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Titel: Sahra Wagenknecht im NachDenkSeiten-Interview: Über Kriegstreiberei, soziale Spaltung und den nötigen Kurswechsel
Datum: 5. Dezember 2025 um 12:00 Uhr
Rubrik: Audio-Podcast, Interviews
Verantwortlich: Redaktion
Sahra Wagenknecht sprach kurz vor dem 3. Bundesparteitag des Bündnisses Sahra Wagenknecht am 6. und 7. Dezember in Magdeburg mit den NachDenkSeiten über die zukünftige Ausrichtung der Partei und ihre Kritik an den politischen Eliten in Deutschland. Sie erläutert, wie die Merz-Regierung und die Ampel-Parteien durch Kriegstreiberei, Aufrüstung und die Dämonisierung von Gegnern Ängste schüren, statt die wachsende Armut und die Sorgen des Mittelstands in den Blick zu nehmen. Wagenknecht positioniert sich klar zum sinnlosen Krieg in der Ukraine, zur deutschen Beihilfe zum Völkermord in Gaza und zu dringend nötigen Reformen in Bildung, Gesundheit und Rente. Zudem warnt sie vor Angriffen auf Meinungsfreiheit und demokratische Grundregeln – und erklärt, warum die Politik der Ausgrenzung letztlich die AfD gestärkt hat. Das Gespräch führte Michael Holmes.
Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.
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Michael Holmes: Hallo, mein Name ist Michael Holmes. Ich bin freier Journalist und es ist mir ein großes Vergnügen, heute mit Sahra Wagenknecht zu sprechen. Frau Wagenknecht, ich muss Sie bei den NachDenkSeiten wirklich nicht vorstellen; Sie sind hier ja so ein bisschen zu Hause und genießen sehr viele Sympathien.
Ich möchte Sie zuallererst fragen, wie es mit der Neuauszählung aussieht. Viele Experten sind der Ansicht, dass Sie es eigentlich über die Fünf-Prozent-Hürde geschafft haben. Das wäre ja eine eklatante Verletzung Ihrer demokratischen Grundrechte. Wie schätzen Sie die Lage ein?
Sahra Wagenknecht: Natürlich kann niemand hundertprozentig sagen, dass wir mehr als fünf Prozent der Stimmen hatten. Dafür müsste man neu auszählen. Aber was wir wissen, ist: Das Ergebnis ist extrem knapp. Wir hatten bei ganz wenigen Überprüfungen im Vorfeld des amtlichen Endergebnisses 4.200 Stimmen dazugewonnen. Das heißt, diese Stimmen wurden gefunden, nachdem sie vorher anderen Parteien zugeordnet oder als ungültig gewertet worden waren. Wenn man weiß, dass diese Überprüfung in noch nicht einmal zehn Prozent der Wahllokale stattfand, kann man davon ausgehen: Würde man großflächiger überprüfen – also in allen Wahllokalen –, würden mit fast an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit mehr als 9.500 Stimmen zutage treten. Die Fehler, die dort gemacht wurden, sind sichtbar auch in anderen Wahllokalen gemacht worden, wo man bisher nicht nachgeschaut hat.
Man will deshalb ja auch nicht nachschauen. Das muss man wirklich dazu sagen. Wenn der Bundestag davon ausgehen würde, dass wir sehr wahrscheinlich keine fünf Prozent haben, hätten sie längst die Weichen gestellt. So eine Neuauszählung ist keine Raketenwissenschaft; das ist nichts Besonderes. Das dauert ein paar Tage, vielleicht zwei oder drei, wenn es hochkommt. Aber sie wollen es nicht, genau weil sie Angst haben, dass dann die Mehrheit der Kanzlerkoalition nicht mehr steht und ihre Mandate verloren gehen. Es ist wirklich empörend, dass man in Deutschland so kämpfen muss, um ein korrektes Wahlergebnis zu bekommen.
Michael Holmes: Das ist meines Erachtens eine der eklatantesten Verletzungen freier und fairer Wahlen in Deutschland seit 1945.
Lassen Sie uns zur Neuausrichtung der Partei kommen, auch im Hinblick auf den kommenden Parteitag. Ich habe den Eindruck – und das spiegeln auch Meinungsumfragen wider –, dass Sie thematisch eigentlich noch sehr viel mehr Erfolg haben müssten. Sie werden in den Leitmedien oft als eine Mischung aus Rechts- und Linkspopulismus dargestellt.
Wäre es für die Partei nicht erfolgversprechender, wenn Sie sich noch stärker als die einzige linke Partei der bürgerlichen Mitte darstellen würden? Sie treten ein für klassische sozialdemokratische Werte, eine dynamische Marktwirtschaft, einen klugen und großzügigen Wohlfahrtsstaat sowie für Entspannungspolitik und Frieden. Gleichzeitig lehnen Sie die „Woke-Linke“ ab, treten aber für die Rechte von LGBT und Frauen ein. Wäre diese Positionierung als „linke Mitte“ – da die SPD und Grünen das nicht mehr abdecken – nicht zielführender?
Sahra Wagenknecht: Das Problem ist, dass viele Menschen in Deutschland mit dem Label „links“ – genauso wie mit dem Label „rechts“ – Dinge verbinden, die mit der klassischen Besetzung dieser Begriffe wenig zu tun haben. Für viele ist heutzutage „links“ tatsächlich ein Feindbild geworden. Nicht, weil sie gegen soziale Gerechtigkeit sind oder für Sozialkürzungen, sondern weil sie damit völlig ideologische, überzogene Klimaziele, offene Grenzen für alle und eine Sozialpolitik verbinden, die nicht in erster Linie denen hilft, die es wirklich brauchen, sondern quasi aus dem Vollen schöpft. Dazu kommen banale Dinge, wie der Umgang mit der Sprache oder dem Geschlecht. All das verbinden die Menschen heute mit „links“.
Das hat mit dem klassischen Anspruch linker Politik – diejenigen zu vertreten, die es schwer haben, die aus ärmeren Verhältnissen kommen, und sich für gute Bildungschancen und Aufstiegschancen einzusetzen – kaum noch etwas zu tun.
Umgekehrt hat die „Woke-Linke“ – damit meine ich primär die identitätspolitische Linke – tatsächlich alles dafür getan, das Label „rechts“ wieder populär zu machen. Denn was wird heute als rechts bezeichnet? Wenn man für Diplomatie und Verständigung eintritt, gilt das als rechts. Die Brandmauer gegen die AfD wird ja kaum noch damit begründet, dass es dort Rechtsextremisten gibt, sondern man sagt: „Die sind böse, weil sie Gesprächskanäle zu Russland haben.“ Oder es wird als rechts dargestellt, wenn man für eine vernünftige Migrationspolitik ist – also nicht Ausländerhass, sondern Steuerung. Ich wurde von Anfang an als AfD-nah dargestellt, weil ich frühzeitig gesagt habe: Bei zu großen Zahlen bekommen wir Parallelgesellschaften und Probleme im Bildungssystem. Und genau das haben wir bekommen.
Auch die Forderung nach preiswertem Öl und Gas für unsere Industrie und damit die Menschen ihr Geld für schöne Dinge statt für teure Energie ausgeben können, wurde als rechts diffamiert. Man hat es damit geschafft, das Label „rechts“ in Deutschland wieder populär zu machen. Das ist entsetzlich. Als die AfD angetreten ist, hat sie sich ausdrücklich nicht als rechte Partei bezeichnet, weil das damals negativ besetzt war. Heute sagt die AfD: „Ja klar, wir sind rechts“, weil viele Leute denken, rechts sei etwas Gutes. Deswegen finde ich, wir sollten diese Label nicht mehr benutzen, da sie nur Missverständnisse erzeugen.
Wir sind mit vier Grundsäulen in unserem Gründungsmanifest angetreten: Erstens eine ganz klare Friedenspolitik. Rückkehr zur Entspannungspolitik und Schluss mit dem Wahnsinn, Deutschland zur größten Militärmacht Europas machen zu wollen oder „kriegstüchtig“ zu werden. Die Vorstellung, ein Krieg gegen eine Atommacht sei führbar, ist völlig irre. Das ist eigentlich klassisch sozialdemokratisch. Früher warb die Rechte für Militarismus und die Linken für Verständigung; heute ist das anders besetzt.
Zweitens eine vernünftige Wirtschafts- und Energiepolitik. Wir müssen die Industrie und die gut bezahlten Arbeitsplätze in Deutschland halten. Den Aktionären ist es im Zweifel egal, wo produziert wird – die Chemieindustrie geht in die USA, die Autoindustrie verlagert –, aber die Menschen hier verlieren ihre Jobs.
Drittens soziale Gerechtigkeit. Das ist einerseits Leistungsgerechtigkeit, die mit den heutigen Verteilungsverhältnissen nichts zu tun hat. Wir sind keine Leistungsgesellschaft, wenn sich oben Erbdynastien verfestigen und unten Kinder aus ärmeren Verhältnissen keine Bildungschancen mehr haben. Dazu gehören gute Renten und Löhne. Die SPD hat wesentlich dazu beigetragen, dass dies alles kaputt gemacht wurde.
Viertens die Verteidigung individueller Freiheit und Meinungsfreiheit. Wir grenzen uns von dem ab, was heute oft als links wahrgenommen wird. Schon in der Corona-Zeit war das skurril: Die Partei Die Linke forderte als erste eine Impfpflicht. Die Grünen waren die vehementesten Vertreter von Lockdowns und Meldestellen. Diese „Cancel Culture“, die darauf hinausläuft, unerwünschte Meinungen aus der Debatte zu entfernen, ist ein neuer Autoritarismus. Der kommt nicht nur von rechts, sondern leider auch von Grün und der modernen Linken. Demokratie lebt von einer breiten Debatte.
Ein großes Missverständnis, das oft gegen Sie verwendet wird, betrifft die Außenpolitik. Es gibt diese Erzählung vom Kampf der „guten Demokratien“ gegen die „bösen Autokratien“. Wenn man sich für Frieden einsetzt, wird einem schnell unterstellt, man sympathisiere mit Putin, der Hamas, dem Iran oder Xi Jinping. Wäre es nicht wichtig klarzustellen: Wir treten für Demokratie und Menschenrechte ein, und sind froh, in einer westlichen Demokratie zu leben, aber Außenpolitik ist ein anderes Thema? Dass ein besseres innenpolitisches System nicht bedeutet, dass wir zur Eskalation beitragen sollten?
Wir treten vor allem dafür ein, dass dies konsequent gelebt wird. Was Sie schildern, ist eine völlig verlogene Doppelmoral. Die gleichen Leute, die skrupellos Waffen an Israel liefern, die zur Ermordung von Palästinensern eingesetzt werden und dort Kriegsverbrechen unterstützen, gerieren sich in der Ukraine-Frage als die Guten, die alles tun müssen, damit sich ein überfallenes Land verteidigen kann.
Natürlich ist es entsetzlich, was an der ukrainischen Front geschieht und wie die Zivilbevölkerung leidet, wenn es keinen Strom, kein Wasser und keine Heizung gibt. Aber das beendet man nicht durch immer mehr Waffenlieferungen. Eine leise Hoffnung gibt es jetzt, wenn man sich diplomatisch bemüht, die Interessen beider Seiten zusammenzubringen.
Der Friedensvorschlag von Donald Trump – wie immer seine Motive sein mögen – wäre wahrscheinlich ein ausgewogener Vorschlag gewesen, um den Krieg zu beenden. Aber die Europäer, auch die deutsche Politik unter Herrn Merz, haben nichts Besseres zu tun, als diesen Vorschlag verbal zu zerschießen. Man nimmt alles heraus, was den Krieg ausgelöst hat – wie die Neutralität der Ukraine oder den Verzicht auf westliche Truppen –, und glaubt, man könnte den Krieg trotzdem beenden.
Wenn man einen Krieg diplomatisch beenden will, muss man die Interessen beider Seiten in Übereinstimmung bringen. Die Ukraine hatte in Istanbul noch eine viel stärkere Verhandlungsposition. Inzwischen hat sich die militärische Situation zu ihren Lasten verändert; die Russen sind auf dem Vormarsch. Zu glauben, dass die Russen jetzt einen Vertrag unterschreiben, der völlig mit ihren Kriegszielen kollidiert, ist illusorisch. Man muss ihre Ziele nicht teilen, aber man muss sich in ihre Lage versetzen. Sonst werden weiter junge Männer sterben.
Sie sprechen von einer Heuchelei in der Debatte um „Demokratie gegen Autokratie“. Es ist völlig verlogen. Wir kaufen kein Öl und Gas mehr von Russland, weil es Krieg führt. Aber wir kaufen demnächst – danke, Frau von der Leyen – für Milliarden Euro amerikanisches Fracking-Gas. Die USA haben über 250 Militärinterventionen durchgeführt, darunter brutale Kriege wie im Irak. Niemand würde sagen, wir dürfen keine Geschäftsbeziehungen mehr mit den USA pflegen. Aber dann so zu tun, als sei der Russe der Urfeind, ist einfach Lüge.
Wenn wir uns die Entwicklung in Deutschland ansehen, droht uns ein zunehmend autoritäres System nicht, weil Putin durch das Brandenburger Tor marschiert, sondern weil es diesen Trend im Inneren gibt. Politiker, die sich als große Demokraten inszenieren, schränken Meinungsfreiheit ein oder verweigern korrekte Wahlergebnisse. Dafür ist nicht Putin verantwortlich, das sind unsere Politiker.
Ich bin viel gereist im Globalen Süden. Früher begegnete man Deutschland mit Skepsis, aber Sympathie, als einer Macht, die zumindest teilweise für Frieden eintritt. Seit Gaza ist das weg. Ich glaube, die meisten Deutschen haben keine Ahnung, wie sehr unser Ansehen in der Welt verlorengegangen ist. Dass wir im Namen der Staatsräson Beihilfe zum Völkermord leisten, ist mir unverständlich. Wie sehen Sie die historische Aufarbeitung? In der Ukraine-Frage scheint es keine Rolle zu spielen, dass die Wehrmacht 27 Millionen Sowjetbürger getötet hat.
Die richtige Lehre aus unserer Geschichte wäre, dass wir bei Kriegsverbrechen nie die Hand reichen und keine Waffen liefern dürfen. Damit wäre klar, dass wir Israel keine Waffen mehr liefern dürfen. Und es ist eine Lehre, dass man Kriege meist nicht mit Waffen beendet. Der Zweite Weltkrieg wird immer als Beispiel genannt, aber Putin ist nicht Hitler. In Russland gibt es keine Gaskammern zur industriellen Vernichtung von Juden. Solche ständigen Hitler-Vergleiche relativieren die beispiellosen Verbrechen des Nationalsozialismus.
In Russland gibt es keine blühende Demokratie, aber in welchen Ländern gibt es die? Wir pflegen enge Wirtschaftsbeziehungen zu den Golfstaaten, wo die Opposition geköpft und ausgepeitscht wird. Wo ist es denn so viel anders jenseits der westlichen Demokratien?
Es wurde in Deutschland wieder ein Feindbild etabliert: „Der Russe“. Der ist kein Europäer mehr, der ist ein Barbar. Dabei ist Russland kulturell ein stark europäisches Land – Literatur, Musik, Kunst. Ohne „den Russen“, sprich ohne Gorbatschow, hätte es keine deutsche Wiedervereinigung gegeben. Das zu vergessen, ist gefährlich. Wenn es noch einmal einen Krieg zwischen der NATO und Russland gäbe, würde in Europa kaum ein Mensch überleben.
Kommen wir zur Innenpolitik. Ungleichheit und Armut haben in den letzten 20 bis 30 Jahren zugenommen. Was wären Ihrer Ansicht nach die wichtigsten drei Gegenmaßnahmen? Was sollten wir zuerst tun?
Das Entscheidende sind die Bildungs- und Aufstiegschancen. Armut wird oft nur über die Höhe des Bürgergeldes diskutiert. Das ist wichtig für die, die darauf angewiesen sind, aber viel wichtiger ist die Frage: Haben Kinder ärmerer Eltern eine Aufstiegschance? In der alten Bundesrepublik gab es millionenfachen sozialen Aufstieg. Diese Chancen sind weitgehend gekappt worden.
Wir haben ein zweigeteiltes Bildungssystem. Schulen in wohlhabenderen Vierteln funktionieren noch einigermaßen. Aber in ärmeren Vierteln sind die Grundschulen komplett überfordert, oft auch durch hohe Migration. Wenn 60 bis 70 Prozent der Kinder kein Deutsch können, ist Unterricht nicht möglich. Wir bräuchten ein verpflichtendes Vorschuljahr und eine bessere Ausstattung dieser Schulen. Stattdessen haben genau diese Schulen oft das wenigste Personal. Wir bilden Kinder heran, die in der zehnten Klasse nicht rechnen und schreiben können. Diese Jugendlichen haben keine Chance; sie werden sich ein Leben lang zwischen Bürgergeld und Hilfsarbeit bewegen.
Wenn Herr Merz die Leistungsethik beschwört, muss man sagen: Wenn jede Anstrengung nur bedeutet, dass ich von meinem Lohn die Miete nicht zahlen kann, wozu soll ich mich dann anstrengen? Und am anderen Ende der Skala erben die Privilegierten so viel, dass sie sich gar nicht mehr anstrengen müssen.
Der zweite Punkt ist die Altersarmut. Wir haben vier Millionen arme Kinder, aber wir haben auch zunehmend arme alte Menschen, die ihr Leben lang geschuftet haben und mit Hungerrenten abgespeist werden. Die aktuelle Rentenpolitik ist an Zynismus nicht zu überbieten. Es wird behauptet, wir würden zu viel Geld für Rentner ausgeben, dabei sind unsere Ausgaben im Verhältnis zur Wirtschaftsleistung in den letzten Jahren gesunken, obwohl es mehr Rentner gibt.
Unsere Lösung ist das österreichische Rentensystem: Alle zahlen ein – Politiker, Beamte, Selbstständige und Arbeitnehmer. Alle bekommen aus dem gleichen Topf ihre Rente. In Österreich zahlt ein durchschnittlicher Beschäftigter etwa 38 Euro mehr im Monat, erhält aber am Ende 800 Euro mehr Rente. Das würde alte Menschen aus der Armut und der demütigenden Abhängigkeit holen.
Der dritte Punkt ist eine ordentliche Arbeitslosenversicherung. Seit Hartz IV fällt man nach Jobverlust sehr schnell sehr tief. Das Bürgergeld ändert daran nichts Grundlegendes. Die Reform richtet sich faktisch gegen die Hunderttausenden, die jetzt in der Industrie ihren Job verlieren. Nach einem Jahr fallen sie in die Grundsicherung: Das Ersparte wird angerechnet, der Lebensstandard bricht zusammen. Wir brauchen eine Arbeitslosenversicherung, die wieder länger schützt und sich am letzten Einkommen orientiert.
Da wird man Sie natürlich fragen: Woher wollen Sie das ganze Geld nehmen? Es gibt natürlich einfache Möglichkeiten. Die Reichen und Superreichen müssen endlich angemessene Steuern zahlen, ebenso die großen Konzerne.
Die Erbschaftsteuer ist in Deutschland inzwischen eine Mittelschichtssteuer; die wirklich Reichen zahlen kaum etwas, obwohl sich dort das Vermögen konzentriert. Auch Kapitaleinkommen werden viel niedriger besteuert als Einkommen aus eigener Arbeit. Das ist ungerecht.
Zweitens: Wir sollten nicht aufrüsten. Wir geben irre Summen für Militär aus, die wir in Bildung und Infrastruktur stecken könnten.
Beim Gesundheitssystem liegt das Problem oft gar nicht am fehlenden Geld – wir haben das zweitteuerste System der Welt –, sondern an der Privatisierung und den Renditeerwartungen. Krankenhäuser müssen Gewinne machen, was Anreize für teure Operationen statt sinnvoller Behandlungen setzt. Wir zahlen Mondpreise für Medikamente. Würden wir diese Fehlanreize beseitigen, könnten wir sogar Geld sparen.
Lassen Sie uns noch einmal zur Aufrüstung kommen. Es gibt diesen Widerspruch in der hiesigen Debatte: Einerseits heißt es, die Ukraine gewinnt den Krieg, andererseits soll Russland erst Polen, dann ganz Europa angreifen. Ist die Aufrüstung wirklich notwendig, um uns vor Russland, China oder dem Iran zu schützen?
Man muss sich nur die konventionellen militärischen Fähigkeiten ansehen. Die NATO ist Russland in allen Kategorien weit überlegen: Wir haben mehr Panzer, mehr Kampfjets und mehr Soldaten. Die NATO hat über drei Millionen aktive Soldaten, Russland etwa 1,2 Millionen. Die NATO ist der mächtigste Militärblock der Welt.
Den Leuten weiszumachen, wir müssten noch überlegener sein, damit Russland uns nicht angreift, ist absurd. Ein russischer Angriff auf die NATO wäre militärischer Selbstmord. Diese Aufrüstung hat nichts mit militärischer Notwendigkeit zu tun, sondern ist ein riesiges Geschäft für die Rüstungsindustrie. Die NATO-Osterweiterung wurde wesentlich von Lobbyisten der US-Rüstungsindustrie vorangetrieben, deren Umsätze nach dem Kalten Krieg eingebrochen waren. Man hat Konflikte angeheizt, vor denen kluge Leute wie George Kennan gewarnt hatten, um Märkte zu schaffen.
Man unterstellt Ihnen oft eine gewisse Nähe zur AfD, weil Sie gegen die “Brandmauer” sind und fordern, mit der AfD zu sprechen, statt sie auszugrenzen. Wirkt das nicht so, als würden Sie sich für die AfD einsetzen?
Das ist keine Nähe, sondern eine Verteidigung demokratischer Spielregeln. In Deutschland wird oft nicht mehr gefragt, ob eine Position richtig ist, sondern wer sie vertritt. Wenn die AfD für Entspannung wirbt, darf man als “Guter” scheinbar nicht mehr dafür sein. Damit schenkt man der AfD ein Image als Friedenspartei, das sie gar nicht verdient.
Viele wissen nicht, dass die AfD mehrheitlich für Aufrüstung ist. Frau Weidel fand das Ziel, fünf Prozent des BIP für Rüstung auszugeben, gar nicht so falsch. In der Sozialpolitik ist die AfD teils rabiater als die CDU; sie will Sozialleistungen kürzen und Arbeitslose zu Zwangsdiensten verpflichten. Sie ist eine pro-amerikanische, wirtschaftsliberale Partei, die sich gerade hübsch macht für eine Koalition mit der CDU.
Die Brandmauer ist schon deshalb falsch, weil es demokratische Spielregeln gibt. Eine Partei, die von über 20 Prozent der Wähler gewählt wird, pauschal von parlamentarischen Rechten auszuschließen, ist undemokratisch und hilft ihr am Ende nur. Man sollte die AfD dort stellen, wo sie Verantwortung übernehmen muss. Wir haben in Thüringen gesehen, wie schwer Regierungsverantwortung ist; die AfD musste sich bisher nie beweisen.
Ich verstehe Sie richtig: Sie würden nicht mit der AfD koalieren, aber Sie finden es undemokratisch, sie so auszugrenzen?
Wir haben mit der AfD viel weniger Schnittmengen als die CDU. Ich würde nicht mit ihr koalieren, auch wegen der Rechtsextremisten in ihren Reihen. Aber es ist ein Fehler, schon reflexartig gegen jeden AfD-Antrag zu stimmen, egal was drinsteht. Oder keinen Untersuchungsausschuss zu Corona oder Nord Stream einzusetzen, nur weil man dafür die Stimmen der AfD bräuchte. Das ist irrational. Politik sollte sich an Inhalten orientieren.
Zum Schluss noch ein Thema, das mir persönlich Sorgen bereitet: Künstliche Intelligenz. Viele Experten wie der Nobelpreisträger Geoffrey Hinton warnen vor einer Superintelligenz, die die Menschheit auslöschen könnte. Wird dieses Risiko im BSW diskutiert?
Das ist für uns sogar ein sehr großes Thema. Dass KI die Menschheit vernichtet, ist vor allem im Zusammenhang mit der Militarisierung zu sehen. Wenn Algorithmen militärische Entscheidungen übernehmen und Waffensysteme steuern, können Eskalationsdynamiken entstehen, die wir nicht mehr kontrollieren.
Aber selbst wenn dieser “Worst Case” nicht eintritt, steuern wir in eine dystopische Überwachungsgesellschaft. Die Digitalisierung, so wie wir sie erleben, basiert auf der massenhaften Speicherung von Personendaten. KI kennt uns inzwischen besser als unser Partner. Das ermöglicht Manipulation – sei es beim Kaufverhalten oder bei politischen Wahlen. Cambridge Analytica war da nur der Anfang.
Heute hinterlassen wir überall Datenspuren: im Auto, beim Arzt, im Internet. Diese Daten werden genutzt, um Verhalten vorherzusagen und zu steuern. Das hat mit Liberalität und Demokratie nichts mehr zu tun. Palantir-Software wird inzwischen auch von deutschen Sicherheitsbehörden genutzt. Das ist ein digitaler Überwachungskapitalismus, der eine massive Bedrohung für die Freiheit darstellt. Da muss ein Riegel vorgeschoben werden.
Sehen Sie eine Chance, dass man sich international – auch mit China – auf KI-Regeln einigt?
Ich bin ohnehin dafür, dass wir mit China normale Beziehungen pflegen, statt diese moralische Überhöhung zu betreiben. Die Chinesen nutzen KI natürlich auch zur Überwachung; das ist nicht mein Modell. Aber es steht uns nicht zu, China zu belehren.
Wir sollten sicherstellen, dass wir hier eine andere Form der Digitalisierung wählen. KI kann in der Medizin Großartiges leisten, aber sie braucht klare Regeln, um nicht zur Waffe gegen die Freiheit zu werden. Und um diese Regeln durchzusetzen, brauchen wir Kooperation, nicht Konfrontation – auch mit China.
Vielen Dank für das Gespräch, Frau Wagenknecht. Alles Gute!
Ich danke Ihnen. Alles Gute auch für die NachDenkSeiten, die für mich eine wertvolle Lektüre sind.
Tschüss.
Titelbild: NachDenkSeiten
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