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Titel: Neuer Premier in Frankreich, Demokratiedefizite und die fragwürdige Rolle des BPK-Moderators
Datum: 15. September 2025 um 13:15 Uhr
Rubrik: Erosion der Demokratie, Länderberichte, Wahlen
Verantwortlich: Florian Warweg
Vize-Regierungssprecher Sebastian Hille nutzte die BPK, um dem neu eingesetzten französischen Premierminister Sébastien Lecornu zu gratulieren. Die NachDenkSeiten wollten vor diesem Hintergrund wissen, wie die Bundesregierung es bewertet, dass jetzt zum dritten Mal in Folge Präsident Emmanuel Macron entgegen allen etablierten demokratischen Regeln den Posten des Premierministers nicht dem Wahlgewinner der letzten Parlamentswahl, dem linken Bündnis NFP (Nouveau Front Populaire), einräumt, sondern Vertretern politischer Kleinparteien aus seinem Umfeld. Während der Regierungssprecher sich in Ausflüchte und Phrasen rettete – agierte der BPK-Moderator höchst tendenziös und verweigerte den NachDenkSeiten die eigentlich allen Fragestellern zustehende Nachfrage. Von Florian Warweg.
Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.
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Hintergrund
Am Abend des 9. Juni 2024, dem Tag der Europawahl 2024, löste Staatspräsident Emmanuel Macron die Nationalversammlung auf und kündigte Neuwahlen an. Die erste Runde datierte er auf den 30. Juni und die zweite auf den 7. Juli 2024. Aufgrund der Kurzfristigkeit musste die Aufstellung der Kandidaturen in den Wahlkreisen innerhalb weniger Tage geschehen und die Parteien waren dadurch gezwungen, sich schnell auf Wahlbündnisse zu einigen. Ein Aspekt, den Macron explizit in seine Entscheidung zur Neuwahl hat einfließen lassen, weil er und sein Beraterkreis überzeugt waren, dadurch die politische Konkurrenz rechts wie links zu übertölpeln.
Doch es sollte anders kommen. Am 13. Juni 2024 gaben, für viele Beobachter überraschend, die Sozialistische Partei (PS), La France Insoumise (LFI), Les Écologistes (entspricht in Deutschland den Grünen) und die französische Kommunistische Partei (PCF) bekannt, dass sie sich gemeinsam auf die Gründung eines Wahlbündnisses unter dem Namen „Nouveau Front populaire (NFP)“ (zu Deutsch: „Neue Volksfront“) geeinigt hatten. Der Name war eine bewusste Referenz an die linksgerichtete Front-populaire-Regierung in den 1930er-Jahren.
Wider aller Erwartungen gewann das NFP die Parlamentswahlen und sicherte sich mit 26,68 Prozent und 178 Sitzen die relative Mehrheit in der französischen Nationalversammlung. Bis zur Amtszeit von Macron galt es als etablierte demokratische Regel im politischen System Frankreichs, dass die Partei oder das Wahlbündnis den Premierminister der Fünften Republik stellt, welche(s) als Gewinner aus den Parlamentswahlen hervorgegangen ist. Die Parlamentswahlen 2024 gewann wie dargelegt das Linksbündnis NFP, gefolgt von Macrons Parteienbündnis „Ensemble pour la République“ und dem „Rassemblement National“ (RN) von Marine Le Pen.
Wie Macron permanent den Wählerwillen ignoriert … und die Folgen für Frankreich …
Das NFP schlug in seiner Funktion als Wahlgewinner die parteilose Spitzenbeamtin Lucie Castets als Premierministerin vor. Doch mit allen republikanischen und demokratischen Traditionen brechend verweigerte Macron die Zustimmung zu dem Kandidatenvorschlag des Wahlgewinners und ernannte am 5. September 2024, geschlagene drei Monate nach der Wahl, den Industriellensohn und Politiker der Partei „Les Républicains“, Michel Jean Barnier, zum Premierminister. Les Républicains hatten bei der Parlamentswahl 7,41 Prozent der Stimmen und damit lediglich 37 Sitze im Parlament errungen.
Doch diese Ernennung gegen den Wählerwillen erkaufte Macron mit permanenter politischer Instabilität angesichts fehlender parlamentarischer Unterstützung für den Premier. Nur drei Monate nach der Ernennung wurde Barnier durch ein Misstrauensvotum gestürzt. Bei der Abstimmung in der Nationalversammlung am 4. Dezember 2024 stimmten 331 Abgeordnete von 574 dafür, Barnier und seiner Regierung das Misstrauen auszusprechen. Barnier war damit der erste französische Premierminister seit 1962, der durch ein Misstrauensvotum gestürzt wurde.
Daraufhin ernannte Macron am 13. Dezember 2024 François Bayrou, den Vorsitzenden der Kleinpartei MoDem (Mouvement démocrate – Demokratische Bewegung), zum neuen Premierminister. MoDem hatte bei der Parlamentswahl 2024 lediglich 5,7 Prozent erreicht. Wie Barnier verfügte auch Bayrou folglich über keine stabile Parlamentsmehrheit und musste permanent mit einer Minderheitsregierung regieren – mit den absehbaren Folgen.
Vor dem Hintergrund, dass es Bayrou nicht gelang, im Parlament eine Mehrheit für seine Haushaltskonsolidierung zu erlangen, stellte er am 8. September 2025 die Vertrauensfrage und verknüpfte diese mit der Zustimmung zu seinem umstrittenen Haushaltsentwurf. Bayrou verlor die Abstimmung mit 364 Gegenstimmen, nur 194 Abgeordnete stimmten für ihn. Daraufhin trat er zurück und Macron ernannte Verteidigungsminister Sébastien Lecornu zum nun dritten Premierminister innerhalb von 12 Monaten. Lecornu ist wie zuvor Michel Jean Barnier Mitglied der „Républicains“, wir erinnern uns an die 5,7 Prozent bei den Parlamentswahlen, und verfügt folglich ebenso wie seine Vorgänger über keinerlei politische Mehrheit in der Nationalversammlung.
Wieso Macron, obwohl er schon zweimal krachend mit seinen Premierministern ohne parlamentarische Mehrheit gescheitert ist, weiter auf die Taktik setzt, den Wählerwillen und demokratisch seit Jahrzehnten etablierte Regeln zu ignorieren, und Regierungschefs ernennt, die maximal sieben Prozent der Wählerstimmen repräsentieren, wird wohl das ewige Geheimnis des ehemaligen Rothschild-Investmentbankers bleiben.
Das fragwürdige Agieren des BPK-Moderators
Die Frage, wie die Bundesregierung das Ernennungsgebaren von Macron angesichts der dadurch provozierten politischen Instabilität und dem skizzierten Bruch mit etablierten demokratisch-republikanischen Regeln bewertet, ist journalistisch durchaus legitim. Die Benennung dieser Faktenlage als „Unterstellungen“ zu bezeichnen, wie es Vizeregierungssprecher Hille tat, ist am Rande der Unverschämtheit. Weitaus skandalöser ist aber das Agieren des BPK-Moderators und RND-Korrespondenten Tim Szent-Ivanyi. Statt den Vize-Regierungssprecher zur Räson zu rufen angesichts dessen haltloser Unterstellungen gegenüber einem Journalisten-Kollegen, verweigerte er den NachDenkSeiten die zustehende Nachfrage und stellte sich damit auch schützend vor den Regierungsvertreter. Dabei lautet die etablierte BPK-Regel: Jeder fragende Journalist hat das Recht auf eine Frage und eine Nachfrage. Und eigentlich obliegt es auch nicht den BPK-Moderatoren, aus deren subjektiver Sicht die Qualität einer Nachfrage zu beurteilen und dann nach Gutdünken diese Frage zuzugestehen oder zu verweigern.
Auszug aus dem Wortprotokoll der Regierungspressekonferenz vom 10. September 2025
Vizeregierungssprecher Hille
Ich würde mit Ihnen als Erstes einmal einen kurzen Blick nach Frankreich werfen. Dort gibt es seit gestern, wie Sie alle wissen, einen neuen Premierminister. Ich gratuliere für die Bundesregierung und den Bundeskanzler von dieser Stelle aus sehr herzlich Sébastien Lecornu zu seiner Ernennung zum französischen Premierminister. Wir wünschen ihm viel Erfolg für seine Amtsführung.
Eine starke deutsch-französische Partnerschaft und ein starkes geeintes Europa sind unsere beste Antwort auf die aktuellen politischen Herausforderungen. Der Bundeskanzler hat auch selbst zuletzt im Rahmen des deutsch-französischen Ministerrats am 29. August in Toulon die Gelegenheit gehabt, sich mit Sébastien Lecornu, dem bisherigen Verteidigungsminister, auszutauschen. Die gute und enge Zusammenarbeit mit Sébastien Lecornu werden wir mit ihm auch in seinem neuen Amt als französischem Regierungschef fortsetzen.
Frage Warweg
Mir ging es darum, wie die Bundesregierung es denn einschätzt, dass Macron jetzt erneut und auch im dritten Anlauf einen Premierminister designiert, der für eine Partei steht, die, glaube ich Les Républicains stehen bei sieben Prozent, und der eigentliche Wahlgewinner, das linke Bündnis Nouveau Front populaire, wird nach wie vor ignoriert. Da würde mich interessieren, wie die Bundesregierung es denn auch demokratietheoretisch bewertet, dass das eigentlich etablierte System, dass der Wahlgewinner den Premierminister stellt, zum dritten Mal von Macron ignoriert wird, und zwar mit den entsprechenden Folgen für die Stabilität des engen Partners.
Hille
Als Erstes, Herr Warweg, muss ich deutlich machen, dass ich mir keine Ihrer Deutungen oder Unterstellungen zu eigen mache.
Uns ist wichtig, und das unterstreiche ich noch einmal: Das deutsch-französische Verhältnis ist so gut wie lange nicht. Es gab in den vergangenen Wochen mehrere Kontakte. Der Bundeskanzler hat mehrfach den französischen Staatspräsidenten getroffen. Es hat ein deutsch-französischer Ministerrat stattgefunden. Es hat in der vergangenen Woche ein deutsch-französisches Unternehmertreffen gegeben. Das zeigt, von was für einer großen Bedeutung für uns, für die Bundesregierung und für Deutschland, das Verhältnis zu unserem engen Partner und Freund Frankreich ist.
Wir freuen uns, dass es jetzt in Frankreich gelungen ist, sehr schnell einen neuen Premierminister zu berufen. Dem habe ich gerade gratuliert, dem wünschen wir viel Erfolg. Wir werden die erfolgreiche, enge Zusammenarbeit auch mit dem neuen Premierminister fortsetzen, und darauf freuen wir uns.
Zusatzfrage Warweg
Können Sie ausführen, welche Prämissen Sie nicht teilen? Ich habe lediglich gesagt, dass Nouveau Front Populaire der Wahlgewinner ist, und jetzt, seit dem
Vorsitzender Szent-Iványi
Ich würde mich jetzt ungern auf diese Debatte einlassen, Herr Warweg, weil wir wirklich viele andere Themen vor uns haben. Insofern würde ich gerne jetzt weitergehen und nicht in so einen Dialog eintreten.
Titelbild: Screenshot NachDenkSeiten, Bundespressekonferenz 10.09.2025
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