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Titel: „Russische Luftraumverletzung“ im Finnischen Meerbusen und ungeklärte völkerrechtliche Fragen

Datum: 25. September 2025 um 12:07 Uhr
Rubrik: Außen- und Sicherheitspolitik, Militäreinsätze/Kriege
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Ein Großteil der deutschen Medien und Politik übernahm ungeprüft im Indikativ die Darstellung der estnischen Regierung, laut der am 19. September drei russische Kampfjets vom Typ MiG-31 in deren Luftraum eingedrungen seien. Doch die russische Seite aber auch internationale Veröffentlichungen verwiesen darauf, dass Estland eine seit vielen Jahren praktizierte und völkerrechtlich anerkannte Sonderregelung für den Finnischen Meerbusen ignoriert und Anspruch auf einen 12-Meilen Zone erhebt, obwohl geografisch bedingt teilweise nur eine 3-Meilen-Zone gilt und die russischen Jets daher im internationalen Luftraum unterwegs waren. Die NachDenkSeiten baten die Bundesregierung angesichts der Relevanz des Themas, um Aufklärung der völkerrechtlichen Hoheitslage im fraglichen Gebiet des Finnischen Meerbusens. Von Florian Warweg.

Hintergrund:

Während beispielsweise die „Tagesschau” völlig distanzlos am 19. September im Indikativ titelte „Eilmeldung: Russische Kampfjets im estnischen Luftraum“ und der außenpolitische Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion Jürgen Hardt darauf aufbauend mit dem „Abschuss russischer Kampfjets“ drohte – stellt sich die die tatsächliche Situation aus völkerrechtlicher und militärischer Sicht weitaus komplexer und widersprüchlicher dar.

Denn nach russischer Darstellung, die auch von internationalen Veröffentlichungen zum Thema gedeckt wird, ignoriert Estland mutmaßlich eine seit vielen Jahren praktizierte und völkerrechtlich anerkannte Sonderregelung für den Finnischen Meerbusen. Hintergrund ist die besondere Geografie, die keine generelle Anwendung der sonst üblichen 12-Meilen-Regelung zulässt, da der Finnische Meerbusen an einigen Stellen nur rund 24 Seemeilen breit ist. In diesen Fällen würden sich die 12-Meilen Hoheitszonen der drei Anrainer Staaten Finnland, Estland und Russland überschneiden und somit keinerlei Raum lassen würden für einen internationalen Korridor für Schiff- und Flugfahrt.

Daher wurde bereits seit Jahrzehnten völkerrechtskonform vereinbart, dass an diesen Stellen eine 3-Meilen-Zone gilt, und außerhalb dieser 3-Meilen ein internationaler Korridor für die Durchfahrt von Schiffen und Überflügen existiert. Dieser internationale Korridor ist für alle Anrainer extrem wichtig, da der Finnische Meerbusen den einzigen Zugang zu den Häfen von Sankt Petersburg (Russland), Tallinn (Estland) sowie Helsinki (Finnland) darstellt. Die 12- bzw. 3-Meilen Regelung gilt völkerrechtlich sowohl für die See- wie die Luftgrenzen.

Anbei zum besseren Verständnis eine Veröffentlichung der finnischen Seefahrbehörde (Finish Maritime Administration) vom 1. Juli 2004 – auf der man gut sehen kann, wie sich die 12-Seemeilen überschneiden bzw. de facto keinen Raum für internationale Gewässer erlauben würden (siehe die rote und schwarze Grenzlinie) und der darüber liegende (grün gefärbte) internationale Korridor:

Nach russischen Aussagen befanden sie die fraglichen drei russischen MiGs bei ihrem Flug außerhalb dieses 3-Meilen-Hoheitsgebietes, also nach russischem Verständnis in internationalen Gewässern. Die obige Abbildung bezeugt, dass zumindest bis vor wenigen Jahren auch Finnland diesen Bereich als internationales Gewässer und Luftraum bewertete.

Das estnische Verteidigungsministerium veröffentlichte am 20. September eine Karte, die das Eindringen der russischen Jets belegen soll. Der dickere rote Pfeil auf der Karte stellt die Flugbewegung der russischen MiGs dar:

Zum einen bezeugt die Karte, dass die Flugzeuge in direkter gerader Linie nach Kaliningrad flogen und nicht bewusst nach links abgebogen waren in Richtung estnischem Festland. Ein Aspekt der eher gegen eine „bewusste Provokation“ spricht. Zum anderen zeigt sie aber auch an, dass die russischen Flugzeuge sich außerhalb der 3-Seemeilen-Zone in der Nähe der estnischen Insel Vaindloo befanden.

Der ehemalige Bundeswehr-Generalinspekteur und frühere Vorsitzende des NATO-Militärausschusses General a. D. Harald Kujat weist in einer aktuellen Stellungnahme zudem darauf hin, dass es „Unsicherheiten über den genauen Verlauf der Grenzen der Territorialgewässer“ gäbe, da Estland und Russland 2014 zwar eine Seerechtsvereinbarung („Maritime Delimination Treaty“) über die Seerechtsgrenzen unterzeichneten hätte, die jedoch bis zum heutigen Tag nicht vollständig in Kraft getreten sei.

Die skizzierte komplexe völker- und grenzrechtliche Lage im Finnischen Meerbusen und die Tatsache, dass die Bundesregierung sich nicht in der Lage zeigte, adäquat die Fragen nach 12- oder 3-Meilen-Zone zu beantworten, bezeugt nochmal eindrücklich, wie unverantwortlich ein Großteil von Medien und Politik hier mit voreiligen Verurteilungen und Abschussforderungen agiert haben.

Auszug aus dem Wortprotokoll der Regierungspressekonferenz vom 24. September 2025

Frage Warweg
Vergangene Woche – das wurde schon angesprochen – sollen laut estnischen Angaben drei russische Kampfjets über den Finnischen Meerbusen in den Luftraum Estlands eingedrungen sein. Nun sagen die russische Seite, aber auch nicht NATO-gebundene Experten, dass mutmaßlich keine Luftraumverletzung vorgelegen habe, sondern Estland eine seit vielen Jahren praktizierte und völkerrechtlich anerkannte Sonderregelung für den Finnischen Meerbusen ignoriere, die darauf beruhe, dass die dortige Geografie keine Zwölfmeilenzone für das Hoheitsgebiet zulasse, sodass oft nur eine Dreimeilenzone gelte und dahinter ein internationaler Korridor für Schiff- und Luftfahrt liege.

Für die Bewertung dieses Falles – es wurde ja auch Artikel 4 der NATO-Charta aktiviert – ist es relevant zu wissen, wie der Wissensstand der Bundesregierung ist. Gilt für den Finnischen Meerbusen völkerrechtlich uneingeschränkt die Zwölfmeilenregelung oder auch, worauf die russische Seite teilweise verweist, die Dreimeilenregelung? Das wäre wirklich relevant für die Beurteilung.

Müller (BMVg)
Ich weiß nicht, welche Einzelakteure hier welche Meinung haben. Ich habe das nicht zu kommentieren. Uns liegen keine Informationen vor, die uns an den estnischen oder an den NATO-Folgerungen zweifeln ließen.

Zusatzfrage Warweg
Die Frage richtet sich im Zweifel auch eher an Herrn Hinterseher. Der Bundesregierung muss ja bekannt sein, ob im Finnischen Meerbusen uneingeschränkt die Zwölfmeilenzone für das Hoheitsgebiet gilt oder teilweise auch die Dreimeilenzone.

Darauf aufbauend auch die Frage nach dem Wissensstand der Bundesregierung, ob sich die russischen Flugzeuge in der Zwölf- oder in der Dreimeilenzone befunden haben.

Hinterseher (AA)
Die Frage, die Sie stellen, ist eine nachgelagerte Frage. Sie leitet sich aus einer Tatsachenbehauptung ab, die nicht überprüfbar ist.

Zusatz Warweg
Doch, ich wollte sie ja von Ihnen überprüfen lassen.

Hinterseher (AA)
Nein, es geht darum, dass Sie eine Behauptung aufstellen. Wir haben, wie gesagt, keine Zweifel an den Darstellungen, die wir durch die Alliierten aus Estland zu diesem Vorfall erhalten haben.

Die völkerrechtliche Frage hätte man separat davon zu betrachten. Ich kann sie Ihnen jetzt aus dem Stand nicht beantworten. Sie ist aber auch der Frage nachgelagert, ob es überhaupt so war. Das ist erst einmal eine Behauptung.

Frage Jessen (freier Journalist, kooperiert mit jung & naiv)
Daran anknüpfend, aber doch inhaltlich: Verfügt die Bundesregierung über Daten, objektive Belege, wo sich die russischen Luftfahrzeuge aufgehalten haben? Solche Belege, objektive Anwesenheitsbelege über Ort und Zeit, wären ja überhaupt die Voraussetzung für eine weitergehende Interpretation. Haben Sie diese Belege? Können Sie sagen bzw. wissen Sie, wo die russischen Flugzeuge wann wo genau waren?

Müller (BMVg)
Wie ich gerade dargestellt habe, werden entsprechende Informationen natürlich im Bündnis geteilt. Die Informationen, die uns vorliegen, lassen es nicht zu, dass wir an der Darstellung der NATO – sie hat sich gestern in einer Pressemitteilung ganz klar geäußert – und an der Darstellung der Bündnispartner im Baltikum Zweifel haben können.

Regierungssprecher Kornelius
Vielleicht zur Ergänzung, Herr Jessen: Es gibt ja Radarbilder und – – –

Zusatzfrage Jessen
Ja, ja, das ist die Frage. – Im Falle des Abschlusses von MH17 gab es eine ähnliche Debatte, in der Russland zunächst bestritten hatte, dass es überhaupt Buk-Raketen gewesen sein könnten, und eigene Bilder produziert hatte, denen zufolge es ukrainische Militärjets gewesen seien, die den zivilen Flieger abgeschossen hätten. Das wurde später durch die Veröffentlichung der tatsächlichen Daten korrigiert.

Wäre es nicht auch in dem jetzigen Fall eine sinnvolle Sache, zu sagen: „Bitteschön, wir informieren die Öffentlichkeit über die Daten, die wir haben und die das belegen“?

Kornelius
Ich denke nicht, dass im Moment eine Beweislastumkehr nötig ist. Was die Zonenregelung angeht, verweise ich auch darauf, dass es ja den Flug- und den Schiffskorridor gibt. Über ihn reden wir, und der wurde offenbar verletzt.

Frage Warweg
Herr Hinterseher, ich habe eine ganz normale völkerrechtliche Frage gestellt und würde gern eine Antwort darauf bekommen. Gilt gemäß dem Wissensstand der Bundesregierung im Finnischen Meerbusen ausschließlich die Zwölfmeilenregel oder gilt auch die Dreimeilenregel?

Darauf hätte ich gerne eine Antwort, weil ich davon ausgehe, dass die Bundesregierung durchaus weiß, wie die völkerrechtliche Lage dort ist.

Hinterseher (AA)
Ja, und Sie wissen, dass es sich nicht unbedingt anbietet, völkerrechtliche Fragen aus der Lamäng zu klären. Deswegen hatte ich Ihnen vorhin schon angedeutet, dass wir, falls sich eine Nachlieferung dazu anbietet, nachliefern würden, wie der völkerrechtliche Status ist.

Vorsitzender Szent-Iványi
Dann warten wir darauf.


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