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NachDenkSeiten – Die kritische Website
Titel: „Wir sollten keine Angst vor den Bürgern haben“
Datum: 1. Dezember 2025 um 12:00 Uhr
Rubrik: Bundestag, Erosion der Demokratie
Verantwortlich: Redaktion
Eine politische Entscheidung der Bundestagspräsidentin Julia Klöckner (CDU) lief von der Öffentlichkeit weitestgehend unbemerkt über die Bühne. Sie schloss die sogenannte Stabsstelle für Bürgerräte im Bundestag – aus ökonomischen Gründen, wie es hieß. Bürgerräte als Form der Beteiligung an Politik auf nationaler Ebene sind demnach derzeit nicht mehr vorgesehen. Der SPD-Parlamentarier Helge Lindh möchte daran festhalten, wie im öffentlich-rechtlichen Deutschlandfunk (DLF) in einer hörenswerten Sendung zu erfahren war. Lindh forderte zum Umdenken auf. Die Akteure des professionalisierten Politikgeschäfts sollten vom hohen Ross steigen. Wenn die Menschen der Politik nicht mehr vertrauten, müsste die Politik umso mehr den Menschen vertrauen. Ein Zwischenruf von Frank Blenz.
Zunächst: Mehr davon, und zwar von dem: So, wie viele Bürger die große Politik und den Staat mit seinen drei Gewalten zu unser aller Nutzen zunehmend kritisieren und sich abwenden, so haben viele Bürger auch ein angespanntes Verhältnis zur vierten Gewalt, den Medien. Die öffentlich-rechtlichen Medien, Rundfunk, Fernsehen sowie weitere Angebote kommen ihrem Auftrag nicht entsprechend nach, lautet der fortwährende Vorwurf. Wie Medien ihrem Auftrag gerecht werden können, zeigte jetzt eine Sendung des Deutschlandfunks (DLF). Thema war die Abschaffung einer Institution für Bürgerräte und der Widerstand gegen diese Entscheidung. Geradezu wie Frischluft mitten im muffigen Medienalltag der Gefolgschaft hinter der etablierten politischen Klasse hörte sich der Beitrag an, der mit einem konstruktiven wie kritischen Interview gekrönt wurde. Ja, mehr davon.
Der erste Bürgerrat des Bundestages (!) ist Geschichte
Die alte Regierungskoalition, die sogenannte Ampel, hatte die Idee der „Bürgerräte“ erstmals in die Realität umgesetzt – nach viel Widerstand, Bedenken, Abwinken. Schließlich einigte sich die Regierung doch auf das erste Thema, das ausgeloste Bürger in ihrem Rat behandeln durften: „Ernährung im Wandel“. Tatsächlich nahmen die 160 Bürger ihren Auftrag sehr ernst und schlugen den Regierenden unter anderem vor: kostenloses Mittagessen für Kitas und Schulen, Streichung der Mehrwertsteuer für Obst und Gemüse sowie eine staatliche, transparente Kennzeichnung im Hinblick auf den Klimaschutz. Das Dilemma: Der Bürgerrat durfte beratend agieren, die Regierung war jedoch nicht zu einer Umsetzung verpflichtet. Und ja, Beschlüsse in die empfohlene Richtung wurden auch keine gefasst. Na gut – schön, dass wir wenigstens mal darüber geredet haben.
Die neue Regierung ist im Amt, und Bundestagspräsidentin Julia Klöckner (CDU) machte Nägel mit Köpfen. Weil dem ersten Bürgerrat kein zweiter folgte (mangels eines Themas!), schloss die Bundestagspräsidentin die für den Rat zuständige Stabsstelle (Koordination und Betreuung) und damit die Tür für einen zweiten Bürgerrat. Und das, obwohl Bürgerräte des Bundestages samt Stabsstelle im aktuellen Koalitionsvertrag festgeschrieben sind. So heißt es auf Seite 58:
Ergänzend zur repräsentativen Demokratie setzen wir dialogische Beteiligungsformate wie zivilgesellschaftliche Bürgerräte des Bundestages fort.
DLF-Moderator konstatiert: Das Volk traut den Politikern zunehmend nicht mehr
In der DLF-Sendung „Informationen am Mittag“ vom 27. November 2025 moderierte Redakteur Friedbert Meurer den Beitrag über politische Beteiligung der Bürger und die Schließung der Stabsstelle für Bürgerräte ernüchternd an. Meurer konstatierte, dass immer weniger Deutsche der parlamentarischen Demokratie, dem politischen Geschäft der gewichtigen wie mächtigen Akteure trauten. Meurer unterlegte das mit zwei Zahlen aus einer Umfrage, die überdies typisch wie tragisch beschreibend für den Zustand unseres Landes ist: In Westdeutschland hätten nur noch 56 Prozent Vertrauen in die Politik, in Ostdeutschland gerade mal noch 28 Prozent. Dass Deutschland in Sachen „Politikvertrauensumfrage“ geteilt behandelt wurde und die ständige Teilung damit gehegt und gepflegt wird, sei hier nebenbei erwähnt.
Warum das Vertrauen in die Politik schwindet, was das mit der Beschädigung der Demokratie zu tun hat und was zu tun sei, wurde im Interview mit dem SPD-Parlamentarier Helge Lindh konkret am Beispiel Bürgerrat angesprochen. Eine Frage Meurers lautete:
Warum soll es der Demokratie helfen, wenn es einen Bürgerrat gibt? Wir haben doch einen Bundestag.
Lindh antwortete:
Weil dieses Denken, wir verlieren etwas, wenn wir mehr Demokratie wagen in Form solcher Beteiligung, aus meiner Sicht nicht richtig ist. Es wäre Ausdruck der Stärke der repräsentativen Demokratie, dass sie sich dieses Know-how dazuholt. Es ist ja gar kein Zweifel, dass wir auch Bürgerinnen und Bürger sind, aber wir sind, wenn wir ehrlich sind, jetzt im Parlament nicht normale BürgerInnen, weil wir sehr stark politisch professionalisiert und geprägt sind. Der Witz dieser Bürgerräte ist aber – und das ja nicht die Lösung für die Probleme der Demokratie, aber ein Baustein, sind geloste Bürger aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Schichten, unterschiedlich weltanschaulich gepolt, aus verschiedenen Bundesländern, die sehr verschiedene Meinungen haben und einander diese Meinungen zumuten. Und das ist wie eine Art Schule von Kompromiss und Meinungsbildung in einer Zeit, in der wir eher geübt sind, Polarisierung zu inszenieren und die Unfähigkeit, Meinungen anderer zu ertragen. Da finde ich, dass das schon einen Mehrwert hat gegenüber unserer parlamentarischen Praxis.
(Quelle: DLF)
Bloß das Parlament vor der Bürgerschaft schützen ist Zeichen von Anmaßung
Das DLF-Gespräch verriet, dass professionalisierte Politiker den einfachen Bürgern Teilhabe nicht zutrauen oder sie vorsorglich außen vor lassen – ein zweiter Bürgerrat wurde deshalb trotz Eintrags im aktuellen Koalitionsvertrag nicht angegangen. Politiker halten sich damit nicht an selbst Verabredetes. So das Parlament vor der Bürgerschaft zu schützen, ist zudem nur mehr ein weiteres Zeichen von Anmaßung. Lindh, der Parlamentarier, gab sich nicht damit zufrieden und schrieb den Kollegen ins Stammbuch:
Wir dürfen nicht Angst vor den Bürgern haben und gerade in einem Moment, wo viele dem Bundestag und der organisierten Politik nicht vertrauen, besonders den Menschen vertrauen.
Dieses Vertrauen der Politiker dokumentierte sich dann auch in der Akzeptanz eines Bürgerrates im Bundestag. Doch wehe, wenn nichts, gar nichts davon umgesetzt wird, was vorgeschlagen wird. Dann verschwindet tatsächlich das Vertrauen der Bürger, warnte Lindh zu Recht. Ja, das Gremium ist ein beratendes Organ (Bürgerrat) und der Bundestag kann, muss aber nicht umsetzen, was besprochen wurde. Doch so einfach sollte das hohe Haus, sollten die professionalisierten Politiker nicht davonkommen. Mindestens eine sogenannte „Befassungspflicht“ mit den Vorschlägen der Bürger muss installiert werden, transparent und kontrovers begleitet von den Medien, der Öffentlichkeit. Das schafft Vertrauen und davon noch mehr, wenn den berechtigten Interessen der Bürger entsprochen wird und sie nicht als dröge, unmündige, hin und her regierbare Masse behandelt werden.
Traurige Realität ist die fehlende Bereitschaft der Politik, Macht abzugeben
Ernüchternd wird von Kritikern festgestellt, dass Bürgerräte nur beratend tätig seien und nichts entscheiden könnten. Demokratie als Spiel, als Show? Ja, denn kritisiert wird, dass solche Räte als Alibi-Instrument betrachtet werden. Die Folge? Die Politikverdrossenheit wird nur noch verstärkt. Bürger erleben, dass die Politik auf dem hohen Ross sitzt und meint, ihren Job schon ordentlich im Rahmen der repräsentativen Demokratie im Parlament zu erledigen, und gut. Gut?
Nochmal zum Stichwort kostenloses Mittagessen. Über Aufrüstung, Einführung der Wehrpflicht, über Mindestlohn, über einen Mietdeckel, über faire Preise und so weiter und so fort entscheiden ohnehin die Akteure der repräsentativen Politik. Behauptet wird, ihr Handeln geschehe gemäß dem Amtseid. Viele Bürger sehen anderes. Und wenn sie schon mal in einem Rat sitzen, kommen mit einem Mal Forderungen auf die Tagesordnung, die die große Politik vom Tisch fegt. Das Thema kostenloses Essen für Kinder und Jugendliche steht seit vielen Jahren auf der Liste „Das ist zu erledigen“. Bis heute hat das reiche Deutschland dies nicht erledigt. Bevor der erste Bürgerrat wieder Geschichte war, wurde zumindest diese Empfehlung zu Protokoll gebracht.
Bürgerräte sind ein wichtiges und modernes Instrument der Demokratie – wenn man sie lässt
Der Bundestags-Bürgerrat ist zwar vorerst Geschichte, doch zumindest im Land wächst die Zahl solcher Gremien. Sie sind praktische Institutionen, die bei Einbeziehung und Achtung in politische Entscheidungen vielleicht das verloren gegangene Vertrauen in die Demokratie neu bilden helfen. Dass das geht, zeigen Beispiele in Kommunen und in Bundesländern, wo kontrovers und konstruktiv politische Fragen behandelt werden, soziale Themen, Kinder- und Jugend, Teilhabe, Kultur, Infrastruktur und so weiter. Derlei vielfältige Aktivitäten zeigen, dass viele Bürger nicht politikverdrossen sind, wenn man sie teilhaben lässt. Der Bundestag kann statt Äußerungen des Zweifels an Bürgerräten als Beitrag zum Entscheidungsprozess solche Teilhabe gut vertragen. In einem früheren Beitrag des DLF findet sich dazu Folgendes:
Die Kritik an Bürgerräten greift deswegen vor allem ihre Rolle im politischen System auf. Durch die Räte werde „die Bedeutung von Parlamenten unterminiert“, sagt etwa die CDU-Abgeordnete Gitta Connemann:
„Der Bundestag kann jederzeit Experten aus Wissenschaft und Gesellschaft befragen. Es braucht keine Alibi-Parlamente, die per Los zusammengewürfelt werden.“
(Quelle: DLF)
Doch, der Bundestag braucht jedwede Mitwirkung. Alle Macht geht vom Volk aus.
Nachtrag: Wie würden eigentlich Bürgerräte in Sachen Neuauszählung der Bundestagswahl entscheiden? Wie wäre die Empfehlung eines Bürgerrates in Sachen Corona-Aufarbeitung ausgefallen – für einen unbequemen Untersuchungsausschuss oder für eine zahnlose Enquetekommission?
Titelbild: oatawa/shutterstock.com
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