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Titel: Thesen zum 4. Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung – Wer vom Reichtum nicht reden will, sollte auch von der Armut schweigen

Datum: 6. März 2013 um 13:33 Uhr
Rubrik: Audio-Podcast, Bundesregierung, Strategien der Meinungsmache, Ungleichheit, Armut, Reichtum
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Das Bundeskabinett hat heute – ein Jahr verspätet – den innerhalb der Regierung heftig umstrittenen 4. Armuts- und Reichtumsbericht gebilligt. Die Bundesregierung bewertet dessen Befunde „überwiegend positiv“: der Arbeitsmarkt habe sich gut entwickelt, es gebe eine Trendwende in der Einkommensentwicklung, die Schere zwischen Arm und Reich habe sich nicht weiter geöffnet, das Armutsrisiko sei nicht gestiegen, die Einkommens- und Vermögenssituation Älterer sei überdurchschnittlich gut. Deutschland gehe es so gut wie nie, meint FDP-Chef Philipp Rösler.
Der Armutsforscher Christoph Butterwegge schaut auf die Wirklichkeit hinter der politischen Schönfärberei durch die Regierung.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

  1. Nach am 27. Januar 2000 und am 19. Oktober 2001 gefassten Parlamentsbeschlüssen soll die Bundesregierung regelmäßig einen Armuts- und Reichtumsbericht (ARB) vorlegen, und zwar, wie es dort heißt, jeweils zur Mitte einer Legislaturperiode. Unterschiedlich zusammengesetzte Regierungskoalitionen haben dies seit der Jahrtausendwende – wenngleich nicht immer termingerecht – drei Mal getan. Sehr viel Zeit ließen sich CDU, CSU und FDP in der laufenden Legislaturperiode. Erst knapp ein Jahr nach dem vorgegebenen Veröffentlichungstermin, am 18. September 2012, wurde der Entwurf zum 4. ARB durch eine Indiskretion bekannt.
  2. Während die Öffentlichkeit mit einem kurzen Aufschrei der Empörung über die darin immerhin dokumentierte Auseinanderentwicklung von Arm und Reich reagierte, stieß sich die FDP an einigen Bewertungen des CDU-geführten Arbeits- und Sozialministeriums, das für die Datensammlung verantwortlich zeichnet: Vizekanzler und Wirtschaftsminister Philipp Rösler kritisierte besonders Feststellungen, wonach die Privatvermögen hierzulande „sehr ungleich verteilt“ sind, die Einkommensspreizung zugenommen hat, über 4 Mio. Menschen für einen Bruttostundenlohn von unter 7 Euro arbeiten und Niedriglöhne das Armutsrisiko verschärfen und den sozialen Zusammenhalt schwächen. Daraufhin wurden Passagen, die den ausufernden Niedriglohnsektor, die zunehmende Lohnspreizung und die extreme Verteilungsschieflage betrafen, im Rahmen der Ressortabstimmung gestrichen bzw. abgeschwächt, was der Regierungskoalition nach Bekanntwerden der geänderten Fassung den Vorwurf eintrug, Zensur ausgeübt und das Dokument über die Lebenslagen in Deutschland geschönt zu haben.
  3. Zum ersten Mal wurde Berichtskosmetik dieser Art nicht hinter den ministeriellen Kulissen, vielmehr vor aller Augen betrieben und weiten Teilen der Öffentlichkeit klar, dass Armut und Reichtum politisch-normative Begriffe sind und selbst innerhalb des „bürgerlichen Lagers“ unterschiedliche Bewertungsmaßstäbe existieren. Deshalb wäre es auch falsch, den ARB künftig von „unabhängigen“ Wissenschaftlern erstellen zu lassen und die Bundesregierung damit ein Stück weit von der Pflicht zu entbinden, selbst Position hinsichtlich der Einkommens- und Vermögensverteilung bzw. der Verteilungs(un)gerechtigkeit zu beziehen.
  4. Aufgrund der Divergenzen im Regierungslager wurde die Beschlussfassung über den 4. ARB wiederholt verschoben. Erst knapp sechs Monate nach dessen Fertigstellung beschäftigte sich das Bundeskabinett abschließend damit. Dass die CDU/CSU/FDP-Koalition den ihr per Bundestagsbeschluss vorgegebenen Termin um anderthalb Jahre überzog, stellte eine demonstrative Missachtung des Parlaments, der Öffentlichkeit und der Betroffenen dar. Man spürte förmlich, wie unangenehm den Regierungsparteien das Thema der zunehmenden sozialen Spaltung und der Verteilungsschieflage ist, weil sie eine Mitschuld an dieser Entwicklung tragen.
  5. Methodisch hat im 4. ARB ein Paradigmawechsel stattgefunden: Die bisher im Mittelpunkt stehenden Kernindikatoren (17 Armuts-, 5 Reichtums- und 8 Querschnittsindikatoren) werden zwar fortgeschrieben, in den Vordergrund sind durch die Entscheidung für das Lebensphasenmodell aber die biografischen Übergänge zwischen Kindheit, Jugend sowie frühem, mittlerem, hohem und höchstem Erwachsenenalter gerückt. Der neue Schlüsselbegriff heißt „soziale Mobilität“, führt jedoch in die Irre, weil er das Problem der Armut individualisiert, ein schichtunabhängiges Gleichgewicht zwischen Aufstiegschancen und Abstiegsrisiken unterstellt sowie Exklusionsprozesse, soziale Ausgrenzungsmechanismen und Diskriminierungserfahrungen einzelner Bevölkerungsgruppen relativiert. Zwar werden an bestimmten Stationen im Lebensverlauf vieler Menschen entscheidende Weichen für ihren späteren Bildungsstand sowie ihre künftige Einkommens- und Vermögenssituation gestellt, die biografische Entwicklung gibt aber höchstens Aufschluss über einen Teil der Armutsrisiken. Dass die Armut – ebenso wie der Reichtum – strukturell bedingt und ein gesellschaftliches Problem ist, entgeht der Analyse, wenn man diese auf einzelne Lebensphasen konzentriert. Weil der 4. ARB überwiegend auf – für andere Zwecke erhobenen – Querschnittsdaten basiert, bleibt außerdem die erforderliche Längsschnittbetrachtung auf der Strecke.
  6. Hier liegt ein gravierender Mangel aller bisherigen Regierungsberichte: Nach den ökonomischen, politischen und sozialen Ursachen der kaum mehr zu leugnenden Einkommens- und Vermögensspreizung wird überhaupt nicht gefragt. Höchstens die Auslöser persönlicher Notlagen wie Arbeitslosigkeit, Trennung bzw. Scheidung vom (Ehe-)Partner oder (Früh-)Invalidität sind Gegenstand der Betrachtung. Herrschafts-, Eigentums- und Machtverhältnisse bleiben hingegen im Dunkeln. Auf diese Weise leistet man persönlichen Schuldzuweisungen und Ressentiments gegenüber Minderheiten unnötig Vorschub.
  7. Wer vom Reichtum nicht reden will, sollte auch von der Armut schweigen. Trotz gegenteiliger Absichtsbekundungen der Bundesregierung ist Reichtum im 4. ARB das Stiefkind der statistischen Datenerfassung und -analyse geblieben. Trotz aller seinen Wert mindernden Beschönigungs-, Beschwichtigungs- und Entschuldigungsversuche dokumentiert dieser eine doppelte Spaltung: Erstens wachsen Armut und Reichtum gleichermaßen, sind also zwei Seiten derselben Medaille. Dies zeigt sich besonders deutlich beim Vermögen, das sich zunehmend bei wenigen Superreichen konzentriert, die über riesiges Kapitaleigentum verfügen und meistens auch große Erbschaften machen. Während die reichsten 10 Prozent der Bevölkerung laut 4. ARB mehr als 53 Prozent des Nettogesamtvermögens besitzen, kommt die ärmere Hälfte der Bevölkerung gerade mal auf 1 Prozent. Über 40 Mio. Menschen leben also von der Hand in den Mund. Zweitens geht der wachsende private Reichtum mit öffentlicher Verarmung einher, worunter die Armen wiederum am meisten leiden. Während sich das private Nettovermögen allein zwischen 2007 und 2012 um 1,4 Bio. Euro erhöht hat, ist das Nettovermögen des Staates laut 4. ARB in den letzten beiden Jahrzehnten um mehr als 800 Mrd. Euro gesunken. Folglich bedeuten im Grundgesetz, in den Landesverfassungen und im europäischen Fiskalvertrag festgeschriebene „Schuldenbremsen“, dass der Sozialstaat, wie man ihn bisher kannte, weiter ausblutet. Nur die Reichen können sich einen armen Staat leisten. Denn sie schicken ihre Kinder auf Privatschulen und ausländische Eliteuniversitäten, kaufen alles, was ihr Leben verschönert, selbst und sind auf öffentliche Schwimmbäder, Bibliotheken oder sonstige kommunale Einrichtungen – im Unterschied zu den Armen – nicht angewiesen.
  8. Vernachlässigt werden im 4. ARB die krassen regionalen Disparitäten, unter denen das Ost-West- und das Nord-Süd-Wohlstandsgefälle besonders hervorstechen. Wenn der Sozialabbau und die Regierungspolitik nach dem Matthäus-Prinzip (im Evangelium des Matthäus heißt es sinngemäß: „Wer hat, dem wird gegeben, und wer wenig hat, dem wird auch das Wenige noch genommen“) fortgesetzt werden, dürften die Städte der Bundesrepublik noch mehr zerfallen: in Luxusquartiere, wo sich die (Super-) Reichen hinter hohen Mauern verschanzen und von privaten Sicherheitsdiensten bewachen lassen, einerseits sowie in Elendsquartiere, wo sich die Armen versammeln, andererseits.
  9. Während das Stichwort „Kinderarmut“ nur in den Fußnoten bzw. den dort aufgeführten Titeln zitierter Fachliteratur auftaucht, wird Bedürftigkeit im Alter als „kein Problem“ bezeichnet. Undifferenzierter geht es kaum: „Die Einkommens- und Vermögenssituation der Älteren von heute ist überdurchschnittlich gut“, heißt es im 4. ARB. Es wird darauf hingewiesen, dass am 31. Dezember 2011 „nur“ 436.210 Personen über 64 Jahren die Grundsicherung im Alter bezogen, was einem Anteilswert von rund 2,6 Prozent der Bevölkerung in dieser Altersgruppe entsprach, wohingegen der Anteil von Empfänger(inne)n von Mindestsicherungsleistungen aller Altersgruppen an der Gesamtbevölkerung bei 8,9 Prozent lag. Abgesehen davon, dass eine geschlechterspezifische Datenauswertung ergibt, dass die Armutsbetroffenheit alleinlebender Frauen im hohen Alter über dem Bevölkerungsdurchnitt liegt, ist die Dunkelziffer, d.h. der Anteil jener Menschen, die – ihnen zustehende – Sozialleistungen nicht beantragen, weil sie zu stolz sind, weil sie sich schämen oder weil sie den bürokratischen Aufwand scheuen, unter Senior(inn)en bekanntermaßen extrem hoch. Deshalb ist von weit mehr als einer Million Ruheständler(inne)n ausgehen, die auf oder unter dem Hartz-IV-Niveau (durchschnittlich 707 Euro pro Monat) leben. Mehr als 760.000 haben einen Minijob; fast 120.000 davon sind 75 Jahre oder älter.
  10. (Alters-)Armut ist kein bloßes Zukunftsproblem, sondern längst eine bedrückende Zeiterscheinung. Vielerorts gehören Menschen, die in Müllcontainern nach Pfandflaschen suchen, heute zum „normalen“ Stadtbild. Wer ohne ideologische Scheuklappen durchs Land geht und genau hinschaut, kommt zu einem anderen Ergebnis als der Regierungsbericht: Momentan verfestigt sich die Armut und breitet sich in die Mitte der Gesellschaft hinein aus. In manchen Ballungsgebieten und Boomtowns der Bundesrepublik drastisch steigende Mieten und Energiepreise gefährden sogar den Lebensstandard von Normalverdienern und verstärken die Angst vieler Mittelschichtangehöriger vor dem sozialen Abstieg. Die soziale Ungleichheit wächst in erschreckendem Maße, ohne von den politischen Entscheidungsträgern als Kardinalproblem der Gesellschaftsentwicklung wahrgenommen zu werden.
  11. Um persönlichen Schuldzuweisungen zu begegnen, Vorurteile zu widerlegen und wirksame Gegenmaßnahmen ergreifen zu können, müsste man an die Wurzeln der Spaltung in Arm und Reich herangehen. Armuts- und Reichtumsberichte könnten eine gute Basis für die Wirtschafts-, Sozial- und Finanzpolitik der Bundesregierung sein, wenn sie die „Lebenslagen in Deutschland“ nüchtern analysieren, die Ursachen für wachsende Ungleichheit ergründen und entsprechende Handlungsempfehlungen geben würden. Solange die Bundesregierung solche Berichte indes missbraucht, um ihre Politik dem Wahlvolk als Erfolgsgeschichte zu „verkaufen“, bringen sie nur einen geringen Erkenntnisgewinn.
  12. Reichtumsförderung, wie die Bundesregierung sie betreibt – erinnert sei nur an die Senkung der Mehrwertsteuer für Hoteliers – ist keine Armutsbekämpfung, sondern das Gegenteil. Wer den Reichtum nicht antasten will, kann die Armut überhaupt nicht verringern. Die kontroversen Diskussionen über den 4. ARB waren ein Lehrstück der politischen Bildung, das zeigt: Eine liberal-konservative Regierung, die den Interessen der reichen Besitzstandswahrer verpflichtet ist, will den Wohlhabenden nicht wehtun und vermeidet alles, was diese stärker belasten würde. Daher werden auch keinerlei Konsequenzen im Sinne einer Kurskorrektur, etwa auf steuerpolitischem Gebiet, aus dem 4. ARB gezogen. Sollte die Bundesregierung laut dem ursprünglichen Entwurf wenigstens prüfen, ob und wie privater Reichtum über die Progression in der Einkommensteuer hinaus für die nachhaltige Finanzierung öffentlicher Aufgaben herangezogen werden könne, will sie nach dem Kabinettsbeschluss vom 6. März 2013 bloß noch prüfen, wie weiteres persönliches und finanzielles freiwilliges Engagement Vermögender für das Gemeinwohl eingeworben werden kann. Die neue, total verquaste Formulierung kann nicht überdecken, dass man es Reichen und Superreichen selbst überlässt, ob und wie sie sich für das Gemeinwohl engagieren. Auf diese Weise sind die wachsenden sozialen Probleme der Bundesrepublik gewiss nicht zu lösen. Nötig wären vielmehr eine im obersten Bereich erheblich progressivere Einkommensteuer, die Rücknahme der steuerlichen Priviligierung von Kapitalerträgen durch die Abgeltungssteuer in Höhe von 25 Prozent, die Wiedererhebung der 1997 ausgesetzten Vermögensteuer und eine Erbschaftsteuer, die auch große Betriebsvermögen erfasst. Schließlich ist es keine Leistung, der Sohn oder die Tochter eines Familienunternehmers zu sein.
  13. Im beginnenden Bundestagswahlkampf spielt die Kardinalfrage der sozialen Gerechtigkeit vermutlich eine Schlüsselrolle. Vor allem die Altersarmut, der die amtierende Bundesregierung trotz wohlklingender Versprechungen im Koalitionsvertrag aufgrund ihrer Uneinigkeit in zentralen Punkten nicht einmal durch einen kärglichen Rentenzuschuss („Zuschuss-“ bzw. „Lebensleistungsrente“) für Geringverdiener/innen entgegentrat, dürfte also ein wichtiges Thema werden. Überzeugende sozialpolitische Konzepte und wirksame Maßnahmen gegen Armut im Alter sind ein Kriterium, nach dem Bürgerinnen und Bürger ihre Wahlentscheidung treffen. CDU, CSU und FDP haben sowohl im Hinblick auf die Armuts- und Reichtumsberichterstattung wie auch im Hinblick auf die Armutsbekämpfung kläglich versagt.

Lebenslagen in Deutschland, Armuts- und Reichtumsberichterstattung der Bundesregierung.

Der vierte Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung [PDF – 4.1 MB]

Prof. Dr. Christoph Butterwegge lehrt Politikwissenschaft an der Universität zu Köln. Zuletzt sind seine Bücher „Armut in einem reichen Land“ und „Armut im Alter“ (beide im Campus Verlag) erschienen.


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