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Titel: Der GITA-Plan für Gaza: Technokratische Stabilisierung oder demütigende Entmündigung?

Datum: 7. Oktober 2025 um 9:00 Uhr
Rubrik: Erosion der Demokratie, Friedenspolitik, Länderberichte
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Die jüngsten Vorschläge für eine Nachkriegsordnung im Gazastreifen – allen voran der von Tony Blair mitentwickelte „Gaza International Transitional Authority“ (GITA) Plan – sorgen für kontroverse Debatten. Offiziell präsentiert sich der Blair-Plan als technokratisches Stabilisierungskonzept für die vom Krieg verheerte Küstenenklave. Doch viele Palästinenser und Beobachter sehen darin den Versuch, die palästinensische Souveränität auszuhöhlen. Von Detlef Koch.

Seit dem Kriegsausbruch im Oktober 2023 pochen die palästinensischen Vertreter unisono auf ihre grundlegenden Rechte: ein Ende von Besatzung und Blockade, echte Selbstbestimmung und die Verwirklichung eines unabhängigen Palästinenserstaates mit Ost-Jerusalem als Hauptstadt. Diese Forderungen stehen im scharfen Kontrast zu einem Übergangsregime wie GITA, das von außen gelenkt wird. Struktur und Machtlogik des Blair-Plans übergehen in kolonialer Arroganz die palästinensischen Friedensforderungen und der Plan ist bestenfalls als „technokratische“ Übergangslösung ohne Überzeugungskraft zu werten. Koloniale Denkfiguren dominieren elementare Prinzipien des Völkerrechts – insbesondere das Selbstbestimmungsrecht der Völker.

GITA: Struktur & Machtlogik eines Übergangsregimes

Der GITA-Plan sieht vor, dass der Wiederaufbau und die Verwaltung Gazas weitgehend von internationalen Akteuren kontrolliert werden – palästinensische Vertreter hätten nur nachgeordnete Rollen.

Der Plan schlägt einen internationalen Übergangsverwaltungsrat mit weitreichenden Befugnissen vor und würde zunächst von 7 bis 10 Mitgliedern außerhalb Gazas (in al-Arisch, Ägypten) geleitet und durch den UN-Sicherheitsrat autorisiert operieren. Lediglich ein Mitglied soll ein Palästinenser sein – „aus dem Geschäfts- oder Sicherheitssektor“ –, während die übrigen Plätze mit internationalen Persönlichkeiten mit politischer oder ökonomischer Erfahrung besetzt würden. Mit demütigender Machtasymmetrie wird hier regionale Legitimität vorgetäuscht.

Der geleakte Entwurf nennt prominente externe Kandidaten wie den ägyptischen Milliardär Naguib Sawiris, den US-Investor Marc Rowan und Aryeh Lightstone (einen früheren Trump-Berater) – alle außerhalb Gazas und wohl kaum die wünschenswerten Repräsentanten. Der mutmaßliche Kriegsverbrecher Tony Blair höchstselbst wird als möglicher Vorsitzender mit „übergreifender Autorität“ über zentrale politische, rechtliche und Sicherheitsfragen genannt. Er gestaltet dann die „politische und strategische Richtung“ der Gaza-Verwaltung, erlässt wichtige Gesetze und ernennt Personen in hohe Ämter. Auch in Verhandlungen mit externen Akteuren (Israel, Ägypten, USA) tritt er als höchster Vertreter Gazas auf – bemerkenswerterweise ohne Nennung der palästinensischen Autonomiebehörde (PA) in diesem diplomatischen Kontext. Ein unglaublicher Vorgang.

Ein solches Konstrukt käme einer faktischen Entmachtung der lokalen palästinensischen Bevölkerung gleich. Gesetzgebung und Exekutive in Gaza lägen für die Übergangszeit vollständig in den Händen des internationalen Rates: Laut Entwurf kann GITA bindende Entscheidungen erlassen, Gesetze verabschieden und Spitzenposten besetzen – womit ausländische Funktionäre Mehrheitsentscheidungen für Gaza treffen würden. Palästinenser wären auf ausführende Rollen beschränkt und somit Objekte fremder Herrschaft und Beschlüsse.

Der GITA-Vorstand würde seinerseits gegenüber dem UN-Sicherheitsrat berichten, nicht etwa an die Bevölkerung Gazas. Diese Konstruktion erinnert an historische Mandats- oder Treuhandverwaltungen und ist laut Berichten explizit an frühere UN-Übergangsmissionen (Osttimor, Kosovo u.a.) angelehnt. Allerdings fehlt im GITA-Plan ein zentrales Element solcher Missionen: ein klar terminiertes Ende mit Übergang zur vollen Souveränität. Zwar versprechen die Planer, GITA solle die Verwaltung „nach und nach“ an eine reformierte Palästinenserbehörde übergeben. Doch konkrete Fristen sucht man vergebens. Der Zeithorizont wird vage mit bis zu fünf Jahren angegeben – manche Diplomaten spekulieren sogar, GITA könnte schon nach zwei Jahren enden, während andere eine Verlängerung nicht ausschließen.

Gerade diese fehlende Verbindlichkeit wird von arabischen Staaten kritisch gesehen, bietet sie doch keinerlei Garantie, wann die Palästinenser ihre volle Regierungsgewalt tatsächlich zurückerlangen. Für den israelischen Premier Benjamin Netanjahu hingegen ist die Offenheit des Zeitplans ein Vorteil, da sie Israels Einfluss wahrt.

Strukturell läuft GITA darauf hinaus, Gaza institutionell von der Westbank abzukoppeln. Der Entwurf würde Gaza als separates Verwaltungsgebiet neu definieren, mit einer eigenen (von Ausländern dominierten) Gouvernance, losgelöst von der in Ramallah sitzenden PA-Regierung. Palästinensische Kritiker warnen, dies schaffe eine parallele Jurisdiktion in Gaza, die Palästina als einheitliches politisches Subjekt spalte. Xavier Abu Eid, ehemaliges Mitglied des PLO-Verhandlungsteams, betont, das Oslo-Abkommen habe Gaza und Westjordanland als integrale Einheit anerkannt – der GITA-Plan jedoch „trennt Gaza rechtlich vom Westjordanland“ und lasse völlig offen, wie die Gebiete je wieder vereint werden sollen[1]. Selbst offizielle Vertreter, die an den Gesprächen beteiligt waren, räumen ein, dass Palästinenser im GITA-Gerüst höchstens Juniorpartner wären. So fasst es die Washington Post mit den Worten eines palästinensischen Offiziellen zusammen: „Man hätte einen Rat mit ausländischer Mehrheit, der für die Palästinenser in Gaza Gesetze erlässt.“ Genau dieses Szenario – Fremdherrschaft per Dekret in Gaza – weckt bei vielen Palästinensern tiefes Misstrauen.

  1. Palästinensische Friedensforderungen vs. GITA-Plan

    Im Zentrum der palästinensischen Position steht das völkerrechtlich verbürgte Recht auf nationale Selbstbestimmung: die Schaffung eines unabhängigen, souveränen Palästinenserstaates auf den 1967 besetzten Gebieten mit Ost-Jerusalem als Hauptstadt. „Oberste Priorität“ haben laut PLO-Exekutivkomitee zudem das unveräußerliche Rückkehrrecht der Flüchtlinge, der vollständige Abzug der Besatzungsmacht Israel und die umfassende Souveränität über das eigene Territorium. Präsident Mahmud Abbas bekräftigte vor der UN-Generalversammlung im September 2025 ausdrücklich, dass ausschließlich die Palästinensische Autonomiebehörde (PA) – als Kern eines künftigen Staates Palästina – legitimiert sei, „die volle Verantwortung für Verwaltung und Sicherheit in Gaza zu übernehmen“. Dies solle durch ein eigenes palästinensisches Übergangskomitee unter PA-Anbindung und mit arabischer/internationaler Unterstützung geschehen. Abbas’ Botschaft lautete unmissverständlich: Hamas hat in einem Nachkriegs-Gaza politisch nichts zu suchen, aber der palästinensische Souverän muss die Oberhand behalten. Innerpalästinensisch wird auf Neuwahlen und institutionelle Reformen hingearbeitet, um nach dem Krieg eine demokratisch legitimierte Selbstregierung sicherzustellen. Entscheidend ist dabei der Grundsatz, dass jegliche internationale Hilfe oder Aufsicht zeitlich befristet und an klaren Fortschritten Richtung Eigenstaatlichkeit gekoppelt sein muss.

    Demgegenüber bleibt der GITA-Plan auffallend schweigsam zu staatlicher Souveränität und anderen palästinensischen Kernanliegen. Zwar behaupten US-Offizielle inzwischen, der 21-Punkte-Plan öffne eine „glaubwürdige Tür“ zu einem künftigen Palästinenserstaat. Konkret heißt es, nach erfolgreicher Entwaffnung Gazas und dem Wiederaufbau solle ein Pfad zu einer unabhängigen palästinensischen Staatlichkeit entstehen. Allerdings wird dieser Pfad ausdrücklich von Bedingungen abhängig gemacht: Die palästinensische Seite müsse erst ein umfangreiches Reformprogramm absolvieren und “Gaza’s Entwicklung voranschreiten”, bevor ein eigener Staat Realität werden könne. Mit anderen Worten: Das Selbstbestimmungsrecht der Palästinenser – an sich ein unverbrüchliches Prinzip des Völkerrechts – würde unter einen Reformvorbehalt gestellt, oder „Die Wilden müssen zuerst zivilisiert werden“.

    In einem aktuellen IGH-Gutachten bekräftigte der Weltgerichtshof, das Recht des palästinensischen Volkes auf Selbstbestimmung sei „unveräußerlich und dürfe keinen Bedingungen unterworfen werden“. Der GITA-Plan hingegen knüpft die politische Zukunft Gazas an die wohlwollende Bewertung durch internationale Akteure (USA, Geber, IFIs), die z.B. die „Reife“ der PA-Institutionen beurteilen. Historisch erinnert dies fatal an koloniale Praktiken, vor denen die UN bereits 1960 mit Nachdruck warnte: „Mangelnde politische, wirtschaftliche, soziale oder erzieherische ‚Reife‘ darf niemals als Vorwand dienen, die Unabhängigkeit zu verzögern.“ Genau das würde aber passieren, wenn GITA solange fortbesteht, bis externe Mächte Palästinenser als „bereit für Staatlichkeit“ erachten.

    Eine zentrale palästinensische Bedingung ist die vollständige Beendigung der israelischen Besatzung und Blockade. Hier bietet GITA lediglich einen indirekten Ansatz: Vorgesehen ist zwar eine schrittweise Übergabe von Teilen Gazas an ein arabisch geführtes internationales Friedenskontingent, was einen Abzug der israelischen Armee aus diesen Zonen ermöglichen soll. Israels Führung betont jedoch offen, man werde „die Sicherheitskontrolle über Gaza behalten – unabhängig von künftigen Plänen“. Der GITA-Plan schafft also keine Garantie, dass Gaza wirklich frei von externer Militärherrschaft wäre. Im Gegenteil: Die Gefahr besteht, dass anstelle einer israelischen Blockade ein international überwachtes „Sicherheitsregime“ tritt, dem die lokale Bevölkerung ebenso wenig zustimmt. Des Weiteren verlangen die Palästinenser die Wahrung der territorialen Einheit von Gaza und Westjordanland. Doch wie oben beschrieben, droht GITA eine institutionelle Separation einzuführen, die diese Einheit unterminiert. Die PLO hatte explizit gewarnt, keine „Teillösungen“ zu akzeptieren, die die Vertretungsrolle der legitimen palästinensischen Führung aushöhlen – eine Warnung, die genau auf Pläne wie GITA abzielt, welche die PLO/PA umgehen und stattdessen neue Strukturen schaffen. Schließlich fehlt im GITA-Plan jegliche Auseinandersetzung mit dem Recht auf Rückkehr und Entschädigung der palästinensischen Flüchtlinge. Während palästinensische Vertreter auf einer gerechten Lösung der Flüchtlingsfrage bestehen, behandelt GITA Gaza isoliert und präsentiert sogar ökonomische Konzepte (Investitionsinitiativen, Public-Private-Partnerships), die an den Bedürfnissen der vertriebenen Bevölkerung vorbeigehen. Kurz: Der Plan setzt technokratische Verwaltungsmaßnahmen und Wirtschaftsprojekte an die Stelle einer umfassenden politischen Lösung, wie sie die Palästinenser fordern (Ende der Besatzung, Zwei-Staaten-Lösung auf Basis internationalen Rechts, Rechte für Flüchtlinge). Aus palästinensischer Sicht läuft GITA damit auf eine gefährliche Entpolitisierung ihres Anliegens hinaus. Anstatt die Konfliktursachen – Besatzung, Vertreibung, staatenloser Status – zu beheben, will man Gaza „befrieden“, ohne den Palästinensern das Zugehörige an Souveränität zuzugestehen. Dieses Auseinanderklaffen zwischen technokratischer Problemverwaltung und berechtigtem politischen Anspruch ist es, was den GITA-Plan für viele Palästinenser unannehmbar macht.

  2. Politisch-ethische Bewertung: Koloniale Muster und psychologische Wirkungen

    Angesichts dieser Diskrepanz verwundert es nicht, dass der GITA-Plan sowohl bei palästinensischen Vertretern als auch unabhängigen Experten Alarmglocken schrillen lässt. Sprachlich wie strukturell weist der Plan zahlreiche Motive auf, die an koloniale Paternalismus-Modelle erinnern. Schon die Idee, Gaza brauche eine „technokratische, unpolitische“ Verwaltung durch extern ernannte Experten, impliziert, die einheimische Gesellschaft sei unfähig zur Selbstregierung. Dieses Narrativ – „die Zivilisierten müssen ordnend eingreifen“ – ist aus der Kolonialgeschichte allzu bekannt. GITA würde Gaza de facto unter eine „höhere Vormundschaft“ stellen, mit Tony Blair als eine Art Gouverneur-General (so wurde er in arabischen Medien bereits bezeichnet). Ein sieben- bis zehnköpfiger „Friedensrat“, bestückt mit westlichen Staatsmännern und Milliardären an der Spitze und nur einem Palästinenser am unteren Ende, erinnert frappierend an die hierarchischen Verwaltungsräte vergangener Kolonialregime. Dieser Top-down-Ansatz spiegelt ein paternalistisches Weltbild wider, in dem den Palästinensern die politische Mündigkeit abgesprochen wird. Stattdessen sollen auswärtige „Erwachsene“ in ihrem Namen entscheiden, was „das Beste“ für Gaza sei – wobei wirtschaftliche Schlagworte wie „public-private partnerships“ und „kommerziell rentable Investitionen“ auffällig im Vordergrund stehen. Kritiker sprechen von einer „neokolonialen Übernahme Gazas, ohne Garantien, dass die Palästinenser jemals wieder selbst regieren dürfen“. Dass ausgerechnet Tony Blair – der im Nahen Osten wegen seiner Rolle im Irakkrieg vielerorts als Kriegstreiber und „Kolonialstratege“ verschrien ist – diesen Plan mitentwickelt hat und sogar selbst anführen möchte, bestärkt solche Vorwürfe. „Wir standen schon einmal unter britischem Kolonialismus. Blair hat hier einen miserablen Ruf – das Erste, was die Leute bei seinem Namen sagen, ist ‘Irakkrieg’“, so Mustafa Barghouti, ein bekannter palästinensischer Politiker. Auch die UN-Sonderberichterstatterin Francesca Albanese reagierte entsetzt auf Blairs mögliche Rolle: „Tony Blair? Um Gottes Willen, Hände weg von Palästina.“

    Neben den kolonialen Denkmustern wirft der GITA-Plan gravierende völkerrechtliche Bedenken auf. Die UN-Charta und das Selbstbestimmungsrecht der Völker untersagen „die Unterwerfung eines Volkes unter fremde Obhut“, da dies eine Verweigerung grundlegender Menschenrechte darstellt. Es ist die zeitweilige Entmündigung von 2 Millionen Gazanern durch ein fremdes Regime. UN-Resolution 1514 (XV) – das große Anti-Kolonialismus-Dokument – erklärt unmissverständlich, dass „die Unterwerfung von Völkern unter fremde Unterjochung, Beherrschung und Ausbeutung die Charta der UN verletzt“. Der Blair-Plan trägt die Arroganz kolonialer Herrschaft in sich und ist de facto eine moderne Form von „Mandatsverwaltung“, bei der Gaza-Bewohner ihres Rechts beraubt werden, frei über ihr politisches Schicksal zu bestimmen. Es bleibt die Frage: Wo ist die Zustimmung des palästinensischen Volkes? Übergangsverwaltungen wie in Osttimor oder Kosovo wurden in enger Abstimmung mit den jeweiligen Unabhängigkeitsbewegungen installiert. Im Falle Gazas hingegen liegt kein Mandat der Bevölkerung vor – vielmehr regiert man an ihr vorbei. Das Recht auf Selbstbestimmung der Palästinenser wird fundamental ausgehöhlt. Die UN-Expertenkommission für Palästina appellierte im November 2023 explizit, jede Friedensinitiative müsse das Selbstbestimmungsrecht achten und echte Rechenschaft für Verbrechen sicherstellen. Der GITA-Plan bietet weder das eine noch das andere – in seinem kolonialen Design kommt das Wort Gerechtigkeit gar nicht erst vor.

    Psychologisch könnte ein solches aufgezwungenes Arrangement fatalen Einfluss auf die palästinensische Bevölkerung haben. Nach über 16 Jahren Blockade und mehreren verheerenden Kriegen (besonders ab Oktober 2023) leidet Gaza bereits unter kollektiver Traumatisierung: Studien zeigen, dass nach früheren Bombardements je nach Ort 6 Prozent bis zu 70 Prozent der Kinder in Gaza Anzeichen von posttraumatischer Belastungsstörung (PTBS) aufwiesen. Die Menschen haben unvorstellbare Verluste erlitten; die gesellschaftliche Resilienz steht auf Messers Schneide. In dieser Lage wäre der Verlust der politischen Eigenkontrolle – also zu erfahren, dass das eigene Land nun fremdbestimmt verwaltet wird – für viele ein weiterer schwerer Schlag. Demoralisierung und Gefühl der Ohnmacht könnten um sich greifen, wenn die Aussicht schwindet, in absehbarer Zukunft selbst über das eigene Schicksal bestimmen zu dürfen.

    Ein solcher Zustand könnte paradoxerweise zu Radikalisierungsschüben führen, anstatt Extremismus zu reduzieren. Die Logik dahinter ist historisch belegt: Wann immer eine Bevölkerung das Gefühl hat, nichts mehr zu verlieren und keine politische Mitgestaltungsmöglichkeit mehr zu haben, wächst der Zulauf zu radikalen, auch gewaltsamen Widerstandsformen. Im Irak zeigte sich nach 2003 exemplarisch, wie die Einsetzung eines US-„Prokonsuls“ (Paul Bremer) und der Ausschluss lokaler Kräfte eine breite Aufstandsbewegung befeuerte. Gaza birgt ein ähnliches Risiko: Sollten internationale Bürokraten und Soldaten das Sagen übernehmen, könnten manche Palästinenser sie als Besatzungsmacht in neuem Gewand betrachten – und entsprechend bekämpfen. Israelische Hardliner argumentieren zwar, Gaza müsse „entwaffnet und deradikalisert“ werden; im Trump-Plan ist gar von speziellen De-Radikalisierungsprogrammen für die Gazaner Bevölkerung die Rede. Doch ein „Umerziehungs“-Ansatz, der die Menschen in Gaza pauschal als sicherheitsgefährdendes Objekt betrachtet, verkennt die tatsächlichen Ursachen von Wut und Verzweiflung.

    Radikalisierung gedeiht vor allem dort, wo Ungerechtigkeit, Perspektivlosigkeit und Traumatisierung herrschen. Genau dieses Trio würde ein entmündigendes Übergangsregime verlängern: GITA brächte keine Gerechtigkeit (z.B. Strafverfolgung für Kriegsverbrechen oder Ende der Besatzung), keine politische Perspektive (Staatlichkeit bleibt auf unbestimmte Zeit vertagt) und würde die vorhandenen Traumata eher verschlimmern. Psychologen und NGOs befürchten zudem eine Re-Traumatisierung der Kriegsgeneration: Die permanent präsente Machtlosigkeit im Alltag – fremde Beamte, fremde Truppen bestimmen, was geschieht – kann die Symptome von Posttrauma und Depression verstärken. Bereits heute berichten Hilfsorganisationen über alarmierende Zahlen: 2022 litt über die Hälfte der Jugendlichen in Gaza an schweren depressiven Störungen, 96 Prozent der Kinder fühlten sich nicht sicher und hatten Angst vor der Zukunft. Nach dem noch heftigeren Krieg 2023 dürften diese Werte weiter gestiegen sein. Wenn nun die Botschaft an diese Jugend lautet, „Ihr dürft Euch nicht selbst regieren – wir tun das für Euch“, drohen Resignation oder Trotz. Manche könnten in apathische Hoffnungslosigkeit verfallen, andere sich umso stärker extremistischer Ideologie zuwenden, die dem ohnmächtigen Leben einen scheinbaren Sinn gibt.

  3. Parallelen zum Versailler Vertrag?

    Die Frage drängt sich auf, ob der GITA-Plan in seiner Struktur und Wirkung Parallelen zu historischen Diktatfrieden wie dem Vertrag von Versailles (1919) aufweist. Tatsächlich sehen manche Beobachter verblüffende Ähnlichkeiten. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde Deutschland in Versailles ein „Frieden“ oktroyiert, der auf umfassender Entwaffnung, Gebietsverlusten, Reparationszahlungen und fremder Aufsicht beruhte – einem vom Ökonomen John M. Keynes als „Karthagischer Frieden“ gebrandmarktes Konzept, weil es den Besiegten politisch wie wirtschaftlich erdrückte. Keynes warnte damals, ein so aufgezwungenes, demütigendes Arrangement würde keinen dauerhaften Frieden bringen, sondern „die Saat neuer Katastrophen“ legen.

    Auf Gaza übertragen sieht man strukturelle Parallelen mit einem Frieden der Siegerbedingungen und nicht das Ergebnis einer echten Versöhnung oder Verhandlung auf Augenhöhe. Die Palästinenser wären – ähnlich wie Deutschland 1919 – politisch entmachtet und müssten strenge Auflagen erfüllen (Entwaffnung aller Milizen, umfassende innere Reformen, Verzicht auf gewisse Rechte), ohne selbst Garantien für ihre nationale Zukunft zu erhalten. Der GITA-Plan sieht faktisch die Abtrennung Gazas von der restlichen Palästinenserführung vor und die Einrichtung einer befristeten Fremdherrschaft – mit fremden Truppen (multinationalen Kräften) als Ordnungsmacht.

    Vor allem aber teilen Versailles 1919 und GITA 2025 ein wesentliches Merkmal: Es fehlt der Konsens der Betroffenen. Der Versailler Vertrag wurde von der deutschen Öffentlichkeit als ungerechte Demütigung empfunden, weil er ohne ihre Mitsprache entstand – mit dem Ergebnis, dass er letztlich nicht befriedete, sondern Rachegelüste schürte. Ähnliches ist für Gaza zu befürchten: Ein Governance-Plan, den Palästinenser als „Diktat der Großmächte“ wahrnehmen, würde kaum Loyalität genießen. Schon jetzt spricht ein Kommentator von einem „Frieden, der auf Leichen gebaut ist“ – in Anspielung darauf, dass man über das Leiden der Palästinenser hinweg einfach geschäftsmäßig zur Tagesordnung (Wiederaufbau-Deals etc.) übergehen wolle. Wie Versailles sei GITA „eine Übung in Bestrafung und Ausbeutung, losgelöst von den realen wirtschaftlichen und psychologischen Gegebenheiten des Landes, das es angeblich retten will“.

    Historisch führte eine solche Politik der Demütigung in die Katastrophe – sei es die Radikalisierung der deutschen Politik in den 1920ern oder der Kollaps der irakischen Ordnung nach 2003. Der Versailler Vergleich mag nicht in allen Punkten eins zu eins passen, doch er dient als Warnsignal: Ein Frieden, der auf Zwang, Entwürdigung und Fremdbestimmung basiert, steht auf tönernen Füßen. Statt Stabilität zu sichern, könnte er den Konflikt in anderer Form neu entfachen – getreu dem Diktum, dass „ein Frieden ohne Gerechtigkeit kein Frieden, sondern nur ein Waffenstillstand vor dem nächsten Krieg“ ist.

Quellen:

  • WAFA (Palästinensische Nachrichtenagentur), 28.10.2023: “PLO Executive Committee urges international action to halt Israeli aggression on Gaza”english.wafa.ps.
  • UN-Generalversammlung Resolution 1514 (XV), 14.12.1960: “Declaration on the Granting of Independence to Colonial Countries and Peoples”worldjpn.net.
  • IGH-Gutachten 19.07.2024 (Angeforderte Stellungnahme der UNGA v. 2022): “Illegality of the Israeli Occupation – Advisory Opinion (Summary)”law4palestine.org.
  • Reuters, 30.09.2025 (K. Singh): “US proposal for ‘temporary’ Gaza governance includes Tony Blair, Trump”reuters.com.
  • The Guardian, 25.09.2025 (P. Wintour): “Washington backing plan for Tony Blair to head transitional Gaza authority”theguardian.com.
  • The Guardian, 29.09.2025 (P. Beaumont): “Postwar Gaza authority potentially led by Tony Blair ‘would sideline Palestinians’”theguardian.com.
  • Al Jazeera English, 28.09.2025 (M. Motamedi): “Why is the divisive Tony Blair now touted for post-Gaza war interim role?”aljazeera.com.
  • The Times of Israel, 27.09.2025 (J. Magid): “Revealed: US 21-point plan for ending Gaza war”timesofisrael.com.
  • The Times of Israel, 23.09.2025: “Full text of Abbas speech at 2-state summit (UN Conference)”timesofisrael.com.
  • Ekow Nelson (Blog Reimagining), 01.10.2025: “A Peace Built on Corpses: The Economic and Existential Consequences of Trump’s Gaza Plan”ekownelson.wordpress.com.
  • Law for Palestine, 30.09.2025: “As UN Deadline for Ending Israel’s Occupation Passes: Interviews with UN Special Rapporteurs”law4palestine.org.
  • Diverse wissenschaftliche Studien zu Gaza-PTBS (BMC Psychology 2022, Lancet 2023, War Child Report 2023) – sciencedirect.com / warchild.net.

Titelbild: Andy.LIU / Shutterstock


[«1] „This plan effectively legally separates Gaza from the West Bank and does nothing to explain how they will remain part of the same territory,” Eid added.


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