kanzler Olaf Scholz in der Bundespressekonferenz trotz entsprechend angezeigter Frage nie drangekommen bin, war meine Erwartungshaltung, Friedrich Merz eine Frage stellen zu können, von vornherein überschaubar. Noch geringer wurde sie, als ich 45 Minuten vor Beginn der Pressekonferenz den Vorraum der BPK betrat und eine Schlange erblickte, die mich von der Länge her an die guten alten Zeiten erinnerte, wenn die Kaufhalle in Magdeburg Neustädter Feld wieder mal Südfrüchte im Angebot hatte. Nur dass diesmal statt Apfelsinen oder Bananen ein Mann aus dem Sauerland im Angebot war.

Als ich dann nach Schlangestehen und Security-Check (zu meiner Erleichterung wurde mein in der Fahrradtasche mitgeführtes Fahrradreparaturset, immerhin mit zwei größeren Schraubenschlüsseln ausgestattet, nicht moniert) endlich im bereits fast völlig besetzten BPK-Saal Platz nehmen konnte, sank meine Erwartung, mit einer Frage an den neuen Kanzler dranzukommen, gegen Null. Denn just in dem Moment tauchte in einem Elternchat der Klasse meines Sohnes die Nachricht auf, dass die Kinder bereits um 11:30 Uhr von der Schule abgeholt werden sollten. („Aufgrund der angespannten Personallage würden wir Sie bitten …“).

Eigentlich hatte ich eine Frage zur sozialen Lage in der Bundesrepublik, dem Defizit der gesetzlichen Krankenkassen und wie Merz sicherstellen will, dass die Umsetzung des 5-Prozent-Ziels bei Rüstungsausgaben nicht gegen das in der Verfassung mit Ewigkeitsgarantie verankerte Sozialstaatsprinzip verstößt, vorbereitet. Doch jetzt wusste ich, dass ich maximal eine halbe Stunde hatte, um eine Frage zu stellen. Eher unwahrscheinlich, dass ich innerhalb dieses Zeitfensters drankäme – außer ich würde eine Nachfrage zu einem bereits behandelten Thema stellen. Die ersten 20 Minuten der Fragerunde drehten sich ausschließlich um die Causa Frauke Brosius-Gersdorf. Ein Thema, bei dem ich eigentlich keinen großen Fragebedarf hatte – außer die Frage an die eigenen Kollegen, ob ausgerechnet dieses Thema bei den ganzen anderen Baustellen, die diese Republik und deren Regierung derzeit innen- wie außenpolitisch haben, jetzt einen Großteil der Sommerpressekonferenz des Kanzlers beherrschen sollte.

Danach brachte eine taz-Kollegin das Thema Umgang der Bundesregierung mit Israels Krieg in Gaza zur Sprache und ich wusste, entweder du klinkst dich bei diesem Thema ein oder das war’s. Denn spätestens 15 Minuten danach müsste ich mich schon auf das Fahrrad geschwungen haben, um Sohnemann von der Schule abzuholen. Da die fragliche Kollegin, seit sie vom ND zur taz gewechselt ist, auffallend zurückhaltender zur Lage in Gaza und der Rolle Israels nachfragt, hatte ich die Möglichkeit, hier tatsächlich noch sinnvoll stärker nachzuhaken.

Auszug aus dem Wortprotokoll der Pressekonferenz von Bundeskanzler Friedrich Merz in der Bundespressekonferenz:

BPK-Moderatorin Ute Welty
Herr Warweg.

Warweg
Warweg, Nachdenkseiten. Ich würde gerne noch mal die Frage der Kollegin aufgreifen. Da war ja der Hintergrund, wieso gibt es keine Sanktionierung im Falle Israels. Was man aus Brüssel hört, ist ja schon auch ein zunehmendes Unverständnis der zentralen EU-Partner Deutschlands, dass es immer wieder Deutschland ist, das Sanktionen verhindert, etwa auch Aufkündigung oder Eingrenzung des Assoziierungsabkommens und anderer Sanktionsmaßnahmen. Da würde mich interessieren, wieso dieses vehemente, teilweise sogar Hintertreiben von Sanktionsbemühungen auf EU-Ebene – auch im absoluten Kontrast in der Konsequenz, mit der Sie Russland mit Sanktionen belegen – und dann aber dieses absolute Verneinen von Sanktionierung als politisches Druckmittel (bei Israel). Können Sie das kurz darlegen?

Bundeskanzler Merz
Das kann ich. Wir hintertreiben da nichts, sondern wir sprechen da sehr ausführlich auch im Europäischen Rat über diese Frage. Ich kann Ihnen sagen, wir haben in Brüssel unmittelbar nach dem NATO-Gipfel im Europäischen Rat sehr lange darüber gesprochen – fast das ganze Abendessen – welche Möglichkeiten wir haben. Und Deutschland ist nicht der einzige Mitgliedstaat der Europäischen Union, der zurzeit eine Aussetzung oder gar eine Kündigung des Assoziierungsabkommens mit Israel ablehnt. Israel ist im Gegensatz zu Russland immer noch eine Demokratie. Israel ist im Gegensatz zu Russland ein Land, das angegriffen wurde. Und Israel setzt sich gegen diese Angriffe zur Wehr. Wenn sie das nicht getan hätten, gäbe es den Staat Israel heute nicht mehr. Und das unterscheidet Israel fundamental von dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine. So. Und deswegen ist die Bundesregierung nicht bereit und bin auch ich persönlich nicht bereit, beide Fälle sozusagen miteinander zu vergleichen oder gar gleich zu behandeln. Das sind fundamentale Unterschiede, die wir auch bei unserer Beurteilung der Lage natürlich berücksichtigen.

Welty
Zusatz.

Warweg
Ja, aber wenn man jetzt guckt, das Verhältnis getöteter Zivilisten zu Kombattanten, mittlerweile über 200 getötete Journalisten, dann ist ja zumindest auf der Ebene der getöteten Zivilisten und der zivilen Infrastruktur, ist das ja durchaus gleichzusetzen, wenn sich das Pendel nicht sogar eher zur anderen Seite neigt. Deswegen habe ich es mir noch nicht ganz erschlossen – wieso diese absolute Verneinung jeglicher Art von Sanktionen nur gegen Israel. Bei allen anderen Staaten sehen Sie es ja mit weniger Zurückhaltung.

Merz
Also ich glaube, ich muss das noch mal klarstellen. Wir haben hier offensichtlich einen fundamentalen Dissens in der Beurteilung der beiden Länder. Wenn Sie sagen, dass Russland und Israel hier mehr oder weniger gleichzusetzen sind, dann widerspreche ich dem ganz energisch. Das ist so. Und Russland führt hier einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg seit dreieinhalb Jahren gegen ein Land, von dem keinerlei Bedrohung ausging. Und Sie wollen nicht ernsthaft behaupten, dass Israel sich in einer vergleichbaren Situation befindet? Israel wird seit Jahren, wenn nicht seit Jahrzehnten bedroht und spätestens seit dem 7. Oktober 2023 wissen wir, dass diese Bedrohung bitterernst werden kann. So, und deswegen verbietet sich für mich eine Gleichsetzung dieser beiden Sachverhalte und deswegen kommen wir auch in der Beurteilung und in den Schlussfolgerungen zu vollkommen unterschiedlichen Ergebnissen.

–Ende des Protokolls–

Verbietet sich wirklich jeder Vergleich zwischen den Opferzahlen im Krieg in der Ukraine und dem Krieg in Gaza?

Wieso verwehrt sich Kanzler Merz so vehement dagegen, die Opferzahlen des Krieges in der Ukraine und in Gaza ins Verhältnis zu setzen? Vielleicht, weil ihm bei allem Nebelkerzenwerfen à la „Israel ist eine Demokratie, Russland nicht“ – bewusst ist, dass eine Aufschlüsselung der zivilen Toten und zerstörten zivilen Infrastruktur nicht zu Gunsten Israels militärischem Vorgehen ausfallen wird:

Vergleich der zivilen Opferzahlen in der Ukraine und Gaza auf Basis von UN-Daten

Die Vereinten Nationen geben für den Ergebungszeitraum vom 24. Februar 2022 bis zum 30. Juni 2025 folgende Zahlen für getötete und verletzte Zivilsten in der Ukraine an: 13.580 von Russland getötete Zivilisten, darunter 716 Kinder sowie insgesamt 34.115 Verletzte, davon 2.173 Kinder.

Für Gaza geben die Vereinten Nationen für den Zeitraum vom 7. Oktober 2023 bis 25. Juni 2025 folgende (namentlich verifizierte) Opferzahlen an: 56.156 getötete Zivilisten, davon 17.121 Kinder sowie 132.239 Verletzte.

Die israelische Armee tötete bei ihrem bisherigen Einsatz in Gaza 24-mal mehr Kinder als die russische Armee in der Ukraine

Laut den zitierten UN-Zahlen hat die israelische Armee folglich innerhalb von 20 Monaten mehr als viermal so viele Zivilisten in Gaza getötet wie die russische Armee auf dem Gebiet der Ukraine innerhalb von 40 Monaten. Doch am eklatantesten ist der Unterschied bei getöteten Kindern.

Den UN-Angaben zufolge fielen seit Beginn der russischen Invasion am 24. Februar 2022 bis zum 30. Juni diesen Jahres 716 ukrainische Kinder dem Krieg zum Opfer. Dies entspricht einer Todesrate von rund 18 Kindern pro Monat.

Die israelische Armee tötete in der Hälfte der Zeit mit 17.121, das 24-Fache (!) an Kindern.

Dies entspricht einer Todesrate von 856 palästinensischen Kindern pro Monat.

Ähnlich eklatant fällt der Vergleich aus, wenn man sich die zerstörte zivile Infrastruktur in beiden Kriegsgebieten anschaut:

In Gaza sind (Stichtag: 30. Juni 2025) laut UN-Angaben 92 Prozent aller Wohngebäude, 88 Prozent aller Schulen sowie 81 Prozent aller Straßen zerstört. 66 Prozent des gesamten Handels- und Industriesektors gelten ebenso als zerstört, 22 weitere Prozent als schwer beschädigt. Im Agrarsektor werden 83 Prozent des Ackerlandes, 82 Prozent der landwirtschaftlichen Wasserversorgung (Brunnen etc.) und 71 Prozent aller Gewächshäuser als zerstört oder beschädigt gelistet. Ebenso wurden 71 Prozent der gesamten Fischereiflotte in Gaza den UN zufolge von der israelischen Armee zerstört.

Im Vergleich, in der Ukraine gelten laut UN-Angaben 10 Prozent aller Wohngebäude als zerstört oder beschädigt. Bei anderen Bereichen wie Schulen, Straßen und Wasserversorgungsystemen belaufen sich die Zerstörungsraten bei unter 10 Prozent. Zur Zerstörung von Ackerland liegen keine Zahlen der UN oder anderer internationaler Institutionen vor.

Angesichts dieser Zahlen ist man fast geneigt, Kanzler Merz in seinem Urteil, „deswegen bin auch ich persönlich nicht bereit, beide Fälle sozusagen miteinander zu vergleichen oder gar gleich zu behandeln“, zuzustimmen – allerdings aus einer genau umgekehrten Perspektive heraus.

Denn man sollte eigentlich meinen, dass es schlecht vereinbar sei, bei einem seit 3,4 Jahren andauernden Krieg, auf Grund von 10 Prozent zerstörten Wohnhäusern und 13.580 getöteten Zivilisten im Brustton der Überzeugung vom „russischen Vernichtungskrieg gegen die Ukraine“ zu sprechen, aber gleichzeitig die in fast allen Bereichen um ein Vielfaches höheren zivilen Opferzahlen in Gaza als „legitime „Selbstverteidigung“ des Wertepartners Israel darzustellen, die es natürlich nicht zu sanktionieren gilt, da Israel ja eine Demokratie sei.

Eigentlich… Denn Kanzler Merz kann sich sicher sein, wenn er Russland bei 716 getöteten Kindern des Vernichtungskrieges schmäht und Israel bei 17.000 getöteten Kindern verteidigt, dann hat er zumindest das einstige Sturmgeschütz der Demokratie im Zweifel immer auf seiner Seite: „Merz’ stärkster Moment“.

Titelbild: Screenshot NachDenkSeiten, Bundespressekonferenz 18.07.2025


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