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Titel: Wenn das Bundesverfassungsgericht Regierungsversagen sekundiert

Datum: 19. September 2014 um 8:47 Uhr
Rubrik: Bundesregierung, Bundesverfassungsgericht, Verfassungsgerichtshof, Hartz-Gesetze/Bürgergeld, Sozialstaat
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In einem gerade veröffentlichten Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 23. Juli 2014 bescheinigt das BVerfG dem Gesetzgeber, sowohl bei der Neufestsetzung des HartzIV-Regelbedarfs als auch bei der jährlichen Fortschreibung des Betrages, verfassungsgemäß gehandelt zu haben. Die Begründung der Karlsruher Richter lässt jedoch an vielen Stellen eine brüchige Argumentation zutage treten. Und wieder einmal wird dadurch Regierungshandeln legitimiert, das zulasten der Ärmsten unserer Gesellschaft geht. Denn damit werden grundlegende Rechte, die im deutschen Grundgesetz zum Schutz der Bürger festgelegt sind, ausgehebelt. Von Lutz Hausstein [*]

Zwar bemüht sich das BverfG von Beginn an, kritische Zwischentöne anzuschlagen, indem es den seit den Gesetzesänderungen 2011 sogenannten Regelbedarf als „derzeit noch verfassungsgemäß“ beschreibt und damit aufzuzeigen scheint, dass eine Grenzregion erreicht wäre. Unter dem Strich wird dies jedoch so verstanden werden, dass der Regelbedarf verfassungsgemäß sei. Eben genau das ist er jedoch nicht. In der Anwendung des aktuellen Berechnungsverfahrens wie auch ebenso zuzüglich der nachgelagerten Überarbeitung einer Vielzahl von Bedarfspositionen in Form von Abzügen verfehlt der Regelbedarfsbetrag genau das, was das Grundgesetz zwingend vorschreibt, das BverfG in seinem Urteil vom 9. Februar 2010 noch einmal heraushob und selbst das jetzige BverfG-Urteil als ausschlaggebenden Maßstab mehrfach betont: die Sicherstellung des gesamten Bedarfs der Hilfebedürftigen. Und dieser Bedarf ergibt sich unbestreitbar aus physischen Notwendigkeiten zur Existenzsicherung sowie einem Mindestmaß an sozio-kultureller Teilhabemöglichkeiten.

Armut als Maßstab für Armut

Schon mit der Grundannahme, dass das Statistikmodell der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe des Statistischen Bundesamtes (EVS) qua Deklaration geeignet sei, den Bedarf der Hilfebedürftigen zu berechnen, begibt sich das BverfG in eine entscheidende Sackgasse, aus der es anschließend trotz aller Hinzufügungen, Mahnungen und Restriktionen nicht mehr herauskommt. Auch schon ohne die Einbeziehung der Abzüge ganzer oder teilweise Bedarfspositionen kann durch die Logik der Statistikmethode keinesfalls der Bedarf der Hilfebedürftigen berechnet werden. Polemisch ein wenig zugespitzt könnte man es vergleichen mit jemandem, der sich mit einem Digitalthermometer neben eine Autobahn stellt, um damit die Geschwindigkeit der vorbeifahrenden Fahrzeuge zu messen: das Gerät liefert bis auf die zweite Kommastelle genaue Ergebnisse – doch diese haben keinen Bezug zum eigentlich zu messenden Wert. Denn es werden mittels der EVS-Statistikmethode nur die Verbrauchsausgaben einer anderen – vor allem aber ebenfalls armen – Bevölkerungsteilgruppe statistisch erfasst. Damit ist jedoch keineswegs gesichert, dass diese wiederum selbst die grundgesetzlichen Ansprüche der physischen Existenzsicherung und sozio-kulturellen Teilhabe wahrnehmen können. Sie können ebenso wie die Hilfebedürftigen gezwungenermaßen auf Elemente dieser Grundrechte verzichten (müssen), da ihr geringes Einkommen es ihnen nicht ermöglicht, sie zu realisieren.

Insbesondere vor dem Hintergrund der erheblichen Zunahme prekärer Beschäftigung in den vergangenen Jahren ist dieser Punkt überaus plausibel. Bezieher von Niedrigeinkommen können es sich eben nicht mehr wie noch vor einigen Jahren leisten, wenigstens gelegentlich einmal ins Kino oder ins Restaurant zu gehen, mit Freunden am Wochenende etwas zu unternehmen oder sich jährlich wenigstens einmal in zumindest nahen Gefilden im Urlaub zu erholen. Sie müssen Kleidung länger tragen, als es deren Beschaffenheit eigentlich zulässt. Und das einzig und allein deswegen, weil ihr niedriges Einkommen nicht ausreicht, diese Aktivitäten einer einfachen sozio-kulturellen Teilhabe wahrzunehmen. Sie sind dazu gezwungen, ihr Augenmerk ausschließlich darauf zu richten, die existentiellen Dinge des täglichen Lebens begleichen zu können.

Die Logik der Statistikmethode führt jedoch dazu, dass diese Bevölkerungsgruppe, die selbst schon von vielen Elementen sozio-kultureller Teilhabe ausgeschlossen ist, nun wiederum zum Maßstab für den vermeintlichen Bedarf der Hilfebedürftigen gemacht wird. Die Verkleinerung der Referenzgruppe von den ärmsten 20 Prozent auf die ärmsten 15 Prozent im Zuge der Gesetzesänderungen 2011 ändert an dieser Problematik prinzipiell nichts. Sie verstärkt nur die Tendenz, von gesellschaftlich üblichen Verrichtungen Ausgeschlossene konsequent zum Maßstab der Hilfebedürftigen zu machen. Das Statistikmodell zementiert demzufolge die weitere Abkopplung eines ärmer werdenden Teils der Gesellschaft von einem anderen Teil, der immer reicher wird. Die Polarisierung in der Gesellschaft schreitet so weiter voran.

All dies lässt deutlich werden, dass von einer Bedarfsermittlung und demzufolge auch von einer Bedarfsdeckung mithilfe der durch die Statistikmethode berechneten sozialen Mindestsicherung keine Rede sein kann. Auch die vom BVerfG in seinem aktuellen Urteil eingestreuten Restriktionen verfehlen jegliche Wirkung. Beispielhaft so die allgemein formulierte Forderung, dass „die Anforderungen des Grundgesetzes, tatsächlich für eine menschenwürdige Existenz Sorge zu tragen, im Ergebnis nicht verfehlt werden [dürfen].“ Da diese Forderung sich an den Gesetzgeber selbst richtet, bedeutet das in der Praxis, dass dieser seine eigenen Festlegungen und Gesetze kritisch überprüfen und notwendigenfalls revidieren soll, ohne dass dazu ein externer Zwang bestünde. Es gibt eine Vielzahl von Gründen, welche eine solche Annahme als reichlich praxisfremd erscheinen lassen. Insofern verpufft die Vorgabe des BVerfG wirkungslos und erweist sich als eine Schein-Grenze ohne praktische Relevanz. Öffentliche Diskussionen in der Vergangenheit über Zweifel an der existenzsichernden Wirkung der Mindestsicherung haben anschaulich gezeigt, dass die jeweilige Regierung, gleichgültig welcher Zusammensetzung, stets schon allein aus der bestehenden Berechnung deren Richtigkeit ableitete und anschließend damit argumentierte, dass aus diesem Grund keine weiteren Fakten über die Wirkung in der Realität unterlegt werden müssten. Eine faktenbasierte Überprüfung der bedarfsdeckenden Wirkung einer bestimmten Berechnungsmethode hat außerhalb eines Gesetzgebungsverfahrens noch niemals stattgefunden. Innerhalb eines solchen allerdings auch nicht. Und so verkommt die Mahnung des BVerfG zu einem Placebo. Gleichzeitig beschränkt das BVerfG seine eigenen Kompetenzen mit der Aussage, nach der es sich selbst nur eine „zurückhaltende Kontrolle“ zubilligt.

Während das BverfG beide Augen zukneift …

Doch nicht nur beim Verfahren zur Ermittlung des Regelbedarfsbetrags wird vom BVerfG das Prinzip der unabdingbar zu gewährleistenden Existenzsicherung unzureichend beachtet. Es ist dem Statistikmodell geschuldet, dass der Regelbedarfsbetrag in den Jahren zwischen den nur aller fünf Jahre durchgeführten EVS des Statistischen Bundesamtes mit einem Faktor fortgeschrieben werden muss. Auch hier bestätigt das BVerfG lediglich die Entscheidung der Bundesregierung, diesen Faktor aus einem gewichteten Mix aus Preis- und Lohnentwicklung im Verhältnis 70:30 vorzunehmen ist. Obschon das BVerfG in seiner Einschätzung zu erkennen gibt, dass es den bedarfssichernden Aspekt der Preisentwicklung als ausschlaggebend versteht, negiert es diese Einsicht gleich wieder, indem es die Einbeziehung der Lohnentwicklung als nicht verfassungswidrig passieren lässt. Die Entwicklung der Preise ist jedoch einzig und allein Grundlage dafür, ob die Hilfebedürftigen den für sie notwendigen Bedarf zu decken imstande sind oder nicht.

… spielen einige Politiker die Einpeitscher

Kein anderer Aspekt ist darüber hinaus von irgendeinem Belang. Lohnentwicklungen ebenso wenig wie die Entwicklung von Renten oder der Wechselkurs zum Yen. Wie wenig gerade führende Politiker sich für grundlegende Logiken interessieren und stattdessen lieber populistisch Kampagnen wider die Armen führen, zeigt aktuell Michael Fuchs (CDU). Mit Unterstützung der Bildzeitung polemisiert er gegen die gerade verkündete Erhöhung des Regelbedarfsbetrags um acht Euro zum 1. Januar 2015 und spielt hierbei wieder einmal Rentner gegen AlG2-Empfänger aus. Dass das eine mit dem anderen nichts zu tun hat und welcher logischen Grundlage dieser Erhöhung folgt bzw. eigentlich richtigerweise folgen müsste, interessiert den stellvertretenden CDU-Fraktionsvorsitzenden dabei nicht. Doch dabei belässt es Fuchs nicht. Fuchs pflegt wieder einmal das Vorurteil des nie oder kaum arbeiteten Arbeitslosen, indem er die vermeintliche Schlechterstellung von Rentnern gegenüber Arbeitslosen, die „wenig oder gar nichts in die Sozialkassen eingezahlt haben“, beklagt. Dieses beständige Spiel mit Vorurteilen und Unterstellungen hat jedoch selten mit der Wirklichkeit zu tun, eignet sich allerdings hervorragend, um Stimmung zu machen.

All die Entlassungswellen für die vielen hunderttausende Beschäftigten bei Nokia Bochum, Karstadt oder Karstadt, Quelle, Schlecker – und wie die Firmen noch so hießen und heißen – ohne die Chance auf „Anschlussverwendung“ (O-Ton Philipp Rösler) machen aus fleißigen Steuerzahlern von heute auf morgen Arbeitslose, die noch nie in die Sozialkassen eingezahlt haben. Arbeitslose sind nunmal „faule Grippel“, wie der CSU-Bundestagsabgeordnete Stephan Stracke so urig bayrisch meinte. Richtig, MdB Stracke ist – ebenso wie Michael Fuchs – einer von denen, die sich laut BVerfG selbst kritisch überprüfen sollen, ob das Berechnungsverfahren zur Regelbedarfshöhe auch wirklich realitätsgerechte Ergebnisse liefert. Da sollte voraussehbar sein, dass eine solche Selbstüberprüfung auch nur „grippelige“ Ergebnisse liefern dürfte. Aber wenigstens funktioniert die Anschlussverwendung der meinungsformenden Polit-Eliten wie immer gewohnt reibungslos.

Anstatt die eigene Kontrollmöglichkeit hervorzuheben und zu stärken, weist das BVerfG diese an ebenjenen Gesetzgeber zur Selbstkontrolle zurück, deren Repräsentanten in steter Regelmäßigkeit vor vorurteilsbehafteten Populismus nur so triefen. Werte Richter in Karlsruhe: Ihr seid die letzte, wenngleich relative schwache, Brustwehr gegen politische Entscheidungen im fernen Berlin, welche immer häufiger grundgesetzlich verbürgte Rechte aushebeln. Eine Rücküberweisung zur Selbstkontrolle ist daher die schlechteste aller Möglichkeiten. Die Sekundierung verfassungswidriger Gesetzgebung, mit der Grundrechte missachtet werden, entspricht nicht eurer Aufgabe als unabhängiges Verfassungsorgan.

Im Ergebnis bleibt es dabei. Der Regelbedarfsbetrag ist ebenso verfassungswidrig wie die Fortschreibung desselben, denn beide erfüllen die ihnen zugedachte Funktion nicht: die Sicherstellung des Bedarfs der Hilfebedürftigen.


[«*] Lutz Hausstein (46), Wirtschaftswissenschaftler, ist als Arbeits- und Sozialforscher tätig. In seinen 2010 und 2011 erschienenen Untersuchungen „Was der Mensch braucht“ ermittelte er einen alternativen Regelsatzbetrag für die soziale Mindestsicherung. Er ist u.a. Ko-Autor des Buches „Wir sind empört“ der Georg-Elser-Initiative Bremen sowie Verfasser des Buches „Ein Plädoyer für Gerechtigkeit“.


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