Luftraumverletzung? Ein journalistisches Lehrstück – im negativen Sinne

Luftraumverletzung? Ein journalistisches Lehrstück – im negativen Sinne

Luftraumverletzung? Ein journalistisches Lehrstück – im negativen Sinne

Ein Artikel von Marcus Klöckner

Russland hat den Luftraum von Estland verletzt. Das ist Fakt – in den großen Medien. Journalistische Distanz zum Objekt der Berichterstattung? Fehlanzeige. Im Indikativ, also in der Wirklichkeitsform, steht, was ist – also aus Sicht einer Medienlandschaft, die nicht bereit ist, Meldungen zu hinterfragen. Ein journalistisches Lehrstück, das zeigt: Diese Medien sind Kriegspropaganda nicht gewachsen. Von Marcus Klöckner.

Was ist am Freitagmorgen passiert? Sind tatsächlich russische Kampfjets in den Luftraum Estlands eingedrungen? Haben sich die MIG 31 tatsächlich zwölf Minuten dort aufgehalten?

Das ist für Mediennutzer, aber selbst für Journalisten nicht so einfach rauszufinden. Deshalb ist journalistische Distanz angebracht. Aber der Reihe nach.

Aufgabe von Journalisten ist es, Meldungen, bevor sie als Realität der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden, zu prüfen. Diese Prüfung hat nach strengen journalistischen Maßstäben stattzufinden – nicht nach persönlichen, ideologischen Überzeugungen. Stellt sich bei der Prüfung heraus, dass ein Geschehen real ist, dann können Journalisten im Indikativ berichten.

Die Wirklichkeitsform sagt uns als Mediennutzer, dass etwas tatsächlich ist. Bestünden Zweifel an einer Meldung oder konnte eine Meldung nicht endgültig verifiziert werden, haben Medien die Möglichkeit, entweder bis zur Klärung die Meldung nicht zu veröffentlichen oder aber eine sprachliche Form zu wählen, die dem Mediennutzer verdeutlicht: Hier wird über einen möglichen Vorfall berichtet – genau weiß man das aber nicht.

Und damit wären wir beim Spiegel, beim ZDF und vielen weiteren Medien, die am Freitag einen Vorfall in den Status der Realität erhoben haben, obwohl zwingend journalistische Distanz angebracht gewesen wäre.

Provokation im Baltikum
Russische Kampfjets in Nato-Luftraum – Trump warnt vor „großen Problemen“,

lautet eine Spiegel-Schlagzeile.

Im Vorspann heißt es:

Drei russische Kampfflugzeuge haben den Luftraum Estlands verletzt. Moskau bestreitet die Darstellung aus Tallinn, die von der Nato bestätigt wurde

Schon die ‚Dachzeile‘ „Provokation im Baltikum“ vermittelt den Eindruck, dass es sich um eine reale Provokation handelt, sprich: dass tatsächlich russische Jets in den estnischen Luftraum eingedrungen sind. Bestünden Zweifel, ob der Vorfall überhaupt stattgefunden hat, müsste es in der Dachzeile etwa heißen:

„Mutmaßliche Provokation im Baltikum“.

Das ist aber nicht der Fall.

Hinzu kommt: Allein schon der Ausdruck „Provokation“ ist stark wertend. Theoretisch wäre es ja auch möglich, dass russische Piloten einen Fehler gemacht haben. Luftraumverletzungen durch Versehen, durch Fehler sind keine Ungewöhnlichkeit. Der Spiegel kann – selbst unter der Voraussetzung, dass russische Jets tatsächlich den Luftraum verletzt haben sollten und die NATO-Angaben stimmen, wohl kaum wissen, ob dieses Eindringen auf einer bewussten „Provokation“ beruht.

Der Ausdruck „Provokation“ passt aber zur allgemeinen anti-russischen Stimmungsmache. Die „Provokation“ an dieser Stelle ist für die Propaganda das, was das Salz für die Suppe ist. Der Begriff gibt dem Vorfall, der ohnehin „schreiend“ berichtet wird, noch mehr „Würze“. Die Übertragungsleistung im Kopf der Rezipienten soll wohl lauten: Der böse Russe provoziert.

Der erste Stein zum Aufbau der Medienrealität ist gesetzt. Der Zweite folgt in der Überschrift. „Russische Kampfjets in Nato-Luftraum“.

Auch hier lässt die Aussage keinen Raum für Zweifel. Die „Provokation“ im Baltikum ist Realität, und russische Kampfjets haben faktisch den Luftraum verletzt.

Und so formuliert die Spiegel-Redaktion dann auch explizit im Vorspann: „Drei russische Kampfpflugzeuge haben …“ – hier ist er, der Indikativ. „Haben“. Korrekt wären etwa Formulierungen wie: „sollen verletzt haben“, „Der Verdacht steht im Raum, dass russische Kampfpflugzeuge den Luftraum Estlands verletzt haben“.

Aber nein, an dem, was ist, lässt der Spiegel in den angeführten Zeilen keinen Zweifel.

Daran ändert auch nichts, dass immerhin noch die Position Moskaus angeführt wird (Moskau „bestreitet“). Direkt nach dieser Angabe folgt die Aussage, dass die NATO den Vorfall „bestätigt“ habe.

Im weiteren Verlauf des Artikels setzt sich die realitätssetzende Sprache fort. Erst im zweiten Abschnitt heißt es journalistisch korrekt: „Nach estnischen Armeeangaben waren drei Kampfjets (…).“

An dieser Stelle aber, um es salopp zu sagen, ist der Drops bereits gelutscht. Viele Leser lesen ohnehin nur die Überschriften. Und überhaupt: Die gesamte Darstellung und Aufmachung vermittelt: Es ist so. Nachfolgende Distanzierungen durch eine Formulierung wie „nach Armeeangaben“ oder „hätten sich insgesamt zwölf Minuten darin aufgehalten“ kommen zu spät.

Nun zum ZDF.

In einem Tweet auf der Plattform X heißt es:

+++ EIL +++ Estland: Russische Kampfjets verletzen Luftraum über dem baltischen Nato-Staat

Hier wird durch den Gebrauch der Formulierung „Estland:“ zwar dahingehend Distanz in die Meldung gebracht, dass nicht das ZDF hier selbst sagt, sondern Estland sprechen lässt. Das ist einerseits in Ordnung, andererseits: Man muss schon ein gewisses Sprachverständnis (wenn nicht: journalistisches Verständnis) besitzen, um diese Kurzmeldung so zu verstehen wie hier gerade aufgeschlüsselt – zumal die Aussage hinter „Estland:“ kein wörtliches Zitat ist, also ohne Anführungszeichen erfolgt.

Gerade auch noch durch den vorangestellten Zusatz „Eil“ dürften viele Mediennutzer den Eindruck bekommen, dass hier tatsächlich ist und nicht nur etwas vom ZDF wiedergegeben wird.

Warum lohnt es sich, bei dieser „Berichterstattung“ so genau zu schauen?

Sie ist ein journalistisches Lehrstück – im negativen Sinne. Sie zeigt, wie fragil Medienrealität ist. Wir sehen, dass Medien einen Vorfall als real darstellen, obwohl sie – beim besten Willen – kaum wirklich wissen können, ob tatsächlich russische Flieger den Luftraum verletzt haben (oder waren Spiegel-Journalisten in einem Flugzeug unterwegs und haben die Luftraumverletzung mit eigenen Augen gesehen?).

Es bedarf nicht vielen Vorstellungsvermögens, um sich vor Augen zu führen, wie Redaktionen im ganzen Land dazu kommen, auf eine Weise zu berichten, als ob der Vorfall sich tatsächlich ereignet hätte.

Die journalistische „Prüfung“ besteht in Fällen dieser Art darin, dass Redaktionen Quellen als „vertrauenswürdig“ einordnen und dann – und jetzt kommt das Problem – einer Meldung Glauben schenken. Vertrauenswürdig ist offensichtlich, wenn das estnische Militär etwas berichtet. Vertrauenswürdig ist offensichtlich auch, wenn die NATO Angaben „bestätigt“.

Hier zeigt sich der journalistische Totalausfall.

Auch Angaben vonseiten eines Militärs oder eines „Verteidigungsbündnisses“, die Redaktionen zu den „Guten“ zählen, müssen zwingend kritisch hinterfragt werden. Oder geht die Medienlandschaft in Deutschland davon aus, dass es vonseiten der NATO keine Propaganda gibt?

Danach sieht es leider aus!

Bei einer Meldung wie der hier diskutierten müssten Medien sich fragen, ob sie überhaupt darüber berichten sollten, wenn die einzigen „verlässlichen“ Quellen jene sind, die doch unter rationalen journalistischen Gesichtspunkten auch unter einem Propagandaverdacht zu stehen haben.

Was, wenn die Meldungen tatsächlich ein Produkt der Propaganda sind? Können Medien das ausschließen? Wo sind die konkreten Beweise? Wie belastbar sind eventuell präsentierte Beweise? Was sagt die Gegenseite? Wird ihr genug Raum in der Berichterstattung gegeben? Gibt es unterschiedliche Expertenansichten? Wie sehen diese Ansichten aus?

Um all das zusammenzutragen, brauchen Redaktionen Zeit – eher Tage als Stunden, wenn es seriös und fundiert sein soll. Das steht aber dem Bestreben, schnell die angebliche Story zu verkünden, im Wege.

Nun ist es problematisch, von einem Mediensystem, zu dessen Funktionsweise es gehört, schnell zu berichten, Zurückhaltung zu fordern. Aber dennoch: Es gilt, sich vor Augen zu führen, womit wir es zu tun haben. Es geht nicht um irgendeinen unwichtigen Vorfall bei einem Dorffest, sondern es geht um einen politisch hochgradig aufgeladenen, tief propagandistisch kontaminierten Konflikt.

Das ganze Land soll auf Kriegstüchtigkeit getrimmt werden, die NATO rüstet auf gegen Russland. Immer wieder heißt es vonseiten der Politik, Russland drohe, die NATO anzugreifen.

In dieser Situation sollte selbst dem dümmsten Journalisten klar sein: Alle Meldungen, die sich im Umfeld des Konflikts zwischen NATO und Russland bewegen, müssen peinlich genau auf Propaganda abgeklopft werden – und zwar von allen involvierten Seiten. Doch genau das passiert nicht.

Was wir sehen, sind nicht „nur“ Medien, die in der Dauerschleife ihre Unfähigkeit oder ihr Nichtwollen unter Beweis stellen, Meldungen, die zum Nachteil Russlands sind, kritisch zu hinterfragen. Nein, noch schlimmer: Dadurch, dass sie nicht hinterfragen, werden sie selbst zum verlängerten Arm der Propaganda.

Was passiert, wenn es in diesem Konflikt zu einer Kriegsanlasslüge kommen sollte? Kriegsanlasslüge? Dieser Begriff müsste spätestens seit der Brutkastenlüge jedem Journalisten ein Begriff sein. Doch dem ist nicht so. Eine Medienlandschaft ist zu beobachten, die jeder Kriegsanlasslüge auf den Leim gehen würde. Diese Medienlandschaft ist in weiten Teilen einer immer möglichen Kriegspropaganda nicht gewachsen.

Unabhängig davon, ob sich dieser Vorfall nun ereignet hat oder nicht – Luftraumverletzungen von beiden Seiten kommen vor, sind im Grunde genommen keine „Neuigkeit“. Die effekthascherische „Berichterstattung“ führt dazu, dass in der Bevölkerung Angst erzeugt wird. Und diese Angst bedient unterm Strich genau das, was die Kalten Krieger dieser Zeit für die Aufrüstung der NATO benötigen.

Noch etwas kommt hinzu: Auf die erzeugte Medienrealität folgen Stimmen aus dem Lager der Hardliner, die längst in den Startlöchern stehen und auf die „Provokationen“ mit einer Politik der harten Hand reagieren wollen. So meldete sich der CDU-Politiker Jürgen Hardt zu Wort und sagte:

„Nur eine klare Botschaft an Russland, dass jede militärische Grenzverletzung mit militärischen Mitteln beantwortet wird bis hin zum Abschuss russischer Kampfjets über NATO-Gebiet, wird Wirkung zeigen“.

Medien, die nicht hinterfragen, ebnen Aussagen wie diesen, die wie Benzin in einem ohnehin schon lodernden Feuer zwischen Russland und der NATO sind, den Weg.

Medien, die einen Vorfall wie den hier besprochenen journalistisch mit Maß und Ziel einordnen würden und daraus allenfalls eine Meldung am Rande veröffentlichten, ließen erst gar keinen Raum für Aussagen wie die von Hardt.

Doch so greift eins ins andere. Und die Grenzen zwischen dem, was möglicherweise war, nicht war und dem, was ist und nicht ist, werden von den Medien verwischt. Das ist der perfekte Nährboden für Propaganda.

Titelbild: FORSVARSMAKTEN