Startseite - Zurück - Drucken

NachDenkSeiten – Die kritische Website
Titel: 1.000 getötete oder verwundete deutsche Soldaten im Kriegsfall müssten „ersetzt“ werden – die Sprache ist verräterisch
Datum: 24. Oktober 2025 um 9:02 Uhr
Rubrik: Außen- und Sicherheitspolitik, Audio-Podcast, Strategien der Meinungsmache, Wertedebatte
Verantwortlich: Redaktion
Ein Krieg ist kein Kindergeburtstag. Langsam wird die deutsche Öffentlichkeit mit der Realität konfrontiert. Geschätzt 1.000 getötete oder verwundete Bundeswehrsoldaten: Damit hätte es Deutschland im „Ernstfall“ laut Aussagen des Präsidenten des Reservistenverbandes zu tun. Und was würde das bedeuten? Nun, die Soldaten müssten – genau hinhören, bitte – „ersetzt werden“. So ist es im Spiegel zu lesen. Oh ja! Die Sprache ist verräterisch. Ein Kommentar von Marcus Klöckner.
Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.
Podcast: Play in new window | Download
So ist das im Leben. Da verlieren in naher Zukunft vielleicht an einem Tag 1.000 deutsche Mütter und Väter ihre Söhne und Töchter an irgendeiner Kriegsfront – und was müsste dann passieren? Nun, die Kinder müssten „ersetzt“ werden. So wie man eben eine leere Batterie oder eine kaputte Glühbirne ersetzt. Die Glühbirne leuchtet nicht mehr? Rausschrauben, entsorgen, neue rein. Problem gelöst.
Sicher, jeder weiß: Zwischen einem „Ding“ wie einer Glühbirne oder einem Menschen besteht in jeder Gesellschaft auf diesem Planeten ein ziemlich großer Unterschied. Und gerade in den sogenannten „zivilisierten“ Gesellschaften, wo in lieblicher Regelmäßigkeit die moralisch Erhabenen in Sonntagsreden den Wert eines Menschleben hochhalten und zelebrieren, müsste man diese uralte Erkenntnis gewiss nicht extra betonen. Doch so wie wir wissen, dass es natürlich einen Wertunterschied zwischen einer Glühbirne und einem Menschenleben gibt, so wissen wir mittlerweile, dass sich für so manche hochrangigen Funktionsträger der Wert eines Menschenlebens lediglich im Hinblick auf die anvisierten Ziele bemessen wird. So wie eine Glühbirne zu leuchten hat, so hat ein Staatsbürger gegebenenfalls das zu tun, wozu er im Krieg von den in bequemen Sesseln sitzenden politisch Verantwortlichen bestimmt wird: An die Front zu gehen, um zu töten oder getötet zu werden – selbstverständlich, wie immer, für die „gute Sache“. Sprich: Für das Land, für die Freiheit, für die Demokratie. Soweit die Propaganda.
Interessant: Manchmal hebt sich in der „Berichterstattung“ der Vorhang der Propaganda. Dann rutscht ein Bild, ein Satz oder gar nur ein Wort heraus, das unverblümt zeigt, womit es die Gesellschaft zu tun hat. Ungeschminkt, geradeheraus und so, wie es ist.
Patrick Sensburg ist Präsident des Deutschen Reservistenverbandes. In Zeiten, wo die Politik ihr Großvorhaben Kriegstüchtigkeit forciert, geben Medien immer mehr Stimmen aus dem Militär und seinem Umfeld Raum. Sensburg, so ist zu lesen, gehe zwar davon aus, dass etwa 40.000 Freiwillige aus einem 600.000 junge Männer und Frauen umfassenden Jahrgang machbar seien oder mit seinen Worten: „Ich wette, die kriegen wir.“ Aber: Auf Dauer werde es ohne eine Wehrpflicht nicht gehen. Und dann äußert sich Sensburg zu einem möglichen Ernstfall: „Das klingt jetzt brutal, ich weiß: Aber nach Berechnungen der Bundeswehr werden im Kriegsfall pro Tag 1000 Soldaten an der Front sterben oder so schwer verwundet sein, dass sie nicht mehr kämpfen können. Die müssen ersetzt werden, und zwar auch maßgeblich durch Reservistinnen und Reservisten.“
Sensburg hat in den frühen 90er-Jahren seinen Wehrdienst geleistet und eine Ausbildung zum Reserveoffizier durchlaufen. Er ist Oberst der Reserve. Sensburg ist allerdings auch CDU-Politiker und sitzt im Parlament. Und an der Stelle wird es unangenehm.
Dass die Sprache des Militärs von einer gewissen technokratischen Kälte geprägt ist, liegt – auch wenn es das nicht besser macht – in der Natur der Sache. Beim Militär geht es eben im Falle eines Falles darum, zu kämpfen, zu verteidigen, anzugreifen und zu töten – für geschnörkelt prosaische Formulierungen ist da kein Platz. Eine Gruppe von Gegnern wird „neutralisiert“, getötete Soldaten aus den eigenen Reihen müssen eben „ersetzt“ werden.
Doch Sensburg ist eben nicht einfach ein Militär. Er ist Politiker. Und Politiker sind es letzten Endes, die genau jene Entscheidungen treffen, die dann dazu führen, dass Soldaten in den Krieg geschickt werden. Das Tun von Politikern bedingt in direkter Konsequenz, ob ein Krieg „entsteht“ – und ob dann das große Abschlachten beginnt. Gerade im Hinblick auf die deutsche Kriegsgeschichte muss von Politikern bei „Kriegsfragen“ Sinn und Verstand erwartet werden.
Allein schon ohne Dekonstruktion der allgegenwärtigen politischen Propaganda darüber zu sprechen, dass im Kriegsfall mit 1.000 verwundeten und getöteten Soldaten zu rechnen sei, hat mit Sinn und Verstand nichts zu tun. Es ist politisch unverantwortlich! Der Gebrauch der Formulierung „ersetzt werden“ rundet das Ungeheuerliche ab.
Sensburg mag man zugutehalten, dass er hier geradeheraus spricht. Und er bestimmt nicht ein solches Szenario befürwortet – doch ihn damit aus der Kritik zu lassen, wäre gefällig. Allein die von ihm angeführte Zahl müsste nicht nur ihm selbst, sondern jedem deutschen Politiker das pure Entsetzen ins Gesicht treiben. Über diese Zahl nüchtern und „geradeheraus“ zu sprechen, zeigt, wo das eigentliche Problem liegt.
Längst haben sich deutsche Politiker mit der Realität eines möglichen Krieges abgefunden. Sie kämpfen nicht etwa mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln, mit dem hör- und sichtbaren Ausdruck des Entsetzens, gegen eine Politik der Konfrontation an – die eben zu genau dem führen kann, was angeblich verhindern werden soll. Stein um Stein bauen sie vielmehr seit geraumer Zeit jene Realität, aus der zunehmend die Katastrophe des Krieges sichtbar wird.
Wie kann ein deutscher Politiker von 1.000 möglichen getöteten und verwundeten Soldaten an einem Tag sprechen, ohne darauf einzugehen, dass die gesamten Annahmen und Prämissen, die überhaupt dazu führen, dass ein solches Szenario in Betracht gezogen wird, hochgradig manipulativ und propagandistisch kontaminiert sind? Kein Wort zu der in der Ukraine sichtbar werdenden Tiefenpolitik des Westens. Kein Wort davon, dass in der Ukraine auch ein Stellvertreterkrieg stattfindet. Stattdessen teilt er der Öffentlichkeit mit, dass getötete und gefallene Söhne und Töchter dieses Landes „ersetzt“ werden müssten.
Wie darf sich die Öffentlichkeit dieses „Ersetzen“ konkret vorstellen? Was sagt man der Mutter von Thomas oder dem Vater von Christina, wenn ihr Kind auf dem Schlachtfeld zerfetzt wurde? Wie soll da das „Ersetzen“ aussehen?
Und: Wie Politiker mit dem Leben von Bürgern im Kriegsfall umgehen, ist in der demokratischen Ukraine zu bestaunen. Zwangsrekrutierungen auf offener Straße. Wehrpflichtige, die gegen ihren Willen, teils unter dem Einsatz von massiver Gewalt, eingefangen werden.
Wenn hier jetzt schon kalt und technokratisch Politiker von „ersetzt werden“ sprechen: Wie wird es in Deutschland aussehen, wenn Nachschub von – um es im vorherrschenden Geist zu formulieren – „Menschenmaterial“ für die Front benötigt wird?
Titelbild: Mo Photography Berlin/shutterstock.com
Hauptadresse: http://www.nachdenkseiten.de/
Artikel-Adresse: http://www.nachdenkseiten.de/?p=141021