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Titel: Zum Völkermord gezwungen?

Datum: 15. September 2025 um 9:01 Uhr
Rubrik: Außen- und Sicherheitspolitik, Militäreinsätze/Kriege, Strategien der Meinungsmache
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Der Vernichtungskrieg gegen die Hamas und Gaza sei alternativlos und aus Notwehr erfolgt, behauptet Israels Ministerpräsident Netanjahu. Was aber, wenn sich der Terroranschlag vom 7. Oktober 2023 hätte verhindern lassen? Vieles spricht dafür, dass seine rechtsgerichtete Regierung die Dinge hat geschehen lassen. Müsste die Geschichte dann nicht umgeschrieben werden, fragt sich Ralf Wurzbacher.

Seit bald zwei Jahren führt Israel einen erbarmungslosen Krieg gegen die Hamas, Gaza und die palästinensische Bevölkerung. Schätzungsweise 60.000 Menschen kamen dabei bis dato zu Tode, viele mehr wurden verwundet, verkrüppelt, traumatisiert, und ein Ende des Gemetzels ist nicht in Sicht. Die israelische Regierung stellt den Feldzug als alternativlos dar. Sie handele aus Notwehr, heißt es. Der Überfall vom 7. Oktober 2023, als islamistische Kämpfer auf israelisches Gebiet vordrangen, ein Massaker unter Zivilisten anrichteten und rund 240 Geiseln in den Gazastreifen verschleppten, hätte die politische Führung in Jerusalem zu einer umfassenden Antwort mit äußerster Härte und dem Ziel gezwungen, die terroristische Hamas bis auf den letzten Mann auszulöschen. Das ist die offizielle Darstellung.

Aber es bestehen Zweifel daran, die, falls sie zutreffen, einen anderen Gang der Ereignisse möglich gemacht hätten – ohne einen so gewaltigen Blutzoll, mit deutlich weniger geschundenen Leibern und Seelen. Es gibt eine Reihe an Hinweisen, dass die Regierung von Benjamin Netanjahu im Vorfeld von den Angriffsplänen der Hamas wusste, jedoch nicht die nötigen Vorkehrungen traf, sie zu durchkreuzen. Laut ausgesprochen hatte dies als einer der Ersten der US-amerikanische Journalist Max Blumenthal. Nach seiner Überzeugung hat Israel die Attacke zugelassen, um einen Vorwand zu haben, selbst loszuschlagen. Blumenthal stützt sich auf Rechercheergebnisse, die in seinem Dokumentarfilm „How Israel sells its destruction of Gaza“ („Wie Israel seine Zerstörung des Gazastreifens verkauft“) zusammengestellt hat. Die darin vorgebrachte Anklage lautet: Netanjahu und seine rechtsextremen Minister hätten von Beginn an das Ziel verfolgt, die Öffentlichkeit zu gewinnen für einen umfassenden Krieg und für weitere Besitznahmen im Westjordanland.

Training auf dem Präsentierteller

Angesichts der Brisanz der Anschuldigungen erscheint es wie selbstverständlich, dass Blumenthal, obwohl selbst jüdischer Abstammung, sowie seinem Kanal The Grayzone das Stigma anhaftet, Antisemitismus und Verschwörungstheorien zu verbreiten. Aber so einfach ist die Sache nicht. Tatsächlich hätten sich in diesem Fall viele sogenannte Leitmedien auf gleiche Weise schuldig gemacht. Zum Beispiel ging schon Ende 2023 auch durch die deutsche Presse, dass es in den Wochen und Tagen vor dem Überfall allerhand „Warnungen“ seitens Angehöriger der israelischen Armee (IDF) gab, wonach jenseits der Grenze verdächtige Bewegungen vonstatten gingen. Bereits drei Monate vor dem Großangriff hätten Mitglieder eines von Frauen geführten und direkt an der Grenze stationierten Aufklärungstrupps von kämpferischen Aktivitäten berichtet. Später machten sie auch auf Übungen und Drohnenmanöver aufmerksam. Selbst Angriffe auf gepanzerte Fahrzeuge, mithilfe einer genauen Nachahmung des israelischen Kampfpanzers Merkava 4, seien trainiert worden. Außerdem hätten Hamas-Kämpfer Sprengsätze in Löchern entlang der Grenze platziert.

Die Soldatinnen gaben die Informationen an die Armeeführung weiter, doch die interessierte sich offenbar nicht dafür. „Es macht wütend! Wir sahen, was passierte, wir haben ihnen davon berichtet und wir waren diejenigen, die ermordet wurden“, äußerte sich eine der Frauen, Maya Desiatnik, im Interview mit dem israelischen TV-Sender KAN. Bei dem Überfall wurden 15 Angehörige des Spähtrupps getötet, sieben weitere fielen als Geiseln in die Hände der Hamas. Über die Vorgänge berichteten seinerzeit auch der Spiegel, die Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ), Die Zeit, die Süddeutsche Zeitung (SZ) und viele andere namhafte Organe. Die Artikel sind fast ausnahmslos hinter der Bezahlschranke verschanzt, eine gängige Masche im Umgang mit Neuigkeiten, die nicht für die breite Masse bestimmt sind.

Elefant im Raum

Dazu kommt: Die Schreiber erschöpfen sich in der Wiedergabe von offenkundig Skandalträchtigem, wollen aber keinen Skandal daraus machen, indem sie den „Elefanten im Raum“ links liegen lassen. Wie kann es sein, dass derart hochgerüstete Streitkräfte wie die israelischen über eine augenfällig extrem ernste Gefahrenlage einfach hinwegsehen konnten? Wieso waren am 7. Oktober Meldungen zufolge nur zwölf Panzer und 600 Soldatinnen und Soldaten zur Verteidigung einer 65 Kilometer langen Grenze abkommandiert? Die britische BBC enthüllte vor einem Jahr durch Befragung von Soldaten: Es gab vielfältige verdächtige Aktivitäten in den Wochen vor dem Angriff, die wenige Tage davor plötzlich eingestellt wurden. Viele Grenzsoldaten waren unbewaffnet, und die offiziellen Richtlinien sahen vor, dass sie sich bei einem Angriff zurückziehen sollten, anstatt vorzurücken.

In deutschen Redaktionen gab man sich für all das mit hanebüchenen Erklärungen der Verantwortlichen zufrieden. So wurde etwa die Geschichte von frauenfeindlichen Tendenzen in der Armee hochgekocht, mit welcher man den Späherinnen andichtete, keine Ahnung von Aufklärungsarbeit zu haben. Wer soll so etwas glauben? Wegen der vielen Ungereimtheiten drückten nachher Israels Militär- und Geheimdienstchefs die Büßerbank. So trat Tage nach der Attacke Generalstabschef Herzi Halevi vor die Kameras und beschied: „Die IDF ist für die Sicherheit des Landes und seiner Bürger verantwortlich, und am Samstagmorgen haben wir uns in der Gegend um den Gazastreifen nicht darum gekümmert.“ Vom Chef des Militärgeheimdienstes, Aharon Haliva, ist der Satz aus einem Offenen Brief an die Bevölkerung Israels überliefert: „Wir haben bei unserer wichtigsten Aufgabe versagt.“

Versagen nach Plan?

Der 7. Oktober wird gemeinhin als das 9/11 Israels bezeichnet, in Erinnerung an die Terrorattacken gegen die USA vom 11. September 2001, als in New York die WTC-Zwillingstürme vermeintlich durch den Einschlag zweier Airliner zu Boden gingen. Auch an diesem Tag sollen sämtliche zivilen und militärischen Abwehrsysteme „versagt“ haben, und auch damals gab es im Vorfeld vielfältige Warnungen durch ausländische Dienste ob eines bevorstehenden Terrorangriffs. Ein Jahr darauf räumte der Vorsitzende des Geheimdienstausschusses des Senats, Bob Graham, ein: „Wir wissen jetzt, dass unsere Unfähigkeit, die Anschläge vom 11. September vorherzusagen und zu verhindern, ein Geheimdienstversagen von beispiellosem Ausmaß war.“

Dumm gelaufen eben. Wie 22 Jahre später in Israel. Drei Tage vor dem Überfall übermittelte der ägyptische Geheimdienst GIS Israel eine dringliche Warnung, wonach aus dem Gazastreifen eine große Gefahr drohe. Bestätigt wurde dies durch Michael McCaul, den Vorsitzenden des Ausschusses für Auswärtige Angelegenheiten im US-Repräsentantenhaus. Die Nachrichtenagentur AP stützte die Darstellung unter Berufung auf eine ägyptische Geheimdienstquelle. Was machte der IDF daraus? Laut einem israelischen Fernsehbericht sollen hohe Militärs aufgrund diverser Warnungen nur wenige Stunden vor der Attacke eine telefonische Beratung abgehalten haben. Die beteiligten Generäle, darunter Yaron Finkelman, damals Chef des IDF-Südkommandos, und besagter Haliva, hätten allerdings beschlossen, bis zum Morgen abzuwarten, um dann erst zu reagieren. Der Schlag gegen Gemeinden im Süden des Landes erfolgte allerdings gegen 6.00 Uhr in der Früh. Das hatte der IDF wohl verschlafen.

Großangriff verschlafen

Dabei ist an diesem Tag einiges mehr „schiefgelaufen“. Aufgelistet findet sich das in einem Beitrag des Schweizer Portals Infosperber vom 4. Oktober. So schilderte vor knapp zwei Monaten der IDF-Soldat Shalom Sheetrit vor einem Ausschuss des israelischen Parlaments (Knesset) die Ereignisse wie folgt: Um 5.20 Uhr hätten er und seine Kameraden am Außenposten des Kibbuz Be’eri den Befehl erhalten, bis um 9.00 Uhr keine Patrouillen an die Grenze zu schicken. Derlei Order sei davor und danach niemals ausgegeben worden und habe jeder Logik und jedem Protokoll widersprochen, befand Sheetrit. Später kamen in der Gegend über hundert Israelis in einem der blutigsten Gefechte des Tages ums Leben. Nachträglich hieß es zur Begründung des Befehls, es habe Scharfschützengefahr bestanden.

Mit den vielen Toten hat sich einmal mehr der Journalist Blumenthal befasst. Er vertritt die Sicht, dass nicht wenige der Gefallenen, darunter auch Zivilisten, nicht Opfer der Hamas, sondern des Beschusses durch den IDF wurden. Belegen will er das mit Aufnahmen des Zielradars eines Apache-Helikopters, die zeigen, wie dieser fliehende Menschen und Autos unter Feuer nimmt. Er zitiert einen Piloten, der seine Ziele so ausgewählt habe, „dass die Chance, auch Geiseln zu treffen, möglichst gering ist“. Völlig sicher habe er sich aber nicht sein können. Auch könnten die erheblichen Schäden an Fahrzeugen durch Einschläge von schwerem Geschütz nicht auf das Konto der „leicht bewaffneten Hamas-Kämpfer“ gegangen sein, glaubt Blumenthal.

Hannibal-Direktive

Für ihn erklärt sich das Vorgehen des IDF mit dem sogenannten Hannibal-Protokoll, einer Anordnung, die das Militär dazu verpflichtet, die Geiselnahme von Israelis um jeden Preis zu vereiteln, auch um den, vom Gegner festgesetzte Soldaten zu opfern, sprich zu töten. Jens Berger hatte die Thematik im Juli 2024 im Beitrag „Israel und die Hannibal-Direktive“ aufgegriffen und unter Verweis auf einen Bericht der israelischen Zeitung Haaretz geschrieben, dass am 7. Oktober in mindestens drei konkreten Fällen das Hannibal-Protokoll befehligt wurde. Sollte dem so gewesen sein, hätte das eine neue Qualität, weil dann neben Armeeangehörigen mithin auch israelische Zivilisten gezielt exekutiert worden wären.

Der Infosperber-Beitrag liefert weiteren Stoff, der das Narrativ vom Überraschungscoup der Hamas zum Wackeln bringt. Demnach existierte schon über ein Jahr vor dem Überfall ein Bericht mit dem Codenamen „Jericho Wall Report“, angefertigt durch die Geheimdiensteinheit „Unit 8200“. Das rund 40-seitige Dokument, über dessen Inhalte am 30. November 2023 die New York Times (NYT) informierte, beschreibt Punkt für Punkt Tatabläufe, die sich nahezu identisch am 7. Oktober bewahrheiten sollten – im Einzelnen: Befestigungsanlagen um den Gazastreifen überwältigen, israelische Orte erobern, wichtige Militärstützpunkte stürmen, darunter ein Divisionshauptquartier, Ausschalten von Sicherheitskameras, Einsatz von Drohen, automatisierten Maschinengewehren, Gleitschirmen und Motorrädern. Zitat der NYT: „Die Hamas folgte dem Plan mit erschreckender Präzision.“ Drei Monate vor dem Angriff wandte sich ein Mitglied der Einheit mit den Erkenntnissen an die Geheimdienstführung mit der Ansage: „Das ist ein Plan, um einen Krieg zu starten.“ Aber die Vorgesetzten winkten ab mit der „Einschätzung“, zu einem Schlag dieser Größenordnung sei die Hamas gar nicht fähig.

Nützliche Terroristen

Auch hier zeigen sich Parallelen zum 11. September. Nicht nur waren seinerzeit ebenfalls Warnungen in den Wind geschlagen worden. Am Tag der Geschehnisse fanden überdies im amerikanischen Luftraum Übungen statt, die exakt jenes Szenario einer groß angelegten Terrorattacke „simulierten“ (kommerzielle Flieger als Waffen), die dann zeitgleich zur Realität wurde. Solche Zufälle sind verstörend, aber durchaus keine Einzelfälle im Umfeld größerer, weltbewegender Katastrophen. Man stelle sich vor, die US-Militärs und -Geheimdienste hätten nicht auf ganzer Linie „gepatzt“ und 9/11 verhindert. Wäre dann der „Krieg gegen den Terror“ mit den Invasionen in Afghanistan und im Irak, später den Verwüstungen Libyens und Syriens zu rechtfertigen gewesen?

Dazu passt, was die New York Times noch ans Licht brachte: Der Ölstaat Katar hat die Hamas im Laufe der Jahre im Volumen von insgesamt einer Milliarde Dollar gefördert. Netanjahu soll diese Zahlungen nicht nur toleriert, sondern logistisch unterstützt haben. Laut der US-Zeitung dienten die Transfers dazu, die Kontrolle der Hamas über den Gazastreifen zu stabilisieren und die gemäßigte Fatah zu schwächen. Der Verweis auf die Radikalität der Hamas lieferte Israels Staatschef die Vorlage, internationale Forderungen nach einer Zweistaatenlösung abzuwehren. Denn mit „Terroristen“ könne nicht verhandelt werden.

Lügner und Verschwörer

Lügen gehören zum festen „Instrumentarium“ großer Umwälzungen. Man denke daran, wie der frühere US-Außenminister Colin Powell dem Irak den Besitz von Massenvernichtungswaffen andichtete; oder an die Kampagne, wonach irakische Soldaten am „Vorabend“ des Zweiten Golfkriegs (1990) Säuglinge aus Brutkästen in einem kuwaitischen Krankenhaus gezerrt haben sollen, um sie auf dem kalten Boden elendig verenden zu lassen. Ähnliches wurde von den Hamas-Kämpfern behauptet, die Babys enthauptet und schwangere Frauen aufgeschlitzt haben sollen. Beweise dazu liegen bis heute nicht vor, so wenig wie solche zu angeblich massenhaft verübten Vergewaltigungen, was im Januar eine israelische Staatsanwältin klarstellte.

Das macht die schrecklichen Taten der Hamas vom 7. Oktober nicht besser. Ohne Frage haben aber entsprechende Gräuelgeschichten im Verbund mit anderen Verfälschungen und Verzerrungen dazu beigetragen, dass sich die israelische Gesellschaft ziemlich bereitwillig für einen Feldzug hat einspannen lassen, der nach Lage der Dinge von langer Hand geplant war – und für dessen Verwirklichung es bloß eines passenden Anlasses bedurfte. Skeptisch sollte bei all dem auch das machen: Weshalb entschied sich die Hamas zu einem Kriegsakt, der ziemlich absehbar ihre eigene und die Vernichtung Gazas zur Folge haben musste? Schluss mit Verschwörungstheorien!

Titelbild: tayifmukta / Shutterstock.com


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