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Titel: Stadtbild-Debatte – wer sich über Symptome streitet, verliert den Blick auf die Ursachen
Datum: 28. Oktober 2025 um 9:06 Uhr
Rubrik: Audio-Podcast, Innen- und Gesellschaftspolitik, Strategien der Meinungsmache, Ungleichheit, Armut, Reichtum
Verantwortlich: Jens Berger
Friedrich Merz macht sich Sorgen über das Stadtbild und hat damit eine Debatte angestoßen, die nun bereits eine Woche andauert und offenbar kein Ende finden will. Das ist gut. Weniger gut ist, dass die Debatte – wie von Merz offenbar ja auch gewünscht – mal wieder einzig und allein um die Migrationsthematik kreist. Insofern ist diese Debatte auch ein Spiegel unserer Zeit – man hat sich mit den Ursachen abgefunden, hinterfragt die größeren sozioökonomischen und gesellschaftlichen Fehlentwicklungen lieber erst gar nicht mehr und schlägt sich dafür aber mit Verve gegenseitig die Köpfe ein, wenn es um die Bekämpfung der Symptome geht; und dies um so lieber, wenn man den Schwarzen Peter der Migration zuschieben kann. Ein Essay von Jens Berger.
Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.
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Es war im Frühjahr 2015. Ich war zu einem Vortrag in Duisburg eingeladen und da die Bahn vor zehn Jahren noch etwas pünktlicher war, habe ich mich entschlossen, den Weg vom Hauptbahnhof zum Veranstaltungsort zu Fuß zurückzulegen. Duisburg ist eine Großstadt mit mehr als 500.000 Einwohnern, dennoch waren die Straßen nahezu menschenleer und immer wieder nahm ich kleine Schatten am Rande meines Weges wahr – Ratten. Ja, das Stadtbild war verheerend. Heruntergekommene Gebäude, kaputte Straßen, sichtbare Armut.
Ich muss dazu sagen, dass mir die Tristesse des Ruhrgebiets nicht neu ist. Meine Großeltern waren das, was man heute wohl als Flüchtlinge und Arbeitsmigranten bezeichnet. Aus dem zerbombten und dann an Polen abgetretenen Schlesien zog es sie unfreiwillig dorthin, wo es nach dem Krieg Arbeit und Wohnraum gab. Als Kind habe ich sie oft in Bochum besucht; eine hässliche Stadt, deren nichtsdestotrotz vorhandenen Charme Herbert Grönemeyer ja im gleichnamigen Hit in den 1980ern besungen hat. Über das Stadtbild hat man sich damals keine großen Gedanken gemacht. Es ist, wie es ist.
Es wäre mir auch neu, dass man damals großartig über die echten Problemviertel Deutschlands debattiert hätte. Wer sich heute über das Bahnhofsviertel in Frankfurt oder die Gegend zwischen Hamburger Hauptbahnhof und St. Georg aufregt, vergisst dabei gerne, dass es dort seit mindestens 30 Jahren genauso prekär aussieht – Junkies, meist schwarze Drogendealer, Elendsprostitution, Beschaffungskriminalität, heruntergekommene Gestalten, massive Polizeipräsenz. Nun könnte man ja die Frage stellen, warum es Frankfurt und Hamburg, zwei der reichsten Städte der Welt, in den letzten Jahrzehnten nicht geschafft haben, dieses Problem zumindest zu entschärfen. Ein Teil der Antwort könnte – um mit einem ehemaligen Innenminister zu sprechen – die Bevölkerung verunsichern: So lange der Bodensatz der Gesellschaft sich in solchen „Hot Spots“ konzentriert, stört er zumindest nicht das Stadtbild in den besseren Vierteln, in denen sich die, die was zu sagen haben, gerne aufhalten. Rassismus ist hierzulande ein großes Thema. Vom offenen Klassismus spricht man nicht so gerne.
Deutschland ist aber mehr als Duisburg, Frankfurt und Hamburg. Hier auf dem Land, wo ich lebe, hat sich das Stadtbild in den letzten Jahrzehnten in der Tat massiv verändert – und das nicht zum Guten. Wo man früher gerne am Wochenende Einkaufen und Flanieren ging und an lauen Sommerabenden Straßencafés und Restaurants aus allen Nähten platzten, herrscht heute gähnende Leere. Nicht erst seit Corona sind die meisten kleinen Läden verschwunden oder sinn- und seelenlosen Franchise-Buden gewichen. Und so sehen sie nun aus, die deutschen Mittelstädte – Fielmann, Douglas, Nordsee, H&M, Tchibo, Bijou Brigitte, Blume 2000 und ein gutes Dutzend Handyläden; austauschbar und belanglos, der Kunde kauft ja eh online. Ob man nun in Goslar, Frankfurt/Oder, Stade, Siegen oder Heppenheim ist, erkennt man erst auf den zweiten Blick.
Uniformität bestimmt das Stadtbild und Armut wird sichtbar. Der brave Bürger aus der Mittelschicht fährt mit seinem SUV in die Shoppingcentren und Malls, die in Gewerbegebieten die sterbende Industrie verdrängt haben oder mit üppigen Fördergeldern irgendwo auf der grünen Wiese entstanden sind. Wer kein Auto, dafür aber einen Überschuss an Tagesfreizeit hat, fährt mit dem Bus zum „Shoppen“ in die Stadt. Und in einer Marktwirtschaft reagiert dann natürlich auch das Angebot auf die wechselnde Nachfrage. Billigläden wir Primark und Co. erobern die Innenstädte, mittelpreisige „Markenboutiquen“ wandern in die Malls und für individuelle oder gar hochpreisige Anbieter gibt es in der Fläche abseits der Metropolen ohnehin keine Nachfrage. Fragt sich nur: Warum soll die Mittelschicht dann überhaupt noch „in die Stadt“ gehen? Und wenn es einen dann doch mal in die Stadt zieht, erlebt man – welch Wunder – einen Kulturschock.
Auftritt Friedrich Merz. Es ist ja auch nicht von der Hand zu weisen, dass das Stadtbild vor allem in den mittelgroßen Städten über die letzten Jahre und Jahrzehnte deutlich migrantischer geprägt ist. Man sollte hier jedoch tunlichst vermeiden, Ursache und Symptom zu verwechseln. Lassen Sie mich an dieser Stelle einmal kurz polemisieren und zuspitzen: Während Klein-Malte von seiner Mama nachmittags vom Klavierunterricht zum Hockey-Training gefahren wird, sitzt Klein-Mohammed in seinem 6-Quadratmeter-Zimmer im Plattenbau und weiß nicht, was er mit sich anfangen soll, und zieht daher mit seinen Kumpels in die Stadt, wo es zumindest etwas zu sehen und zu erleben gibt. Noch einmal: Deutschland hat kein Rassen-, sondern ein Klassenproblem. Wenn Merz und Co. über ein „migrantisches Stadtbild“ lamentieren, meinen sie ja auch nicht die bürgerlichen besseren Viertel unserer Städte, sondern die immer prekäreren Innenstädte. Und lassen Sie uns doch ruhig mal die feuchten Remigratoinsphantasien einiger rechter Demagogen durchspielen: Glauben Sie im Ernst, dass in unseren Innenstädten künftig wieder kleine inhabergeführte Boutiquen oder Bücher- und Musikläden aufmachen, wenn Klein-Mohammed abgeschoben wird? Sicher nicht.
Nun ahne ich schon, dass jetzt einige Leser mit den Hufen scharren. Der feine Herr Berger verschließt sich den Problemen und predigt „linksgrün-versifften“ Eskapismus. Nein, nichts läge mir ferner. Auch bei der Migrationsdebatte gibt es keine einfachen Wahrheiten, egal aus welcher weltanschaulichen Ecke. Wenn man diese Debatten jedoch ehrlich und zielgerichtet führen will, sollte man sie tunlichst trennen. Wir können uns gerne ausführlich und gerne auch kritisch über das Thema Migrationspolitik streiten. Da ist vieles falsch gelaufen und da läuft immer noch sehr viel falsch. Die Probleme der Stadtentwicklung und hier insbesondere die Probleme mit dem prekären Stadtbild sollte man jedoch separat diskutieren und Symptome von den Ursachen trennen.
Die Symptome werden von Politik und Medien rauf und runter diskutiert. Aber was sind denn nun die Ursachen? Sie alle aufzuzählen, würde zweifelsohne den Rahmen sprengen. Einige Ursachen sind technologischer Natur – die Verdrängung des Einzelhandels durch den Onlinehandel und unser verschobenes Freizeitverhalten; wir treffen uns immer weniger im städtischen und immer häufiger im virtuellen Raum, wir gehen nicht mehr ins Kino, sondern schauen Netflix, wir debattieren nicht mehr in der Kneipe oder im Straßencafé, sondern auf X und Facebook. Andere Ursachen sind städtebaulicher Natur – Malls und Shoppingcenter haben die Innenstädte als Einkaufswelten ersetzt. Dann kommen selbstverständlich sozioökonomische Faktoren hinzu – viele Menschen haben gar nicht mehr das Geld, um die notwendigen Margen des stationären Handels mit persönlicher Beratung zu zahlen.
Wir können es uns aber auch noch einfacher machen. Frage Sie sich doch am besten erstmal selbst, wann sie das letzte Mal freiwillig in einer Innenstadt waren und warum sie nicht häufiger dort sind. Liegt es wirklich am migrantischen Stadtbild? Oder liegt es nicht doch eher daran, dass es kaum wirklich überzeugende Gründe für einen Stadtbummel gibt? Sind es die Push- oder kaum mehr vorhandenen Pull-Faktoren? Was war zuerst da? Die Henne oder das Ei? Sind die Städte und mit ihnen das Stadtbild unattraktiver geworden, weil die Mittelschicht die Innenstädte mehr und mehr meidet? Oder meidet die Mittelschicht die Innenstädte mehr und mehr, weil das Stadtbild unattraktiver geworden ist? Oder ist letzten Endes beides der Fall?
Egal wie die Antwort darauf ausfällt – was könnte man, was könnte die Politik, tun, um diese Entwicklung umzukehren? Ganz ehrlich: Mir fällt da nicht viel ein. Wenn ich mir die Situation hier vor Ort anschaue, muss ich zudem anerkennen, dass die Lokalpolitik in Zusammenarbeit mit den regionalen Sparkassen und Volksbanken ja schon einige Projekte gestartet hat. Dazu zählen sehr attraktive Fördermaßnahmen für individuelle Einzelhandels- und Gastronomiekonzepte, die einfach nur darauf abzielen, den Leerstand zu verringern und die Innenstädte zumindest etwas attraktiver zu machen. Betriebswirtschaftlich sind das jedoch leider meist Totgeburten. Und wenn gar nichts mehr hilft, stellt man hier die leeren Schaufenster halt jungen Künstlern zur Verfügung, die so das morbide Bild der ehemaligen Einkaufsstraßen zumindest etwas beleben. Aber der große Wurf ist das alles natürlich nicht.
Vielleicht ist das Sterben der Innenstädte ja eine mehr oder weniger logische Entwicklung des technischen Fortschritts. Wären die Innenstädte in ihrer damaligen Form als Einzelhandelszentren und soziale Treffpunkte überhaupt entstanden, wenn es schon immer Amazon gegeben hätte und wir schon immer online mit Freund und Feind hätten debattieren können? Sicher gibt es auch zahlreiche gute Ideen, um die Innenstädte wieder zu beleben und der Zeitgeist ist ja auch nicht in Stein gemeißelt und vielleicht ist es in zehn oder zwanzig Jahren ja auch völlig out, sich mehr mit seinem Smartphone als mit seinen realen Freunden zu beschäftigen. Vielleicht setzt sich ja auch durch pure Verzweiflung die Ansicht durch, dass man bei der Stadtplanung die kapitalistische Logik überwinden und den innenstädtischen Raum künftig als soziale Begegnungsfläche für Jung und Alt, Arm und Reich, biodeutsch und migrantisch gestalten sollte und dies auch finanziell als Aufgabe der Gesellschaft definiert?
Lassen Sie uns vielleicht an dieser Stelle sogar einmal über den Tellerrand hinausblicken und ein wenig querdenken. Sind nicht eigentlich alle der genannten Ursachen sozioökonomischer Natur? Ist nicht schlussendlich die relativ und oft sogar absolut schwindende Massenkaufkraft die eigentliche Ursache für den Niedergang der Städte und des Stadtbilds? Ich kann mich ja täuschen, aber wenn ich mir beispielsweise die Innenstädte in Ländern mit gerechterer Einkommens- und Vermögensverteilung, wie beispielsweise Dänemark, Norwegen oder auch den Niederlanden anschaue, erkenne ich schon qualitative Unterschiede zum oft heruntergekommenen Deutschland. Und auch hier gibt es qualitative Unterschiede, wie nicht zuletzt ein Vergleich der Innenstädte des Ruhrgebiets mit den immer noch vergleichsweise intakten Innenstädten Bayerns zeigt. Kann man die Debatte am Ende also auf den Spruch “It´s the economy, stupid“ herunterbrechen?
Sie sehen, die Probleme sind vielschichtig und komplex. Die Antworten darauf können daher nicht einfach sein. Die gesamte Debatte auf eine Migrationsdebatte zusammenzustreichen, ist weder hilfreich noch zielführend. Aber das interessiert Politik und Medien natürlich nicht. Das Thema Migration bringt Klicks und Quote, das Thema Migration bringt Wählerstimmen – von beiden Seiten wohlgemerkt. Und das Schönste ist: Das Thema Migration ist ein hervorragendes Ablenkungsthema. Der abstiegsbedrohte „rechte“ Boomer fühlt sich nicht mehr ganz so bedroht, wenn er nach unten treten und die Migranten für seine Perspektivlosigkeit verantwortlich machen kann. Der prekäre „linke“ Jungakademiker, der sich dank horrender Mieten und mieser Löhne gar nicht die Perspektiven in seinem Leben aufbauen kann, die der Boomer bedroht sieht, fühlt sich gleich viel schöner ausgebeutet, wenn er zumindest moralische Überlegenheit demonstrieren kann. So gesehen hat Friedrich Merz Instinkt bewiesen. Denn eins ist sicher: Solange „wir“ uns gegenseitig die Köpfe über die Symptome einschlagen, wird sich an den Ursachen unserer Misere nichts ändern.
Titelbild: Christian Schwier/shutterstock.com
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