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Titel: In Gesetz gegossene Verfassungswidrigkeit

Datum: 28. November 2012 um 10:03 Uhr
Rubrik: Bundesverfassungsgericht, Verfassungsgerichtshof, Erosion der Demokratie, Hartz-Gesetze/Bürgergeld, Kampagnen/Tarnworte/Neusprech
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Die Anzahl der verhängten Sanktionen gegen arbeitslose und nichtarbeitslose ALG-2-Empfänger strebt unaufhaltsam von Rekordmarke zu Rekordmarke. Wurde im April dieses Jahres noch für das Jahr 2011 ein neuer Höchststand von über 912.000 von den Jobcentern ausgesprochenen Sanktionen vermeldet, deuten die Zahlen für das erste Halbjahr 2012 auf eine erneute Steigerung der Sanktionierungsversuche hin. Mit über 520.000 Sanktionen im ersten Halbjahr 2012 geht die Tendenz für das Gesamtjahr in Richtung über 1 Million. Dabei ist generell zu berücksichtigen, dass 42 Prozent der dagegen eingelegten Widersprüche, auch per Gerichtsentscheid, erfolgreich sind. Das mag als Fingerzeig dafür dienen, dass eine nicht unerhebliche Anzahl der verhängten Sanktionen selbst der aktuellen Rechtslage widerspricht. Von Lutz Hausstein[*]

Addiert man die Fälle hinzu, in denen nach Klageerhebung die Jobcenter die Sanktionen zurücknehmen und somit die Klage gegenstandslos wird, liegt die Erfolgsquote gegen Sanktionen im Bereich von 50 Prozent. Mindestens die Hälfte aller ausgesprochenen Sanktionen halten also nicht einmal der ersten Überprüfung stand. Diese Zahl erfasst jedoch die Realität immer noch nicht vollständig, da sie die Dunkelziffer derjenigen nicht berücksichtigt, welche sich aus unzureichender Rechtskenntnis oder aus Angst vor nachfolgenden Repressionen gar nicht erst dagegen zur Wehr setzen.

Doch was steht hinter diesen Sanktionen? Wieso glaubt der Gesetzgeber, mit Mitteln „schwarzer Pädagogik“ in Form von Drohungen und Repressionen gegen die Schwächsten der Gesellschaft vorgehen zu dürfen? Welche Gründe kann es geben, Menschen ihre Existenzgrundlage zu verweigern? Wieviel Rechtmäßigkeit steht hinter diesem Vorgehen und ist dies überhaupt mit den Rechtsgrundsätzen der Bundesrepublik Deutschland vereinbar?

Das Stigma der Arbeitsverweigerer

Selbst nach jetziger Rechtslage der Sozialgesetzgebung ist der Löwenanteil der ausgesprochenen Sanktionen eher zweifelhaft bis deutlich rechtswidrig. Obschon der Boulevard-Journalismus, der allerdings mit einigen seiner Argumentationsmuster inzwischen bis weit in die vermeintlich seriösen Medien hineinreicht, wie auch die Stammtische die Ursachen hierfür sofort holzschnittartig bei den „faulen Arbeitslosen“ finden, ist nicht die Ablehnung von Jobangeboten der Hauptgrund dieser Sanktionen, sondern in rund 70 Prozent der Fälle handelt es sich sogenannte Meldeversäumnisse. Dies kann ebenso ein nicht eingehaltener Gesprächstermin wie auch ein Termin, der wegen verspäteter Benachrichtigung nicht wahrgenommen werden konnte. Immer wieder wird von Betroffenen darüber berichtet, dass Einladungsschreiben erst am Vortag oder am Tag des Gesprächstermins die Eingeladenen erreichen. Gelegentlich auch erst nach diesem. Zunehmend gibt es Sanktionierungsversuche seitens der Jobcenter, welche trotz einer vorliegenden ärztlichen Krankschreibung auf ein Erscheinen der Betreffenden bestehen oder alternativ eine ärztliche Bettlägerigkeitsbescheinigung fordern. Trotz Krankschreibung könnten die Betreffenden einen Termin wahrnehmen.

Ebenfalls häufen sich die Fälle, nach denen Sanktionen wegen „fehlender Mitwirkung“ ausgesprochen werden, weil auf sonderbare Weise immer wieder Unterlagen auf dem Postweg verloren gehen. Häufig wird auch der Versuch, dies zu umgehen, indem die geforderten Unterlagen persönlich im jeweiligen Jobcenter abgegeben werden, gezielt sabotiert. Entgegen inzwischen mehrfach ergangener gegenteiliger Rechtssprechung wird seitens der Mitarbeiter der Jobcenter eine schriftliche Bestätigung zur Übergabe der Unterlagen verweigert. Dieses Verhalten dürfte jedoch kaum auf persönliche Präferenzen der Mitarbeiter zurückgehen, sondern seine Ursache in internen Dienstanweisungen haben. Es ist sogar ein Fall bekannt, bei dem eine Mitarbeiterin am Informationscounter die Annahme von Dokumenten mit der Begründung verweigert hat, dass dies außerhalb der Dienstzeit der Arbeitsvermittler nicht zulässig wäre. Anschließend wurde ein Security-Mitarbeiter aktiv, indem er seinerseits nun sogar den Einwurf in den Hausbriefkasten zu verhindern suchte.

Am Ende all dieser Verhinderungshandlungen steht immer wieder das Gespenst der Regelsatz-Sanktion. Sanktionen, mithilfe derer interne Vorgaben zu Sanktionsquoten erreicht und somit Einsparungen erzielt werden sollen. Ob die Faktenlage Sanktionen überhaupt sachlich rechtfertigt, spielt so gut wie keine Rolle.

Realitäten aus der Arbeitsverweigerungs-Praxis

Der Kernvorwurf gegenüber Arbeitslosen lautet regelmäßig, dass diese sich weigern würden, ihnen angebotene Arbeit anzunehmen. Sie seien zu faul dazu. Sie würden lieber bis mittags im Bett liegen, um anschließend, die erste Flasche Bier in der Hand haltend, mit der anderen Hand die Fernbedienung des Fernsehers zu betätigen. Dies wird medial auch gern mit den passenden gestellten Fotos vermittelt. Alternativ hierzu wird ebenfalls der arbeitsscheue Drückeberger, welcher schon früh 7 Uhr mit der Flasche Korn am Kiosk seinen Saufkumpanen zuprostet, den Lesern populistisch als Stigmatisierungsopfer angeboten. Boulevardmedien setzen diese Vorurteile mit der ihnen eigenen verhetzenden Kampagnenfähigkeit in die Welt und erreichen damit einen, wenngleich kleineren, Teil der Bevölkerung. Früher oder später greifen die vermeintlich seriösen Medien dies in abgeschwächter Form auf und erzielen damit hohe Zustimmungsquoten, da dies ja schon zuvor von anderer Seite festgestellt wurde, während sie ihrerseits diese Vorurteile weniger pauschaliert und nunmehr aus seriöser Quelle bestätigen.

Doch schon der oben dargelegte Anteil der „Meldeversäumnisse“ von 70 Prozent an den Sanktionen zeigt, dass diese Vorurteile wenig Bezug zur Realität haben. Doch auch wenn man sich dem kleineren Teil der so apostrophierten „Arbeitsverweigerungen“ zuwendet und die einzelnen Fälle näher betrachtet, hält das simple Stigma des „Die-sind-bloß-zu-faul-zum-arbeiten“ den Fakten meist nicht stand. Das kann zum Einen der studierte Informatiker, der zuletzt 10 Jahre als Netzwerk-Systemadministrator gearbeitet hat und der nun zu einem Weiterbildungkurs „Grundlagen des Umgangs mit Computern“ zwangsverpflichtet wird, sein. Oder die Einzelhandelskauffrau, welche ein kostenloses mehrwöchiges Praktikum zur Eignungsfeststellung in genau dem Unternehmen absolvieren soll, welches direkt zuvor ihre Festanstellung gekündigt hatte. Oder die Ablehnung eines 1-Euro-Jobs, bei dem immer wieder gebrauchte Puzzlespiele gelegt werden müssen, um diese auf Vollständigkeit zu prüfen. Oder die massenhafte Zwangszuweisung zu mehrwöchigen „Erprobungsphasen“ beim Internet-Giganten Amazon ohne Entlohnung. Nur, um kurz nach Bekanntwerden dieses Skandals, laut einer Sprecherin der damaligen Arbeitsagentur „ein Fehler, der korrigiert werden muss“, die zulässige Maximaldauer solcher „Erprobungsphasen“ seitens des Gesetzgebers von vier auf sechs Wochen anzuheben. Oder die unter Sanktionsdrohung nicht ablehnbare Annahme von unbezahlten, mehrmonatigen Praktika mit der vagen – meist unerfüllten – Hoffnung auf eine darauffolgende Festanstellung. Hinzu kommt noch eine Vielzahl von Tatbeständen, welche sich aufgrund ihrer Komplexität nicht sachgerecht auf 3 oder 4 Sätze beschränken lassen.

Anhand dieser nur exemplarischen Beispiele lässt sich mehr als erahnen, dass der jahrelang aufgebaute Mythos der „Arbeitsverweigerer“ nur ein Popanz ist, um Stimmung in der Öffentlichkeit gegen die von Erwerbsarbeit Ausgeschlossenen zu erzeugen. Diesen wird die Rolle der Sündenböcke zugeschoben, um im gelegten Nebel der dann hagelnden Beschimpfungen die Rahmenbedingungen für die Noch-Inhaber von Erwerbstätigkeits-Stellen ebenfalls weiter zu verschlechtern.

Sanktionen – die Allzweckwaffe

Sanktionen haben neben den beschriebenen Wirkungen der Einsparung von Ausgaben sowie der Verbreitung von Angst unter den davon Betroffenen ein weiteres Ziel: Die allgegenwärtige Bedrohung mit Sanktionen soll die Leistungsempfänger zu „freiwilligen“ Verhaltensreaktionen zwingen, welche ohne Sanktionen so nicht möglich wären und in derem Gefolge die nächsten ausgelegten Fallstricke auf sie warten.

Wie ein aktueller Fall aus Chemnitz eindrucksvoll nachweist, wurde ein Chemnitzer Arbeitsloser nach einer mehrmonatigen (!) Eignungsfeststellung, für welche ihm die Träger abschließend eine „sehr gute“ bzw. sogar „ausgezeichnete“ Eignung attestierten, durch das Jobcenter zu einer, angeblich für die Durchführung der Weiterbildung notwendigen, psychologischen Begutachtung geschickt. Eine Weigerung, diese durchführen zu lassen, hätte als „fehlende Mitwirkung“ eine Sanktion seitens des Jobcenters nach sich gezogen. Diese psychologische Begutachtung diagnostizierte nun plötzlich, völlig im Widerspruch zu den vorherigen Eignungsfeststellungen, gravierende Defizite bei dem Chemnitzer, welche gar in der Diagnose einer „psychischen Behinderung“ gipfelten. Selbst die örtliche Jobcenter-Sprecherin musste zugeben, dass hauptsächlich finanzielle Kriterien die Grundlage für die Einschaltung des psychologischen Dienstes darstellen. So ist es also nicht ausgeschlossen, dass Arbeitssuchende zu diesem Dienst zur Begutachtung geschickt werden, um eine Weiterbildungsmaßnahme zu verhindern und somit die damit verbundenen Kosten einzusparen. Diese Art der Zwangspsychatrisierung aus völlig irrationalen Gründen ist durch nichts zu rechtfertigen und weckt schreckliche Erinnerungen an die finstersten Kapitel deutscher Geschichte.

So wie im geschilderten Fall über die Chimäre „Sanktion“ letztendlich die Weiterbildung eines Arbeitslosen verhindert wurde, so wollte der Chef des Brandenburger Jobcenters nur wenige Wochen zuvor Arbeitslose zu Weiterbildungsmaßnahmen zwingen. Bezeichnenderweise ebenfalls mit dem Mittel der Sanktion. Während also einerseits mittels Sanktionen Arbeitslose zu Weiterbildungen, welcher Art auch immer, gezwungen werden sollen, wird andererseits unter Zuhilfenahme von Sanktionsdrohungen die Absolvierung einer Weiterbildung verhindert. Es fällt zunehmend schwer, logisch nachvollziehbare Muster hinter bestimmten Vorgaben zu entdecken.

Niederschlag gefunden hat dieser Vorfall jedoch nur in der regionalen Presse. Überregional hingegen widmen sich die Medien stattdessen dem dreißigsten Aufguß der Frage „Wollen Arbeitslose überhaupt arbeiten oder haben sie es sich in der sozialen Hängematte römisch-dekadent bequem gemacht?“, mit der sie die Stammtischdiskussionen beständig am Köcheln halten. So werden Ressentiments in der Bevölkerung hervorgerufen bzw. aufrecht erhalten, während gleichzeitig Informationen und Fakten, welche diese Weltsicht ins Wanken bringen würden, den Menschen vorenthalten werden.

Ein neuerlicher Fall unterstreicht die Entmündigungswirkung durch Sanktionen. So wurde Arbeitslosen in der Region Nienburg die Teilnahme an einem Rauchentwöhnungskurs „angeboten“. Wie standardisiert üblich, wurde sofort auf der Einladung bei Nichtteilnahme mit Sanktionen gedroht. Ist es schon prinzipiell nicht nachvollziehbar, welche berufliche Qualifizierung ein Rauchentwöhnungskurs darstellen soll, geschweige denn welches Arbeitsangebot, so muss man sich die Frage gefallen lassen, ob ein solcher Eingriff in die persönliche Freiheit des Einzelnen, wieder mit dem Druckmittel „Sanktion“, mit dem Selbstbestimmungsrecht zu vereinbaren ist.

Insgesamt bleibt zu konstatieren, dass mittels beständig drohender Sanktionen Menschen zu konformen Verhaltensweisen gezwungen werden. Sie werden unter der Bedrohung der Zerstörung ihrer Existenzgrundlage in ein gewünschtes Verhaltenskorsett gepresst. Jedes im Amtsdeutsch euphemistisch genannte „Angebot“ wird somit, unabhängig von dessen Sinnhaftigkeit, Absurdität oder gar Kontraproduktivität, zum Zwang. Dadurch ist der Repressionscharakter des gesamten Hartz-IV-Systems hinreichend gekennzeichnet.

Sanktionen – ein never-loose-Instrument der Jobcenter

Die Sanktionierungspolitik ist so konstruiert, dass sie für die Jobcenter ein völlig gefahrloses Unterfangen darstellt. Selbst wenn ohne die geringsten sachlichen Gründe Sanktionen ausgesprochen werden, bestehen für die Behörde keinerlei Gefahren, sondern nur Chancen. Da eine nicht unerhebliche Anzahl der Betroffenen die immer undurchsichtiger werdende Rechtslage nicht ausreichend kennt und selbstverständlich auch die Jobcenter nicht an deren verbesserter Kenntnis interessiert sind, legen diese Personen auch kaum den möglichen Widerspruch ein. Ein weiterer Teil der Sanktionierten ist durch die permanente Repressionsdrohung so eingeschüchert, dass er trotz Grundkenntnissen über seine Widerspruchsmöglichkeit darauf verzichtet.

Doch auch im Falle der informierten und ausreichend selbstbewussten Betroffenen, die daraufhin den üblichen prozessualen Vorgang von „Widerspruch – Ablehnung des Widerspruchs – Klage vor dem Sozialgericht“ in Angriff nehmen, entsteht den Jobcentern auch im Falle einer Niederlage vor Gericht kein Schaden. Das Maximum, welches sie „erleiden“ können, ist die Verpflichtung zur Sanktionsrücknahme und damit zur Zahlung. Ein Zustand, der ohne die Aussprache einer Sanktion ohnehin dem Ist-Zustand entsprechen würde. Dies bedeutet für den Fall, bei dem ohne eine berechtigte Grundlage eine Sanktion ausgesprochen wird: Die gesetzeskonforme Anwendung verpflichtet das Jobcenter zu einer sofortigen Zahlung des vollen Regelsatzbetrags – das worst-case-Szenario der gerichtlichen Niederlage zwingt das Jobcenter zur Zahlung des vollen Regelsatzbetrags nach Durchlaufen dieser Instanzen. Ein Risiko existiert für das Jobcenter nicht, es fallen weder Säumniszuschläge an noch „rollen Köpfe“.

Erschwerend kommt nun noch hinzu, dass seit einer Gesetzesänderung 2009 ein eingelegter Widerspruch keine aufschiebende Wirkung bezüglich der Sanktion hat. So wird Menschen, die ohnehin schon am Rande des Existenzminimums leben müssen, eben dieses entzogen – auch wenn die rechtlichen Voraussetzungen hierfür gar nicht vorliegen. Ein weiterer Skandal, verborgen unter einem Berg von Skandalen.

Unterschreitung des Existenzminimums durch Sanktionen

All die berechtigt vorgebrachte kritische Hinterfragung an der Praxis von Sanktionen kann jedoch vernachlässigt werden, wenn man sich der grundsätzlichen Frage stellt, ob Sanktionen generell gesetzeskonform sind. Obschon die verschiedenen Regelsatzhöhen sowohl für 2010, noch vor der Verkündung des Bundesverfassungsgerichtsurteils am 09.02.2010, als auch für 2011, nach der vermeintlichen Neuberechnung, äußerst zweifelhaft sind, da sie aufs Neuerliche die Kriterien des BVerfG-Urteils nach Transparenz der Ermittlung und nach Bedarfsgerechtigkeit nicht erfüllen, soll das an dieser Stelle nicht Punkt der Betrachtungen sein. Vielmehr muss die berechtigte Frage gestellt werden, ob ein von der Regierung selbst als solches bezeichnetes Existenzminimum unterschreitbar sein kann und darf.

Schon allein anhand der reinen Begrifflichkeit des „Existenzminimums“ kommen starke Zweifel auf, ob es überhaupt zulässig ist, ein Minimum, mit welchen Mitteln auch immer, zu unterschreiten. Denn eine Steigerung des Superlativs „Minimum“ im Sinne eines (noch) minimaleren Minimums ist ein undenkbares und unlogisches Paradoxon. Dies mag zwar als eine eher unwichtige Randnotiz dieser Betrachtung angesehen werden, doch es beschreibt auch auf sprachlicher Ebene sehr deutlich, wie widersprüchlich schon allein der Grundgedanke von Sanktionen ist.

Das hat auch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 09. Februar 2010, welches sich mit der Verfassungsmäßigkeit der Regelsätze auseinanderzusetzen hatte, in mehreren Anmerkungen bestätigt. Der damalige BVerfG-Vorsitzende, Hans-Jürgen Papier, erklärte das Grundrecht „eines menschenwürdigen Existenzminimums“, welches sich aus „der Menschenwürde-Garantie des Grundgesetzes in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip“ ergibt, für „unverfügbar“. Dabei definiert das BVerfG das Existenzminimum keineswegs nur als die Notwendigkeiten zur Sicherung der rein physischen Existenz. Das BVerfG erklärte einen „verfassungsrechtlichen Leistungsanspruch“, welcher sowohl die physische Existenz des Menschen als auch ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben zu gewährleisten habe.

Der Wortlaut wie auch der Sinn dieser Feststellungen ist somit absolut eindeutig:

  • das Existenzminimum ist definiert als die Summe aller materieller Aufwendungen, welche für die physische Existenzsicherung sowie ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben notwendig sind
  • die Höhe des vollständigen Regelsatzes, welcher transparent und bedarfsgerecht zu ermitteln ist, entspricht dem Existenzminimum
  • das Existenzminimum ist unverfügbar, das heißt, es darf auf keinen Fall unterschritten werden

Die Zusammenführung dieser drei Feststellungen kann bezüglich der Verfassungsmäßigkeit von Sanktionen nur zu einem Schluss führen: Die Durchsetzung von Sanktionen und damit die Unterschreitung eines verfassungskonformen Existenzminimums ist verfassungswidrig. Da es sich bei der vollen Höhe des Regelsatzes um das Existenzminimum handelt, gilt dies auch für jede beliebige Höhe einer Sanktion. Denn schon mit dem Entzug des ersten Euro wird dieser Zustand erreicht.

Auch an das Existenzminimum geknüpfte Bedingungen mit dem Ziel, dieses zu unterschreiten, sind somit verfassungswidrig und folglich rechtsunwirksam. Damit wird auch die Vielzahl dubioser Sachverhalte obsolet, welche dafür missbraucht werden, um Sanktionen zu rechtfertigen.

Die Unterschreitung des Existenzminimums und dessen mögliche Folgen

Wird durch die Zulassung von Sanktionen seitens des Gesetzgebers wie auch durch deren Durchführung mithilfe der Mitarbeiter der Jobcenter das Existenzminimum unterschritten, müssen sich diese Personen auch den daraus resultierenden Folgen stellen. Durch die Unterschreitung des Existenzminimums werden die davon Betroffenen gezwungen, auf andere Weise diesen Fehlbetrag auszugleichen. Auch abseits der rechtlichen Würdigung des Sanktions-Sachverhalts ist es mehr als nur lebensfremd, nun anzunehmen, dass die Betroffenen sich friedlich zum Sterben auf die Straße legen werden. Genau dies wird aber unausgesprochen vorausgesetzt. Nachdem die Betroffenen schon den „sozialen Tod“ gestorben sind, da sie mit dem Verlust der Arbeit gleichzeitig auch die Akzeptanz der Öffentlichkeit als gleichberechtigte Mitmenschen verloren haben und dem sie ob der strukturellen Gegebenheiten in wütender Ohnmacht gegenüberstehen, sollen sie nun auch noch den realen eigenen Tod stillschweigend und widerstandslos hinnehmen. Dies ist natürlich ebenso zynisch wie wirklichkeitsfremd.

Infolgedessen werden die Sanktionierten gezwungen, sich ihr Existenzminimum auf die eine oder andere Art und Weise selbst zu organisieren. Wenn Menschen durch den Entzug ihrer Lebensgrundlage so sehr an die Wand gedrängt werden, ist es nicht auszuschließen, dass sie in ihrer existentiellen Not zum für sie letzten Mittel, einer kriminellen Tat, greifen, um ihr Überleben zu sichern. Der Verantwortung für diese Art der Notwehr zur Sicherung der eigenen Existenz, sei es nun Raub, Diebstahl oder Vergleichbares, müssen sich die eigentlichen Verursacher bewusst sein – ob es ihnen gefällt oder nicht. Die Verantwortung auf diejenigen abzuschieben, denen sie durch ihr Handeln die Existenzgrundlage verweigern, zeugt von einer völlig unzureichenden Durchdringung der realen Situation. Ihr Handeln schafft die Ursachen für die sich daraus eventuell ergebenden Reaktionen der Notwehr. Davon können sich weder die Gesetzgeber noch die Mitarbeiter der Jobcenter freisprechen.

In Gesetz gegossene Verfassungswidrigkeit

Die Gefahr solch dramatischer Entwicklungen würde entfallen, hätten bei der derzeit geltenden Gesetzgebung das Grundgesetz sowie die schon zuvor angeführten Anmerkungen im Zuge des BVerfG-Urteils vom 09.02.2010 die notwendige Beachtung erhalten. Doch nur, indem all das ignoriert wurde, konnte ein Antrag zur Abschaffung von Sanktionen im Bundestag überhaupt erst abgelehnt werden. Dies muss umso befremdlicher wirken, da die im Bundestag vertretenen 143 Juristen mit beinahe einem Viertel die mit Abstand größte Berufsgruppe stellen. Dass Juristen den Sinn des Grundgesetzes sowie eines Urteils des Bundesverfassungsgerichts nicht erfassen können, erscheint kaum glaubhaft. Und wenn dies so wäre, würde (zurecht) ihre Eignung als Mandatsträger mehr als nur anzuzweifeln sein.

Dabei ist es jedoch nicht ausreichend, nur den Antragsablehnern ihre mangelnde Grundgesetzestreue entgegenzuhalten. Wer sich in einem solch eklatanten Fall auch nur der Stimme enthält, trägt dazu bei, die bestehenden ungerechten, grundgesetzwidrigen Verhältnisse zu zementieren. Denn das Schweigen zu ungerechten Verhältnissen sowie die gezielte Verweigerung von möglichen Re-Aktionen wirken als eine Befürwortung und Begünstigung dieser Verhältnisse. Dies hat auch der Theologe Martin Niemöller erst aus eigenem leidvollen Erleben verstehen lernen müssen. Deshalb ist es notwendig, auch die schweigenden Befürworter nicht der Kritik zu entziehen.

Die sofortige Abschaffung von Sanktionen – nur der erste Schritt

Die Abschaffung der Sanktionspolitik kann nur ein erster Schritt sein – aber ein sofortiger. Darüber hinaus ist die vollständige Beseitigung der Gesetze, die unter dem Begriff der Agenda 2010 subsummiert werden, dringend notwendig und schnellstmöglich durchzuführen. Diese Gesetze haben bei einem nicht geringen Teil der Bevölkerung unnötige Härten bewirkt und sie in zunehmender Armut und tiefer Perspektivlosigkeit versinken lassen.

Stattdessen ist es notwendig, die Sozial- wie auch die Wirtschaftspolitik völlig neu auszurichten und wieder das Kriterium in den Mittelpunkt des politischen Handelns zu rücken, welches gemäß Grundgesetz der Mittelpunkt zu sein hat: Das Wohl aller Menschen.


[«*] Lutz Hausstein (44), Wirtschaftswissenschaftler, ist als Arbeits- und Sozialforscher tätig. In seinen 2010 und 2011 erschienenen Untersuchungen „Was der Mensch braucht“ ermittelte er einen alternativen Regelsatzbetrag für die soziale Mindestsicherung. Ko-Autor des Buches „Wir sind empört“ der Georg-Elser-Initiative Bremen


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