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Titel: Wie korrupt geht es bei uns zu? Viel mehr, als viele ahnen.

Datum: 16. Juli 2012 um 14:38 Uhr
Rubrik: Gesundheitspolitik, Lobbyismus und politische Korruption, Riester-Rürup-Täuschung, Privatrente
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Gemeinhin denken wir beim Stichwort Korruption an Griechenland oder an Italien. Und wir denken an den Bauunternehmer, der einen Kommunalenbeamten besticht, oder an große Unternehmen, die sich Aufträge in Entwicklungs- und Schwellenländern durch Bestechung der dortigen Eliten besorgen. Diese Verengung der Sichtweise hat etwas mit einer Verengung des Begriffs Korruption und mit einem immer noch erstaunlich freundlichen Blick auf die meisten Politiker zu tun. Wir tun gut daran zu fragen, welche politischen Entscheidungen mit weit reichenden wirtschaftlichen und finanziellen Folgen absichtlich zu Gunsten einzelner Interessen oder sogar einzelner Personen getroffen worden sind – beispielsweise die Privatisierung der Altersvorsorge, der Ausbau der Leiharbeit oder der Rückkauf des EnBW-Anteils durch Mappus. Dann begreifen wir, wie weit verbreitet und wie salonfähig die politische Korruption ist und dass wir wahrlich nicht allzu viele Gründe dafür haben, auf andere Völker herabzusehen. Albrecht Müller.

Ich nenne im folgenden einige dieser Beispiele – verbunden mit der Hoffnung, dass einige unserer Leserinnen und Leser noch einige Belege und vielleicht auch noch viel bessere Beispiele beisteuern können. (Der Text ist gegen Ende noch nicht vollständig. Das wird nachgeholt.)

Beispiele für politische Korruption:

  1. Teil-Privatisierung der Altersvorsorge und ihre Öffentliche Förderung

    Dafür gab es keinen sachlichen Grund, auch wenn in einer seit den neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts laufenden Propagandaschlacht zum demographischen Wandel dies immer wieder falsch behauptet worden ist. Es ging nur um die Eröffnung eines neuen Geschäftsfeldes für die Versicherungswirtschaft und die Banken. Das geschah durch Einführung und Förderung der Riester-Rente, der Rürup-Rente und der Förderung der betrieblichen Altersvorsorge mithilfe der Entgeltumwandlung.
    An dieser Aktion waren viele beteiligt: die Verbände der Finanzwirtschaft, das ist legitim. Die Politik und Wissenschaft und die Medien – das ist weniger legitim. Es wurden Kommissionen eingerichtet wie etwa die Rürup- Kommission, die die Teilprivatisierung vorbereiteten. Mitglieder dieser Kommission wie etwa Bert Rürup oder die Professoren Raffelhüschen und Börsch-Supan sind für die Versicherungswirtschaft tätig. Auch der Namensgeber für einen Teil der privaten Altersvorsorge, Walter Riester, hat nachher in vielfältiger Weise von der Privatisierung profitiert.

    Dieser politischen Korruption verdanken wir eine Verteuerung und Verschlechterung der Altersvorsorge. Die private Altersvorsorge kostet in Verwaltung, Vertrieb und Werbung mit ca. 15 % der Prämien sehr viel mehr als die gesetzliche Altersvorsorge, im Schnitt ungefähr das Zehnfache. Die von Steuerzahlern gezahlten Förderbeträge werden in der Regel für die zusätzlichen Kosten des Betriebs der privaten Altersvorsorge aufgewendet.
    Die Leistungsfähigkeit der gesetzlichen Rente wurde gleichzeitig systematisch zerstört. Das ist sozusagen die argumentative Basis für die Propaganda zu Gunsten der Privatvorsorge.

    In den NachDenkSeiten finden sie eine Fülle von Belegen für diese umfassende politische Korruption. „Meinungsmache“ enthält ein 40 seitenlanges Kapitel 19 mit dem Titel „Die Zerstörung des Vertrauens in die sichere Altersvorsorge – ein Musterbeispiel gelungener Gehirnprägung“.

  2. Pflege-Riester
    Es gab keinen vernünftigen Grund, zusätzlich zu der gesetzlichen Pflegeversicherung auch noch einen privaten Teil zu eröffnen. Siehe dazu auch hier und hier.
  3. Entscheidungen zu Gunsten der privaten Krankenkassen
  4. EnBW Privatisierung und Rückübernahme des Anteils des Landes Baden-Württemberg
    In den letzten Wochen ist einiges über das Zusammenspiel des ehemaligen MP Mappus (CDU) mit dem Chef der Investmentbank Morgan Stanley, Notheis (CDU) berichtet worden. Es ist bereichtet worden, dass BW vermutlich zu viel bezahlt hat. (Siehe auch hier). Aber es ist kaum notiert worden, dass der Vorgang des Verkaufs an die französische EDF wie auch der Rückkauf Zeichen des korrupten Einflusses der Finanzwirtschaft, insbesondere der Investmentbanken, auf politische Entscheidungen sind. Diese Banken und ihre Kollegen an den Börsen verdienen an allen Transaktionen, am Hin und Zurück, am Kauf und Verkauf von Vermögenswerten. Es lohnt sich, die Politiker „rumzukriegen“. Die Dotationen können auf vielfältige Weise laufen. Z.B.: Notheis beriet und arbeitete für Merkel im Wahlkampf 2005, wie die Spenden dann laufen, merken wir meist gar nicht.
  5. Privatisierung anderer öffentlichen Unternehmen
    Die Privatisierung ist ein hochlukratives Geschäft für die Banken und Finanzdienstleister, für Börsen und Broker. Sie verdienen an den Transaktionen und sie haben zudem die Chance, ein Schnäppchen zu kaufen und wiederzuverkaufen.
  6. Privatisierung von Kliniken
    Das ist ein aktueller Teilaspekt der Privatisierung öffentlicher Einrichtungen. Die Käufer rationalisieren zu Lasten der Beschäftigten und der Kranken – Ziel: Renditen von 15 oder gar 17%.
    Von einem dieser Fälle habe ich hier berichtet, und auch darüber, wie das den Druck auf Privatisierung in anderen Ländern erklärt:
  7. Druck auf Privatisierung in anderen Ländern, insbesondere Osteuropa und Südosteuropa
    Unter Ziffer 6 war schon von Roland Bergers Rolle berichtet worden. Die Spitze eines vermutlich sehr großen Eisbergs. Nur ein Hinweis: In den Nachfolgeländern Jugoslawiens sind Zeitungen, staatliche Telefongesellschaften, Banken, Energieunternehmen, etc, privatisiert worden. Die WAZ hat sich Zeitungen gegriffen, die Deutsche Telekom Anteile an den privatisierten Telefongesellschaften. Daran verdient haben nicht nur balkanische Parteien und Politiker, auch Deutsche wie z.B. ein ehemaliger Bundesaußenminister als Berater der Deutschen Telekom. Ein weites Feld, ein Sumpf.
  8. Meldegesetz
    Verabschiedung im Kleinen MdB-Kreis – ein Zufall?
  9. Drehtüreffekte, d.h. Entscheidungen während der Amtszeit, de facto Entgelt unmittelbar darnach oder auch lange Zeit später:
    • Helmut Kohl und sein Telekom-Minister treffen 1982 die Entscheidung zur Kommerzialisierung des Fernsehens und buttern Milliarden in die Verkabelung. Rund 15 Jahre später wird ruchbar, dass einer der beiden Hauptprofiteure, Leo Kirch, Beratungsverträge mit Kohl, Schwarz-Schilling, Waigel, Bötsch, Scholz und Möllemann abgeschlossen hat – mit 4 mal sechsstelligen DM-Beträgen. Dazu der MP Beck:

      „Niemand zahlt 800.000 oder 300.000 DM, dazwischen lagen ja wohl die Verträge, für nichts. Das kann ich mir nicht vorstellen. Da muss es also Interessen gegeben haben, die verflochten worden sind.“

      Kurt Beck bei Panorama vom 15.5.2003

    • Wolfgang Clement
      erleichtert als Minister für Arbeit und Wirtschaft Leiharbeit und Minijobs. Heute ist er für einen der großen Leiharbeitsanbieter tätig.
    • In Gerhard Schröders Regierungszeit
      wird das Gasprom-Ostsee-Leitungsgeschäft „eingetütet“. Er arbeitete dann für dieses Projekt.
    • Otmar Issing
      war bei Bundesbank und EZB in führenden Positionen und nutzt heute dieses als Berater von Goldman Sachs
    • und viele mehr
  10. (Ab hier bis Ziffer 18 noch nicht ausgearbeitet. Folgt.)

  11. Deregulierung zu Gunsten der Finanzwirtschaft
  12. Bankenrettung weil angeblich systemrelevant
    • Rettung der IKB mit mindestens 10 Mrd.
    • Rettung der HRE mit vermutlich schon weit über 100 Mrd.
    • Rettung der Commerzbank
  13. Auflösung der „Deutschland-AG“, incl. Steuerbefreiung der Gewinne beim Verkauf von Unternehmen und Unternehmensteilen
  14. Massive Senkung weiterer Unternehmenssteuern und von Steuern der finanziell Bessergestellten
  15. Gleichzeitig Erhöhung der Mehrwertsteuer
  16. Regional- und Strukturfonds der EU
  17. Treuhand
  18. Tacis und Phare
  19. Beschluss zum Ende herkömmlicher Elektrobirnen

Nachtrag zum engen Verständnis von Korruption und zur einschlägig tätigen Organisation Transparency International Deutschland e.V

Das enge Verständnis von Korruption wird beispielsweise von der Organisation Transparency International und ihrem deutschen Ableger gepflegt. Diese Organisation hat wahrscheinlich ihre Verdienste, aber der Blick auf die politische Korruption, d.h. die vielfältige Bestechung zu Gunsten gesellschaftspolitisch massiv wirkender Entscheidungen scheint dort irgendwie verstellt zu sein. Die „Aktuellen Nachrichten“ dieser Organisation und auch die Pressemitteilungen enthalten keinen Hinweis auf die vielen Beispiele tatsächlicher Korruption mit gravierenden Folgen. Interessant ist in diesem Zusammenhang ein Text zum Grundverständnis der Organisation:

Über Transparency Deutschland

Transparency International Deutschland e.V. (kurz: “Transparency Deutschland”) arbeitet gemeinnützig und ist politisch unabhängig. Transparency Deutschlands Grundprinzipien sind Integrität, Verantwortlichkeit, Transparenz und Partizipation der Zivilgesellschaft.

Transparency Deutschland definiert Korruption als Missbrauch von anvertrauter Macht zum privaten Nutzen oder Vorteil. Eine effektive und nachhaltige Bekämpfung und Eindämmung der Korruption ist nur möglich, wenn Staat, Wirtschaft und Zivilgesellschaft zusammenarbeiten und Koalitionen bilden. Ziel ist es, das öffentliche Bewusstsein über die schädlichen Folgen der Korruption zu schärfen und nationale und internationale Integritätssysteme zu stärken.

Bis zum ersten Satz des zweiten Absatzes ist das nachvollziehbar und würde auch die Untersuchung der gravierenden politischen Korruption erlauben und notwendig machen. Aber der weitere Teil des Abs. 2 verstellt diese Möglichkeiten wohl. Wie sollte man mit „Staat und Wirtschaft zusammenarbeiten“ können, wenn man zum Beispiel vermeiden will, dass der Staat 10 Milliarden in ein von der Wirtschaft dominiertes Bankinstitut wie die IKB steckt?


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