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Titel: Revolte in französischen Trabantenstädten

Datum: 7. November 2005 um 14:05 Uhr
Rubrik: Arbeitsmarkt und Arbeitsmarktpolitik, Innere Sicherheit, Länderberichte, Ungleichheit, Armut, Reichtum
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Von Christine Wicht.

Ausgangsort der Unruhen war eine bisher eher ruhige Trabantenstadt: Clichy-sous-Bois, das Quartier liegt ca. 10 Kilometer nordöstlich von Paris. Seit elft Tagen liefern sich Jugendliche heftige Zusammenstöße mit Polizei- und Gendarmerieeinheiten. Jugendliche werfen mit Pflastersteinen, Flaschen und Molotowcocktails, auf der anderen Seite stehen behelmte Polizeieinheiten, die mit Tränengasgranaten und “flash-balls” (Gummigeschosse, mit denen die Polizei seit 2002 ausgestattet wurde) die Situation in den Griff bekommen wollen. Die Bürger haben Angst, die durchaus berechtigt ist. Seit Beginn der Unruhen wurden tausende Autos angezündet, eine ganze Flotte von Linienbusse, die in einem Depot geparkt waren ist ausgebrannt (Süddeutsche Zeitung vom 5.11.05). Mittlerweile brennen nicht nur Müllcontainer sondern Fabriken, Lagerhäuser, Autogeschäfte und Polizeistationen ja sogar Kindergärten oder Schulen. Bilder der Intifada im Nahen Osten drängen sich auf. Ein Ende der Gewalt ist nicht abzusehen.
Den Randalierern gibt der Gewaltausbruch ein Gefühl der Macht in ihrer Ohnmacht. Ladenbesitzer werden angegriffen, es gab schon einen Toten und viele Verletzte; die Bürger trauen sich nicht mehr auf die Strasse. Die Revolte hat sich auf viele andere französische Städte ausgebreitet und ist inzwischen im Zentrum der Hauptstadt angekommen.

Wie konnte es zur Eskalation kommen?

Ausgelöst wurde die Situation durch drei Jugendliche, die sich vor der Polizei in ein Umspannhäuschen des Elektrokonzerns EDF gerettet haben, was mit dem Tod für zwei Jugendliche endete. Ein Jugendlicher konnte sich mit schweren Verbrennungen retten. Die linksliberale Pariser Tageszeitung “Libération” hat recherchiert warum der Tod der Jugendlichen Auslöser für die Unruhen war: Für die Jugendlichen der französischen Trabantenstädte gehört es zum Alltag, sich den Schikanen der Polizei aussetzen zu müssen, Personalien anzugeben und auf der Wache über Stunden festgehalten zu werden. Die drei Jugendlichen fühlten sich von der Polizei verfolgt, wollten den Repressalien aus dem Weg gehen und flüchteten. Die Nachricht vom Tod der Jugendlichen verbreitete sich wie ein Lauffeuer.
Der französische Innenminister Nicolas Sarkozy ordnete seit längerem eine wesentlich verschärfte polizeiliche Sicherheitspolitik an, die sich seitdem vor allem auf die Bewohner der Trabantenstädte konzentriert. Er forderte als Antwort auf die Revolte in einem Interview “null Toleranz” gegenüber Gewalttätern, die er als “Abschaum” und “Gesindel” bezeichnete. Seine Aussage “Problemviertel mit dem Hochdruckreiniger zu säubern” rechtfertigte er damit, dass er eben eine deutliche Sprache spreche. Sarkozys einzige Antwort ist bisher Repression.
Das ist aber keinesfalls ein gangbarer Weg, um den Konflikten zu begegnen, denn die Jugendlichen der zweiten oder gar dritten Einwanderergeneration sind Opfer jahrelanger Versäumnisse von Politik und Gesellschaft, die ihnen keine Chance mehr auf eine Zukunft gegeben hat. Frankreich bekommt die Quittung für eine Politik der faktischen “Apartheid”. Die Ursache des eskalierten Konflikts liegt in der Perspektivlosigkeit einer ganzen Generation, die ausgegrenzt am Rande der Gesellschaft leben muss. Das rechtfertigt das Verhalten der Jugendlichen moralisch nicht, aber die Attacken der Jugendlichen sind ein brutaler Reflex auf ihre Hilfs- und Perspektivlosigkeit.

Sozialpolitischen Versäumnisse

Die Unzurfriedenheit mit den Versäumnissen eines brüchiger werdenden Sozialstaates, die sich schon mit dem “Non” der Franzosen zum Europäischen Verfassungsvertrag abzeichnete, kommen hier in verschärfter Form zum Ausdruck. Ulrich Wickert sagte sehr treffend in den Tagesthemen am 5.11.05, dass es die französischen Regierungen seit 20 Jahren versäumt haben, die sozialen Probleme der Randgruppen anzugehen. Dem französischen Staat muss man hier geradezu Ignoranz vorwerfen, denn welcher soziale Zündstoff sich in der französischen Republik ansammelte, war schon lange bekannt, aber weder Mitterand noch Jospin noch Chirac haben einen ernsthaften Versuch unternommen die Probleme zu lösen. Eine Gettoisierung ethnischer Gruppen, die gleichzeit die Verlierer der ökonomischen Umwälzungen sind, und die Ausgrenzung in “rechtsfreie” Gebiete, schafft die Probleme im Wortsinne an den Rand, löst sie aber nicht. Der Sozialminister Jean-Lous Borloo räumte ein, dass zu wenig getan werde, um die soziale Lage in den Vorstädten, den Banlieues (altfranzösischer Ausdruck für “Bannmeile” (le ban = der Bann, und la lieue = die Meile, aus dem17. Jahrhundert), zu verbessern. Azouz Begag, Minister für Chancengleichheit, selbst Algerier und in einer Vorstadt von Lyon aufgewachsen und mit den Problemen der Menschen in den Banlieues aus eigener Erfahrung vertraut, setzt sich seit seinem Amtsantritt für mehr Zugangschancen der Bewohner in die französiche Gesellschaft ein.
Michel Wieviorka, der Direktor der französischen Hochschule für Sozialwissenschaften, hat am Beispiel von zurückliegenden Unruhen in Le Havre, Straßburg und Lyon eine Studie erstellt und ortet in den Attacken der Jugendlichen eine “Antwort auf den Ausschluss von der Konsumgesellschaft”. Wut und Zorn nähren sich, so der Soziologe, stets aufs Neue, weil diese Viertel “immer mehr gettoisiert werden und die soziale Ausgrenzung zunimmt”. Wieviorka legt den Finger in die Wunde: Die hinter den Unruhen brodelnden gesellschaftlichen Konflikte sind jedoch bis heute nicht einmal in der öffentlichen Debatte. Auch seit dem Ausbruch der Revolte sind die sonst in Frankreich üblichen öffentlichen Kontroversen ausgeblieben. Es herrscht Ratlosigkeit oder ist es eher Resignation? Die Diadochenkämpfe um die Präsidentschaft zwischen Innenminister Nicolas Sarkozy und Premier Dominique de Villepin wirken angesichts der sozialpolitischen Katastrophe nur noch lächerlich.

Die Struktur der Pariser Trabantenstädte

Die Siedlungen sind während der Industrialisierung im 19. Jahrhundert stark angewachsen, weil umweltbelastende Industriezweige am Rande der Großstadt angsiedelt wurden. Durch die Einwandererwelle, nicht nur aus Afrika sondern auch aus südosteuropäischen Gebieten, im 20. Jahrhundert, gab es nochmal einen kräftigen Zuzug. Die Struktur der Bewohner ist daher sehr gemischt, es gibt keine ethnisch abgegrenzten Viertel, eine Mischung der verschiedenen Völker prägt das Bild der Gebiete. Bandenkriege und Kriminalität und Kampfhunde gehören zum Alltag. Was die Menschen verbindet ist ein geringes Einkommen, beengter Wohnraum, soziale Ausgrenzug und keine Aussicht auf eine einigermaßen gesicherte Zukunft. In die Trabantenstädte, deren Häuser großteils von einer menschenunwürdigen Architektur geprägt sind, wurden in den vergangenen Jahrzehnten immer mehr Menschen abgedrängt, die im überteuerten Paris keinen ihren Einkünften entsprechenden Wohnraum mehr gefunden haben. Die Bewohner leben äußerst beengt in triesten Hochhäusern, in einfachen, billigen Plattenbauten. Jacques Chirac war von 1977 bis 1995 Bürgermeister von Paris, gerade auch aufgrund seiner Sanierungs- und Mietpolitik wurden viele Bewohner in die Randgebiete der Metropole gedrängt, was die Situation noch weiter verschärft hat. Die Bewohner der französischen Trabantenstädte haben kaum eine Aus- oder gar Aufstiegsmöglichkeit in der französischen Gesellschaft. Schon wenn sie ihre Adresse bei Bewerbungen angeben, verringern sich ihre Chancen auf dem Arbeitsmarkt. Die Vororte haben zudem eine extrem schlechte Anbindung an die öffentlichen Verkehrsmittel was die räumliche Eingrenzung bei gleichzeitiger sozialer Ausgrenzung der Bewohner noch weiter verstärkt (Quelle: trend.infopartisan.net).

Bildung und Arbeit

Der Bürgermeister von Neuilly-Plaisance, Christian Demuynck, verlangt nun Geld aus Paris zur Gewaltprävention. Premier Dominique de Villepin erklärte, Ordnung und Recht würden das letzte Wort haben. Doch die Versäumnisse der Regierungen in den letzten Jahren und Jahrzehnten können nicht in wenigen Tagen aufgeholt werden. Es werden differenzierte soziale Programme nötig sein, aufwändige und nur langfristig wirkende Integrationsmodelle. Die gesamte Bildungspolitik in Bezug auf die betroffenen sozialen Gruppen müsste neu strukturiert werden. Dass das viel gelobte französische Ganztagsschulmodell seine Integrationsleistung in den Vorstädten nicht mehr erbringt, ist seit Jahren bekannt, schon in den 1990er-Jahren wurde viel darüber diskutiert. Bereits im Jahre 2003 streikten Lehrer in den Schulen der Trabantenstädte, sie wollten auf die katastrophalen Bedingungen aufmerksam machen, unter denen sie unterrichten müssen. Bis zu 44 verschiedene Nationen waren in einer Jahrgangsstufe vertreten, zudem waren die Schulen äußerst schlecht ausgestattet, was eine gute Bildung gerade in sozial schwachen Gebieten noch weiter erschwert, dabei ist Bildung eine der Voraussetzungen, um der Abwärtsspirale entkommen zu können.
Früher gab es in den Randgebieten Fabriken, die mittlerweile geschlossen wurden. Arbeitsplätze gerade der niedrig qualifizierten Arbeiter sind weggebrochen, den Menschen fehlt eine bessere Qualifikation, um wieder eine Chance auf dem Arbeitsmarkt bekommen zu können.Wenn Menschen nichts mehr zu verlieren haben und sie – durch was auch immer – in ihrer Wut angestachelt werden, dann greifen sie alles an, was ihrer Meinung nach Ausdruck von Geld und Macht ist. Autos und Fabriken werden Ziel ihres Hasses, dass sie damit auch anderen Bürgern schaden, denen es nicht viel besser geht und sie diese mit in den Sog von Armut und Aussichtslosigkeit ziehen, das ist nicht in ihrem Bewusstsein.Verstärkt wird das Verhalten durch einen abgrundtiefen Hass auf die sogenannte “Gesellschaft”, die sie ablehnen, weil sie in ihren Augen schuld an ihrer Situation ist. Alles was materieller Ausdruck der etablierten Gesellschaft ist, wird angegriffen.

Die Misere zeigt, wie wichtig es ist, dass der Staat seinen sozialen und integrativen Aufgaben gerecht wird, allen Bürgern Chancengleichheit und ein würdiges, eigenständiges Leben zu eröffnen. Wenn aber die Staatskassen leer sind und das Geld für Bildung und soziale Integration fehlt, dann verändert sich die gesamte Gesellschaftsstruktur, nur noch diejenigen Bürger haben eine Zukunft, die auch über die nötigen finanziellen Mittel verfügen, sich eine Bildung oder eine Wohnung in einem „guten“ Stadtviertel leisten zu können und sich somit eine Chance und einen Platz in der Gesellschaft erkaufen können. Aufgrund der auch in Frankreich vorherrschenden neoliberalen Wirtschaftsphilosophie ist der Gemeinwohlgedanke weitgehend abhanden gekommen, er gilt als antiquiert – denn jeder ist für sich selbst verantwortlich – wohin der Begriff der sogenannten „Eigenverantwortung“ führt, wird uns jetzt in Frankreich vor Augen geführt. Mangels ausreichender Bildung sind die Betroffenen überhaupt nicht in der Lage Eigenverantwortung zu übernehmen – jedenfalls nicht, wie sich das die “Gesellschaft” wünscht und wie sie es von den einzelnen abverlangt.

Frankreich, die Wurzel der Revolutionen

Frankreich ist das Land der Revolutionen. Renitente Bauern wehren sich gegen EU-Bestimmungen, gegen McDonalds, genmanipulierte Lebensmittel, Arbeiter streiken und legen die Wirtschaft lahm, während andere Europäer aus Angst ihren Arbeitsplatz zu verlieren – jedenfalls bisher noch – die Verschlechterungen ertragen. Die Franzosen waren Vorkämpfer für soziale Rechte und gegen die Übermacht der Herrschenden. 1789 ging vom Sturm auf die Bastille die französische Revolution aus. Diese bilder leben im kollektiven Gedächtnis der Franzosen fort. Damals wurde das Modell der modernen republikanischen Staats- und Gesellschaftsordnung geschaffen. Die Bürger kämpften für ihre persönliche Freiheit für Meinungs- und Pressefreiheit, vor allem aber für die Gleichheit aller Bürger vor dem Gesetz und sie kämpften für Brüderlichkeit. Das Selbstbestimmungsrecht des Volkes und die Grundrechte sind heute fundamentaler Teil des Bewusstseins der Bürger aller westlichen Demokratien und die Grundlage der Rechte demokratischer Staaten. Das Bürgertum wollte die sozialen Ungerechtigkeiten und Privilegien des Adels nicht mehr hinnehmen und wehrten sich gegen die Monarchie und ihre Feudalherren unter Einsatz ihres Lebens. „Ohne soziale Gerechtigkeit ist die Republik wertlos“ (Zitat von Jean Ziegler aus „Das Imperium der Schande“). Heute über zweihundert Jahre später gibt es wieder vergleichbare gesellschaftliche Widersprüche, es gibt wieder eine ausgegrenzte und entrechtete Bevölkerungsgruppe, der mit Respektlosigkeit und Ablehnung begegnet wird, deren Selbstwertgefühl mit Füßen getreten wird, die nichts mehr zu verlieren hat und die gewaltsam aufbegehrt. Die Gesellschaft reagiert wie damals Marie – Antoinette und fragt, “wenn sie kein Brot haben, dann sollen sie halt Kuchen essen”. Und Sarkozy reagiert ein Stück weit wie Ludwig XVI.: Die bürgerliche Mehrheit der “Gesellschaft” hinter sich wissend, pöbelt er gegen den vermeintlichen Pöbel. Repression wird aber nur zu einer Eskalation der Gewalt unter den Jugendlichen führen. Die Gewalt kann nur erstickt werden, wenn vor allem die Jungen wieder Hoffnung schöpfen können.

Als Ausweg bietet sich dem französischen Staat hat nur das Angebot einer zukunftsweisenden Integrationspolitik, die müsste aber weit über die Anerkennung der Staatsbürgerschaft und des Wahlrechts hinausgehen, denn „Ein Stimmzettel nährt den Hungernden nicht“ (Berthold Brecht). Diese Integrationspolitik darf nicht nur aus einem Sicherheitsbedürfnis heraus begründet werden, sondern sie müsste eine ehrliche, nachhaltige Politik für eine gesellschaftliche und wirtschaftiche Inklusion künftiger Immigranten-Generationen anbieten.
Das ist nicht nur eine der drängendsten gesellschaftspolitischen Aufgaben für Frankreich sondern auch für andere europäische Länder, die in gleicher Weise mit der Problematik der Immigranten konfrontiert sind, sei es in den Niederlanden oder auch in England. Ein zentrales Element, die Unzufriedenheit aufzufangen, ist eine Verbesserung der Arbeitsmarktsituation für die jüngeren Menschen, denn Arbeitslosigkeit ist eine der entscheidenden Ursachen für die soziale Auswegslosigkeit. Die dramatische Jugendarbeitslosigkeit, nicht nur in Frankreich, sondern auch in Deutschland, insbesondere in den neuen Bundesländern birgt ein gewaltiges Frustpotential, das sich auch bei uns in Gewaltexzessen entladen könnte. In einer zunehmend egoistischen Gesellschaft avancieren Gewalttäger unter ihren Schicksalsgenossen schnell zu Helden und sinnlose Zerstörungen werden völlig irrational verklärt. Versäumnisse in der Bildung und bei der sozialen Unterstützung von staatlicher Seite für Randgruppen bereiten einen Nährboden auf dem Hass und danach Gewalt und Gesetz- und Rechtlosigkeit gedeihen können.
Politische Entscheidungsträger müssen einsehen, dass ein dauerhafter sozialer Frieden ohne eine materielle Basis vor allem über Arbeit und die Hoffnung auf Gerechtigkeit bei den den Bildungs- und damit auch gesellschaftlichen Aufstiegschancen nicht möglich ist.

Die “Gesellschaft” sollte und darf sich in ihren vornehmen Vierteln nicht verschanzen, wenn den “Palästen” erst einmal der Krieg erklärt wird, ist es zu spät.


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