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Titel: Frühjahrsprognose der Konjunkturforschungsinstitute: Eine tibetanische Gebetsmühle für gutes Karma und zur Verteidigung der herrschenden Lehre

Datum: 11. April 2014 um 9:22 Uhr
Rubrik: Aktuelles, Arbeitsmarkt und Arbeitsmarktpolitik, Strategien der Meinungsmache, Wirtschaftspolitik und Konjunktur
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„Prognosen sind schwierig, besonders wenn sie die Zukunft betreffen.“ Dieser Satz wird dem Physiker Niels Bohr zugeschrieben und er trifft besonders auf die Konjunkturprognosen der Wirtschaftswissenschaftler zu. 1,9 % Wachstum des BIP für dieses und zwischen 1,2 bis 2,6 % für das nächste Jahr, sagt die Projektgruppe Gemeinschaftsdiagnosen unter Federführung von DIW, ifo-Institut, RWI und IWH voraus. 1,6% für 2014 und 2,5% für 2015 hingegen das IMK [PDF].
Die Gemeinschaftsprognose liefert seit Jahren nichts mehr als „teuer bezahlte Falschmeldungen“ und diese Falschmeldungen sind jetzt sogar noch bezahlt von einem sozialdemokratischen Wirtschaftsminister. Von Wolfgang Lieb

Man könnte einfach auf das Konjunkturprognose-Ranking des Handelsblatts verweisen und das Gemeinschaftsgutachten ungelesen abheften. Denn unter den 25 auf ihre Treffsicherheit getesteten Prognosen haben mit Platz 23 die Gutachten der Projektgruppe Gemeinschaftsdiagnosen am schlechtesten abgeschnitten. Das IMK belegte immerhin Platz 7. An der Realität gingen allerdings beide vorbei.

Der einzige sachliche Wert solcher umfänglichen regierungsamtlichen Auftragsgutachten ist, dass die Vielzahl der dort aufgeführten Daten, Grafiken und Literaturstellen fortgeschrieben und auf den jeweils neuesten Stand gebracht wird. Das einzig Gute ist dabei, dass für eine Vielzahl junger Ökonomen Arbeitsplätze gesichert werden. Was die Voraussagen anbetrifft, liefert vor allem die Gemeinschaftsprognose – wie André Tautenhahn richtig urteilt – nur „teuer bezahlte Falschmeldungen“.

Ich war gestern Nachmittag gerade dabei, Inhalt und Ergebnisse der Gemeinschaftsprognosen der früheren Jahre mit der aktuellen Prognose zu vergleichen und wollte belegen, dass die (sich selbst als „renommiert“ bezeichnenden) Wirtschaftsforschungsinstitute in jedem Frühjahr wie tibetanische Gebetsmühlen ihre Mantras verbreiten, die einerseits ein gutes Karma verbreiten sollen und nebenbei die Politik vor jeder Maßnahme warnen, die auch nur im Keim die neoliberalen Glaubenslehren anfechten könnte.

Als ich anfing, das genauer zu begründen, fiel mir ein Text von André Tautenhahn in die Hände, der viel schöner und treffender ist als meiner bis dahin war. Ich erlaube mir einfach den Artikel aus seinem Blog zu zitieren:

„Statt wissenschaftlicher Beratung mit Substanz liefern die Wirtschaftsforschungsinstitute billige politische Propaganda ab, die der Steuerzahler teuer bezahlen muss.

Seit Jahren liefern die Ökonomen der führenden Wirtschaftsforschungsinstitute ihre Gutachten zur künftigen Entwicklung ab. Dabei gehen die Experten wahlweise von einem kräftigen Wachstum oder einem stabilen Aufschwung für das jeweils laufende Jahr aus. Mit ihrer Prognose liegen sie regelmäßig daneben. Sie wissen also kaum etwas. Dennoch maßen sich diese Experten an, auch etwas über das darauf folgende Jahr aussagen zu können, das, wie sollte es auch anders sein, immer noch besser erwartet wird, als das laufende…

Die Presse fällt darauf mal wieder herein und verbreitet die frohe Kunde vom steten Aufschwung, der sich aber meist aus nach unten korrigierten Prognosen speist. Doch statt danach zu fragen, warum sich die Experten ständig irren und selbst korrigieren müssen, hängen die Journalisten an deren Lippen und der Aussicht auf goldene Zeiten. Vor genau einem Jahr rechneten dieselben Ökonomen mit einem Wachstum von 0,8 Prozent für 2013. Tatsächlich herausgekommen ist die Hälfte von 0,4 Prozent. Es ist halt schwierig, alle Faktoren einer Ökonomie treffsicher vorherzusagen.

Was aber regelmäßig in die überflüssigen Gemeinschaftsgutachten hineingehört, ist eine neoliberale Botschaft. Widersprüche stören dabei nicht weiter, weil auch Journalisten sie nicht erkennen wollen. Da behaupten die Forscher zum Beispiel, der Aufschwung werde von der guten Binnenkonjunktur, also von steigenden Löhnen und Gehältern getragen. Gleichzeitig halten die Ökonomen eine abschlagsfreie Rente, die, wie der Name schon sagt, prinzipiell ein höheres Einkommen verspricht als eine Rente, die durch Dämpfungsfaktoren gekürzt wird, sowie einen Mindestlohn, der auch ein höheres Einkommen für Menschen darstellt, …für konjunkturelles Gift. Wie kann das sein?

Die Botschaft ist klar. Es geht gar nicht um einen seriösen Ausblick, sondern darum, die Politik unter Druck zu setzen und eine Abweichung vom neoliberalen Glaubensdogma zu unterbinden. Lobbyarbeit nennt man das für gewöhnlich. Der seriöse Anstrich der Institute verdeckt das nur. “Deutsche Konjunktur im Aufschwung – Gegenwind von der Wirtschaftspolitik”, so nennen die Forscher ihr Gutachten. Sie überzeugen aber nicht mit Sachverstand, sondern blamieren sich mit Lächerlichkeiten. So warnen die Experten zum Beispiel vor steigenden Preisen (Inflation), falls der Mindestlohn beschlossen würde. Dabei sind steigende Preise dringend nötig in einer Zeit der Deflation.  

Die Verbraucherpreise steigen nur noch minimal und bei den Erzeugerpreisen ist der Rückwärtsgang längst eingelegt. Die Warnung vor steigenden Preisen ist also völlig unangebracht. Überteuert ist nur das Gutachten, das die Bundesregierung zweimal im Jahr in Auftrag gibt. Sie, liebe Leserinnen und Leser, zahlen mit ihren Steuergeldern die Glaskugelweisheiten von sogenannten Experten, die sich ständig korrigieren müssen und statt Wissenschaft abzuliefern, politische Propaganda betreiben, die ganz im Sinne so mancher Arbeitgeberverbände ist. Klaus Ernst hat schon Recht, wenn er sagt: Da werde „Steuergeld für Ideologie verpulvert“.

Dieses Urteil trifft ziemlich genau das, was wir auf den NachDenkSeiten nun seit Jahren immer wieder an den Frühjahrsprognosen kritisieren. (Für 2013 hier bis zurück auf das Jahr 2007.)

Es war stets die gleiche Litanei: Senkung der Staatsausgaben, Verbesserung der Angebotsbedingungen für Unternehmen, niedrigere Steuern, niedrigere Löhne, bloß keine Verbesserungen bei den Sozialleistungen sondern eher weiteren Sozialabbau.

Besondere Reizobjekte waren für die Mehrheit der Institute in diesem Jahr natürlich die abschlagfreie Rente mit 63 und die geplante Einführung eines Mindestlohns. (Das DIW und das WIFO teilten übrigens die Einschätzung der Mehrheit der Institute zur Wirtschaftspolitik in wichtigen Punkten nicht.)

Zitat aus der gestrigen Pressefassung der Gemeinschaftsdiagnose 2014 (Download):

„Vom Außenhandel sind per saldo keine positiven Impulse zu erwarten, aber die Zunahme der Binnennachfrage bleibt kräftig. Sie wird jedoch durch die für den 1. Januar 2015 vorgesehene Einführung des flächendeckenden Mindestlohns in Höhe von 8,50 Euro brutto je Stunde beeinträchtigt. Die wirtschaftlichen Konsequenzen dieser Maßnahme sind außerordentlich schwer abzuschätzen, auch weil es einen solchen staatlichen Eingriff in den Arbeitsmarkt in Deutschland bislang nicht gegeben hat. Ein Rückgriff auf die Erfahrungen anderer Länder hilft wenig weiter, da der institutionelle Rahmen kaum vergleichbar ist. So ist ein großer Teil der Betroffenen in Minijobs beschäftigt, eine Beschäftigungsform, die es in anderen Ländern nicht gibt. Hinzu kommt, dass der Mindestlohn in Deutschland wohl für einen deutlich größeren Anteil der Beschäftigten gelten wird als es in den meisten anderen Ländern bei der Einführung eines Mindestlohns der Fall war. Um die Folgen des Mindestlohns für den Arbeitsmarkt und die konjunkturelle Entwicklung zu quantifizieren, muss daher auf zahlreiche Setzungen und Annahmen zurückgegriffen werden.

Die Institute schätzen, dass im Jahr 2015 unter Berücksichtigung von Ausnahmen und Übergangsregelungen etwa vier Millionen Arbeitnehmer von der Regelung betroffen sein werden und im Jahr 2015 zunächst rund 200 000 Stellen verlorengehen. Das gesamtwirtschaftliche Arbeitsvolumen dürfte dadurch um 0,3 Prozent sinken. Der Verlust beim Bruttoinlandsprodukt wird allerdings wohl nur 0,1 Prozent betragen, weil vor allem Arbeitsplätze mit vergleichsweise niedriger Produktivität wegfallen.“

Es gab gestern den ganzen Tag über keine Nachrichten- oder Magazinsendung, in der diese Botschaften nicht kritiklos nachgeplappert worden sind.

Da wird also für das künftige Wachstum auf die Binnennachfrage gesetzt und gleichzeitig eine Lohnerhöhung durch Mindestlöhne, die für mehr Nachfragen sorgen könnte, als wachstumshemmend verdammt. Woher sollte aber die „kräftige“ Binnennachfrage kommen?

Da wird so nebenbei eingestanden, dass es in Deutschland mehr Minijobs und vor allem auch mehr Beschäftigte gibt als in anderen Ländern, die von einem Mindestlohn profitieren würden. Und dann wird einfach so in die Welt gesetzt, dass durch den Mindestlohn 200.000 Stellen verloren gehen und das Arbeitsvolumen sinken dürfte.

Über die abweichende Meinung des DIW und des WIFO (aus Österreich) (Vgl. DIW „Eine andere Meinung“ S.66 [PDF]) zum Mindestlohn und über die am gleichen Tag veröffentlichte völlig andere Bewertung der Rentenpolitik und des Mindestlohns durch das Gutachten des IMK wurde in der veröffentlichten Meinung kaum berichtet.

Im Konjunkturgutachten des IMK heißt es [PDF]:

„Im nächsten Jahr dürften die privaten Konsumausgaben noch stärker ausgeweitet werden. Die Bruttolöhne und -gehälter steigen um 4,3% (?). Dieser beachtliche Anstieg ist auch Ausdruck der Einführung des Mindestlohns…

Im Prognosezeitraum wird die Entwicklung am Arbeitsmarkt, neben dem sich deutlich verbessernden konjunkturellen Umfeld, auch von der geplanten Einführung eines allgemeinen gesetzlichen Mindestlohns durch die Große Koalition ab dem 1.  Januar 2015 geprägt werden…Insgesamt gibt es inzwischen eine umfassende sowohl theoretische als auch empirische Literatur zur Wirkung von Mindestlöhnen. Auch wenn von Gegnern der Einführung eines Mindestlohns gerne das neoklassische Modell des perfekten Wettbewerbs als Grundlage ihrer Argumentation herangezogen wird, so dominiert schon seit einiger Zeit in der Arbeitsmarktökonomik eine realistischere Modellierung von Arbeitsmarktprozessen basierend auf der Annahme imperfekter Märkte (siehe hierzu auch Manning 2010 und Kromphardt 2014).

Gemeinsam ist diesen Modellen, dass Arbeitgeber eine gewisse Marktmacht auf dem Arbeitsmarkt ausüben. Dies hat zur Folge, dass aus theoretischer Sicht die Frage der ökonomischen Wirkung von Mindestlöhnen nicht länger eindeutig bestimmt ist, d.h. je nach Höhe und Art der Ausgestaltung des Mindestlohns sind sowohl Beschäftigungsgewinne
als auch -verluste möglich. Zieht man anstelle dieser eher mikroökonomisch ausgerichteten Modelle das makroökonomische Standardmodell der modernen Arbeitsmarkt- und Beschäftigungsanalyse zu Rate, das sogenannte NAIRU-Modell (siehe beispielsweise Carlin und Soskice 1990), so ergibt sich auch hier dasselbe Bild. Da die Einführung eines Mindestlohns sowohl Lohnsetzung, Preissetzung als auch die gesamtwirtschaftliche Nachfrage beeinflusst, sind auch aus makroökonomischer Sicht die Beschäftigungseffekte eines Mindestlohns theoretisch nicht eindeutig bestimmt (siehe Ribhegge 2008).

Die Frage nach den Beschäftigungseffekten eines Mindestlohns ist letztlich nur empirisch zu beantworten (Manning 2003, S. 347). Im Einklang mit der theoretischen Literatur zum Mindestlohn gilt auch für die empirische Literatur, dass die Befunde zu den Beschäftigungseffekten uneinheitlich sind und je nach konkretem Einzelfall erheblich variieren (Brenke und Müller 2013, S. 11). Hinsichtlich der Beschäftigungswirkung der Mindestlöhne in den USA kommt die sehr aussagekräftige Metaanalyse, basierend auf 64 Untersuchungen von Doucouliagos und Stanley (2009) zu dem Schluss, dass es bislang in der veröffentlichten empirischen Literatur einen erheblichen „publication selection bias“ zugunsten eines negativen Beschäftigungseffektes gab. Wenn hierfür entsprechend korrigiert wird, gibt es nur noch geringe oder keine statistischen Belege für einen negativen Beschäftigungseffekt des Mindestlohns in den USA.

Für Deutschland kommen Bosch und Weinkopf (2012, S. 58/59) in ihrer Expertise zu den Evaluationsberichten über die existierenden branchenbezogenen Mindestlöhne in Deutschland zu dem Schluss:

„Die sieben Evaluationsberichte, in denen die Beschäftigungseffekte mithilfe von Kontrollgruppen untersucht werden konnten, kamen […] alle zu dem übereinstimmenden Ergebnis, dass die Mindestlöhne keine negativen Auswirkungen auf die Beschäftigung in den untersuchten Branchen hatten.“

Vor dem Hintergrund dieser empirischen Ergebnisse und der von der Großen Koalition gewählten sehr vorsichtigen Vorgehensweise bei Einführung eines allgemeinen gesetzlichen Mindestlohns in Deutschland spricht einiges dafür, dass von diesem Mindestlohn keine gesamtwirtschaftlichen Beschäftigungseffekte ausgehen werden. Damit leistet die Politik mit der Einführung dieses Mindestlohns einen wichtigen Beitrag zur Stabilisierung der Lohnentwicklung in Deutschland.

Berechnungen auf der Grundlage der aktuellen Welle des SOEP für das Jahr 2012 zeigen, dass insgesamt etwas mehr als fünf Millionen Beschäftigte in Deutschland von der Einführung eines Mindestlohns in Höhe von 8,50 Euro profitieren würden, was einem Beschäftigungsanteil von mehr als 15% entspricht (Amlinger, Bispinck und Schulten 2014a).
Überträgt man diese Informationen auf die Jahre ab 2015, so dürfte dies einen direkten Effekt auf die Bruttolohn- und Gehaltssumme in einer Größenordnung von rund einem Prozent zur Folge haben. Zweitrundeneffekte sind hierbei nicht berücksichtigt.

Dieser Effekt wird aber nicht vollständig im Jahr 2015 wirksam werden, da der Mindestlohn durch die geplanten Übergangsregelungen erst 2017 uneingeschränkt gelten wird.
Insgesamt ist davon auszugehen, dass es 2015 infolge der Einführung des Mindestlohns zu einer positiven Lohndrift in der Größenordnung von einem halben Prozentpunkt kommen wird und – bei Tariflohnsteigerungen in Höhe von 3,1 % – die Effektivlöhne im nächsten Jahr um 3,6 % zunehmen werden, nach 3,2 % im Jahr 2014.

Die Erwerbstätigkeit wird in diesem Jahr im Inland um jahresdurchschnittlich rund 240 000 Personen oder 0,6 % zunehmen.“

So unterschiedlich sind also die Positionen der Wirtschaftswissenschaftler zum Mindestlohn und so sehr weichen deren Einschätzungen im Hinblick auf die Auswirkungen auf die Wirtschaft voneinander ab.

Was der Arbeitsmarktforscher Gerhard Bosch im Handelsblatt dem Sachverständigenrat vorgeworfen hat, dürfte auch auf für die Mehrheit der Konjunkturforschungsinstitute gelten: Hier wird der Stand der Forschung nicht angemessen und nach den herrschenden Normen gewürdigt und damit gegen den Ethikkodex verstoßen, den der Verein für Socialpolitik 2012 aufgestellt hat, um den lädierten Ruf der Volkswirtschaftslehre nach der Finanzkrise wiederherzustellen [PDF].

Das Ärgerliche ist nur, dass der Steuerzahler und in diesem Fall sogar durch einen Dienstleistungsauftrag des sozialdemokratisch geführten Wirtschaftsministeriums die Gemeinschaftsprognose teuer bezahlt. Noch schlimmer ist aber, dass die „Ratschläge“ dieser Projektgruppe durch ihren offiziellen Auftrag eine besondere Aufmerksamkeit genießen, so dass sie einen weitaus höheren Nachrichtenwert erhalten als Dutzende von Studien, die von dem von der Mehrheit der Institute vertretenen neoliberalen Mainstream abweichen und sich ihm entgegenstellen.

Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel könnte wenigstens für solche Gutachten Geld einsparen oder zumindest durch eine andere Auswahl von Ökonomen zu erkennen geben, dass in der Führung des Hauses ein Wechsel eingetreten ist.


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