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Titel: Neuwahlen in der Türkei?

Datum: 18. August 2015 um 9:15 Uhr
Rubrik: Länderberichte, Strategien der Meinungsmache, Terrorismus, Wahlen
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Die Option einer „Großen Koalition“ in der Türkei ist vom Tisch. Während der amtierende Ministerpräsident Davutoğlu hierfür inhaltliche Unterschiede in der Außen- und Bildungspolitik verantwortlich macht, heißt es aus der Opposition, dass sich Staatspräsident Erdoğan quergestellt habe: Er strebe weiterhin eine AKP-Alleinherrschaft und die Einführung eines Präsidialsystems mit ihm als starkem Mann an der Spitze an – koste es, was es wolle. Der mögliche Koalitionspartner, die sozialdemokratische CHP, gab bekannt, ihnen sei am Ende nur die Möglichkeit einer Übergangsregierung für drei Monaten angeboten worden. Auch die nationalistische MHP winkte am Montag ab. Alles spricht nun für Neuwahlen im November. Doch was sollen diese bringen? Eine Analyse von Ralf Hoffmann[*]

Die Veränderung der Parteienlandschaft nach der Wahl

Nach der Parlamentswahl am 7. Juni schien sich die politische Landschaft in der Türkei geradezu tektonisch verschoben zu haben. Die regierende AKP verlor nach über einem Jahrzehnt ihre absolute Mehrheit im Parlament. Die Ambitionen von Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan, der sich trotz seiner verfassungsrechtlich gebotenen Neutralitätspflicht massiv in den Wahlkampf eingemischt hatte, ein „Präsidialsystem“ mit ihm an der Spitze einzuführen, schienen zerschlagen. Es musste eine Koalitionsregierung her – oder Neuwahlen. Zunächst prüfte man die erste Option und dafür ging kein Weg an den anderen Parteien vorbei, nämlich der auf den Staatsgründer Atatürk zurückgehenden kemalistischen CHP (Cumhuriyet Halk Partisi, deutsch: Republikanische Volkspartei), der (ultra-)nationalistischen MHP (Milliyetçi Hareket Partisi, deutsch: Partei der Nationalistischen Bewegung) und der pro-kurdischen HDP (Halkların Demokratik Partisi, deutsch: Demokratische Partei der Völker). Letztere hatte bei der Wahl erstmals die berüchtigte 10-Prozent-Hürde übersprungen: durch einen linksgerichteten Wahlkampf gelang es den Spitzenkandidaten Selahattin Demirtaş und Figen Yüksekdağ neben kurdischen Stammwählern, auch all diejenigen der „Generation Gezi“ hinter sich zu bringen, die weder den „starken Mann“ Erdoğan noch die mit ihren Ideen in die Jahre gekommenen Kemalisten an der Macht sehen wollten. Die HDP trat als weltoffene, friedliche und moderne Partei auf, die mit den etablierten Parteien wenig gemein hat – man könnte den Aufstieg in etwa mit dem Auftauchen der „Grünen“ in der deutschen Parteienlandschaft vergleichen.

Gespaltene Reaktionen auf das Wahlergebnis

Die Reaktionen auf das durchaus überraschende Wahlergebnis waren gespalten: Vor allem ausländische Beobachter hatten Hoffnung auf eine neue politische Kultur, auf Brücken, die zwischen den zerstrittenen politischen Lagern gebaut werden könnten. Vor allem auch auf eine endgültige Lösung der seit Jahrzehnten unbeantworteten „kurdischen Frage“.

Nachdem der Wahlkampf der AKP hauptsächlich auf den Staatspräsidenten und das – inhaltlich stets vage gebliebene – „Präsidialsystem“ für eine „neue“ und „starke“ Türkei ausgelegt war, sahen Kritiker Erdoğan jetzt als geschwächt an und spekulierten auf dessen Isolierung in der von ihm mitgegründeten Partei. Unmittelbar nach der Wahl war es auch zunächst sehr still um das Staatsoberhaupt: Der 61-jährige hatte sich nach einem Marathon-Wahlkampf über drei Tage in der neugebauten – und vom obersten Verwaltungsgerichtshof als illegal eingestuften – Präsidentenresidenz Aksaray (deutsch: Weißer Palast) in Ankara verschanzt.

Andere sahen durch die Wahlen vor allem den Nationalismus gestärkt: sei es den türkischen, sei es den kurdischen. In der inoffiziellen Hauptstadt der Kurden Diyarbakir kam es zu volksfestähnlichen Zuständen. Die kurdische Sache sei politisch noch nie so stark vertreten wie jetzt, jubelte man. Die HDP und der Kampf um Kobane hätten die Kurden wieder zurück auf die politische Landkarte befördert. Die internationale Gemeinschaft wisse, dass die PKK (Partîya Karkerén Kurdîstan, deutsch: Arbeiterpartei Kurdistans) und ihre Verbündeten in Syrien, die PYD (Partiya Yekîtiya Demokrat, deutsch: Partei der Demokratischen Union) die einzigen Kampfeinheiten seien, die in ihrer Rhetorik auf Begriffe wie Demokratie, Menschenrechte oder Emanzipation der Frau Wert lege und gleichzeitig hoch effektiv gegen den IS kämpfe – jetzt sei es Zeit Forderungen zu stellen.

Währenddessen erklärten die türkischen Nationalisten der MHP mögliche Zugeständnisse an die „Babymörder“ der PKK und ihren „parlamentarischen Arm“ (gemeint war die HDP) von Beginn an zu einem absoluten No-Go. Eine Anti-AKP-Koalition aus den drei kleinen Parteien war deshalb schnell kein Thema mehr – auch wenn alle drei sich im Wahlkampf nichts sehnlicher gewünscht hatten als ein Ende der Macht der AKP und eine Schwächung des Staatspräsidenten.

Abgesehen von politischen Analysten und ausländischen Beobachtern waren die Menschen in der Türkei nach den Wahlen vor allem eins: skeptisch. Die meisten kennen die kaum überbrückbaren Gräben zwischen den politischen Lagern nur allzu gut. Dazu kommt, dass man in der Türkei mit Koalitionen keine guten Erinnerungen verbindet. Meistens hielten diese nicht lange und endeten im Streit der „Alpha-Männchen“. Wer Zugeständnisse machte, drohte am Ende als Schwächling dazustehen. Konsens-Kultur? Keine Spur.

Nur für die treuen AKP-Anhänger – immerhin noch mehr als 40 % der Wählerinnen und Wähler – änderte sich zunächst nicht viel: die alte Regierung blieb kommissarisch im Amt und man würde ohnehin in jeder Konstellation am Hebel bleiben. Man hoffte nur, dass der ökonomische Aufschwung der letzten Jahre und die umfangreichen Geldspritzen aus dem Ausland jetzt nicht abebben würden.

Insbesondere die junge „Generation Gezi“ in Istanbul, Ankara und Izmir setzte von Anfang an kaum Hoffnungen in die Koalitionsgespräche. Sie konnten sich einfach nicht vorstellen, dass die AKP, dass Davutoğlu und Erdoğan, freiwillig ihre Macht teilen würden. Aus ihrer Sicht hatte die AKP in den Auseinandersetzungen um den Taksim-Platz ihr „wahres Gesicht“ gezeigt, war gegen unliebsame JournalistInnen vorgegangen und hatte Staatsanwälte und Richter systematisch versetzt. Jede Regierungsbeteiligung einer anderen Partei würde auch Teilhabe an brisanten Informationen mit sich bringen. Was in den Archiven von Sicherheitsbehörden und Ministerien im Zusammenhang mit den Korruptionsvorwürfen vom Dezember 2013 noch so schlummert – betroffen waren unter anderem der Sohn Erdoğans, mehrere amtierende Minister sowie angesehene Geschäftsleute – könnte zu gefährlich sein, um in falsche Hände zu geraten. Von den Kemalisten der CHP wiederum erwarteten sie nicht viel, die jungen, gut ausgebildeten Leute hielten sie für kaum minder autoritär und rückwärtsgewandt als die AKP, ein Symbol für ein starkes Militär und elitäres Durchregieren.

Und dann kam die Gewalt…

Am 20. Juli explodiert eine Bombe im Gemeindezentrum von Suruç, einer Grenzstadt zu Syrien. Es sterben 33 Anhänger einer sozialistischen, pro-kurdischen Jugendorganisation, die Aufbauhilfe für die zwischen den Paramilitärs der kurdischen PYD und dem IS umkämpfte Stadt Kobane leisten wollten. Das türkische Innenministerium spricht sofort von einem Terroranschlag. Schon wenige Stunden nach dem Anschlag sind sich Politik und Medien einig: das war eine Tat des Islamischen Staats.

Am nächsten Tag gab es jedoch verwirrende Spekulationen: Eine den Geheimdiensten bekannte 18-jährige türkische Rückkehrerin sei womöglich die Täterin gewesen. Das stimmte dann aber offenbar doch nicht: Am Ende wird ein sunnitischer Kurde, der dem ISIS angehört und sich mehrmals im Kriegsgebiet aufgehalten haben soll, als Täter genannt. Auch wenn man noch nicht wusste, wer die Bombe gezündet hatte, zweifelte kaum jemand daran, wer die Hinterleute waren. Interessant auch, wie gut sich der Islamische Staat in der türkischen Innenpolitik anscheinend auskannte und sich gerade eine mit der HDP in Zusammenhang stehende Jungendorganisation als Ziel suchte.

In den Medien hieß es jedenfalls unisono: Der IS tötet auch in der Türkei.

Spekulationen um den Anschlag in Suruç

Erklärungsmuster waren schnell gefunden: Die Bombe als Ausdruck des islamistischen Größenwahns von ISIS, dessen erklärtes Ziel ja die Eroberung von Konstantinopel und Rom ist. Rache an den verfeindeten Kurden, gegen die man in Nordsyrien – nicht nur in Kobane – erbittert kämpft. Ein Zeichen gegen die zu moderaten und damit ungläubigen Sunniten in der Türkei. Die der CHP nahestehende Tageszeitung Cumhurriyet zweifelt an der Version und fragt, warum der IS – der seine Gräueltaten sonst immer öffentlich feiert – diesmal keine Propaganda-Videos und Selbstpreisungen ins Netz stellt.

Es gibt noch weitere Gegenthesen, die allerdings nicht weniger reflexartig erscheinen als das offizielle Medienecho: die türkische Regierung – der HDP-Vorsitzende Selahattin Demirtas spricht später von einem „Gladio-Kommando“ unter dem direkten Befehl Erdoğans – habe den Anschlag geplant oder jedenfalls wissentlich nichts gegen ihn getan. Endlich habe die AKP einen Grund gefunden, um gegen das kurdische Unabhängigkeitsprojekt ‚Rojava‘ in Nordsyrien vorzugehen, heißt es in sozialen Netzwerken. Es sei doch klar: Als nächstes werde eine „Sicherheitszone“ an der syrisch-türkischen Grenze eingerichtet, um damit die kurdischen Unabhängigkeitsbestrebungen und den ISIS mit einem Schlag zu erledigen – eine Maßnahme, die von türkischer Regierungsseite schon seit geraumer Zeit gefordert wird. Zwei Fliegen würden also mit einer Klappe geschlagen.

Andere – z.B. der Kolumnist der regierungsnahen Tageszeitung Sabah Mahmut Övür – tippen auf ausländische Kräfte, die verhindern wollten, dass die Türkei ihre Position in der Region ausbauen könne. Wen er damit wohl meint – den Iran, Saudi-Arabien? Im Netz wird wild spekuliert: Stecken hinter all dem nicht vielleicht doch die Amerikaner? Schließlich wurde der Luftwaffenstützpunkt Incirlik für Kampfeinsätze gegen den IS bislang von der türkischen Regierung nicht freigegeben – dabei liegt sie doch so nah an den militärischen Zielen in Syrien. Die Verhandlungen seien über Monate nicht zum gewünschten Ergebnis gekommen und die IS-Bombe auf türkischem Territorium wäre die perfekte Rechtfertigung für Luftschläge. Vielleicht sei ja alles ein im Pentagon geplanter Schachzug, damit das NATO-Mitglied Türkei die Bodentruppen schickt, die für den Sieg gegen den IS so dringend geboten, für die im Westen aber innenpolitisch keiner den Hals hinhalten möchte.

Als kritischer Beobachter verlor man sich in dieser Gemengelage schnell zwischen der als gesund empfundenen Skepsis gegenüber vorschnellen Antworten und dem, wie Peter Scholl-Latour es gern ausdrückte, „orientalischen Hang zu Verschwörungstheorien“.

Öffnung von Incirlik, Anschläge der PKK im ganzen Land, Debatte um eine Sicherheitszone in Nordsyrien, verhaltene internationale Kritik an den Bombardements, Massenverhaftungen, Luftschläge in den Kandil-Bergen, das Scheitern der Koalitionsverhandlungen – was Ursache ist und was Wirkung – am Ende blieben vor allem Fragezeichen. Jeder zeigte ohnehin meist instinktiv auf den politischen Gegner, wenn es um die Suche nach Schuldigen ging. Dass es sich im Krieg in und um Syrien um einen der verworrensten und mit unterschiedlichsten Interessen aufgeladenen Konflikte der heutigen Zeit handelt, macht es nicht leichter, Antworten zu finden.

Gezielte Provokation à la „Wo eine Wille, da ein Weg“?

Parallel liefen die Sondierungsgespräche über eine Koalition zwischen AKP und CHP weiter. Als ausländischer Beobachter hoffte man darauf, dass sich die beiden Parteien doch bitte auf eine „Große Koalition“ einigen würden. Dass sie das gespaltene Land beruhigen, ja befrieden, und die aufgerissene Wunde der „kurdischen Frage“ schnell verarzten würde, vielleicht sogar eine neue Verfassung auf den Weg bringen könnten. Die EU-Beitrittsbemühungen neu diskutieren, die Beziehungen zu den (süd-)östlichen Nachbarn und zu Israel neujustieren, endlich die Zypern-Frage klären – all das waren die Hoffnungen nach dem Wahlausgang.

Doch die politische Option einer Koalitionsregierung ist nun von Tisch. Die Verhandlungen über eine Koalition wurden abgebrochen. Die AKP wollte nur eine Übergangslösung bis zu Neuwahlen, die CHP aber eine langfristige, auf die gesamte Legislaturperiode angelegte Zusammenarbeit. Dazu inhaltliche Differenzen über Außenpolitik und Bildung. Die Skepsis vieler türkischer Wähler scheint sich nun zu bewahrheiten.

Durchaus ließe sich eine Kausalkette aufbauen, die zum gefestigten Bild vom Despoten Erdoğan passt, dem jedes Mittel zum Machterhalt recht ist. „Wo ein Wille ist, da ist auch ein Weg“, könnte von Anfang an die Devise des Kreises um den umstrittenen Staatspräsident gewesen sein. Selahattin Demirtaş von der HDP sprach wiederholt von einem „Staat im Staate“.

War Erdoğans Strategie, nach außen ernsthaft verhandeln, doch im Geheimen zündeln? In der selbst angezettelten (oder – je nach Theorie – in Kauf genommenen) Krise die Schuld den Terroristen von PKK und ISIS in die Schuhe schieben – und selbst Stärke beweisen. Seht her: kaum endet die Zeit der AKP-Regierung, schon kommt Chaos über das Land. So mancher Wähler dürfte sich in Zeiten innerer Konflikte nach den zurückliegenden Jahren der Stabilität und relativer wirtschaftlicher Prosperität unter AKP-Alleinherrschaft zurücksehnen, so das mögliche Kalkül. Die Wahl vom 7. Juni als Ausrutscher, der durch Neuwahlen schnell korrigiert werden müsse.

Doch warum die Möglichkeit einer Lösung für die „kurdische Frage“ leichtfertig gefährden? Ist das nicht ein Spiel mit dem Feuer – vor allem so kurz vor einer Lösung? Schließlich war der Wiederbeginn des Friedensprozesses mit der PKK unter Einbeziehung des inhaftierten Abdullah Öcalan ein historischer Schritt, der dem damaligen Ministerpräsidenten Erdoğan international große Anerkennung bescherte.

Viele Gründe die HDP wieder aus dem Parlament zu drängen

Ob es sich dabei aber um einen Schritt aus Überzeugung handelte? Ging es der AKP nur darum, die absolute Mehrheit auf Dauer zu sichern? Was nun im Südosten der Türkei passiert, sehen Oppositionelle als Reaktion auf die Abwanderung vieler kurdischer Stimmen von der AKP zur HDP: Wenn die Kurden die AKP für ihre Bemühungen der letzten Jahre nicht mit mehr Stimmen belohnen und stattdessen den aufmüpfigen Selahattin Demirtaş unterstützen, dann sollen sie ruhig spüren, was es bedeutet, wenn die „starke Hand“ des Staatsapparats sie nicht mehr schützt. Außerdem: Stell Dir vor, eine Lösung wird gefunden, würde man dann überhaupt noch der AKP diesen historischen Erfolg zuschreiben – oder nicht vielmehr der fulminant ins Parlament katapultierten HDP? Viele Gründe, die Parlamentsneulinge so schnell wie möglich wieder unter die 10 Prozent zu drücken.

Außer der HDP gibt es dann ja auch noch die (Ultra-)Nationalisten der MHP. Mit einem harten Vorgehen gegen die PKK könnte man einige von ihnen bei Neuwahlen ja wieder ins AKP-Lager locken – denn auf Fundamentalopposition, wie sie der MHP-Vorsitzende Deniz Bahçeli mit seinem Ausschluss aller Koalitionsoptionen anstrebt, haben viele Wähler bestimmt keine Lust. Dann doch lieber eine Stimme mit Machtoption.

So plausibel diese Sichtweisen, die von fast allen westlichen Medien geteilt werden, auch erscheinen: Vielleicht sind sie zu schlicht, zu naheliegend. Vielleicht ist alles viel komplexer. Es gibt nämlich durchaus auch andere Stimmen: Wer kann schon ausschließen, dass es in den Kandil-Bergen genug PKK-Kämpfer gibt, die generell allem, was von der türkischen Regierung kommt, nicht über den Weg trauen? Die mit dem Einzug der HDP ins türkische Parlament die kurdische Abspaltung von der Türkei gefährdet sehen, die diese Kämpfer weiter verfolgen? Die vielleicht durch eine gezielte Eskalation die eigene Verhandlungsposition stärken wollen? Die das Momentum des kurdischen Nationalismus nutzen möchten, um alte Vorurteile gegenüber der Zentralregierung zu schüren? Schließlich musste auch bislang jedes Zugeständnis von Ankara hart erkämpft werden und, siehe da, jetzt bombardiert diese Regierung wieder die Stellungen der kurdischen Arbeiterpartei, statt gegen den eigentlichen Aggressor – den IS – vorzugehen.

Gut möglich, dass es bei der PKK und ihren regionalen Verbündeten Strategen gibt, die ihren Traum von einem vereinten Kurdistan nicht aufgegeben haben und nun die Gunst der Stunde in „Rojava“ nutzen möchten. Die Vorwürfe, dass Ankara islamistische Bürgerkriegsparteien, die sich später dem IS anschlossen, bzw. den IS selbst gegen Baschar al-Assad freigiebig unterstützt oder jedenfalls lange Zeit unterstützt hat, stehen weiter im Raum. In welche Logiken und Interessen die PKK-Führung noch verwoben ist – und wie ernst man dort tatsächlich noch das Wort des auf einer Insel vor Istanbul vom türkischen Geheimdienst streng bewachten Abdullah Öcalan nimmt, der jüngst die Niederlegung aller Waffen forderte – man weiß es nicht. Dass die PKK für ihre Finanzierung auf Drogen- und Waffenschmuggel zurückgreift, dass sie den – von der deutschen Regierung ausgerüsteten und ausgebildeten – Peschmerga näher stehen, als man das im Westen wahrnehmen möchte, all das sind offene Geheimnisse. Die PKK ist weit mehr als ein Haufen von Freiheitskämpfern für die legitimen Interessen eines unterdrückten Volks.

Und wer weiß, wer noch alles ein Interesse daran haben könnte, dass die Türkei in den vertrauten und bewährten AKP-Händen bleibt, dass die Investitionen gesichert bleiben und die Türken weiter fleißig konsumieren, dass es im Grenzgebiet ein wenig Chaos gibt. Oder: Dass der Konflikt in Syrien auf die Türkei überschwappt. Wenn Erdogan von Kräften von außen sprach, die das Land lenken und beherrschen wollen, wurde das stets belächelt. Ist vielleicht doch etwas dran an seiner Paranoia? Man darf dabei nie vergessen: der Bosporus und die Dardanellen verbinden Russland mit dem Mittelmeer. Pipelines gehen quer durchs Land zwischen Orient und Okzident. Die Türkei ist NATO-Mitglied – hat seine Handelsbeziehung nach dem Einfrieren der Gespräche über einen EU-Beitritt allerdings stark nach Zentralasien und in den arabischen Raum verlagert. Das Land hat Grenzen zu Griechenland, Bulgarien, Georgien, Armenien, Iran, Irak, Syrien. Ja, und da gibt es auch noch Zypern.

Gleichzeitig sehnt sich der wohl überwiegende Teil der Menschen im Südosten der Türkei nach Jahrzehnten im Krieg nichts sehnlicher als Friede und Stabilität – egal unter welcher Regierung. Wird ihnen eine neue Regierung dabei helfen?

Kommen jetzt Neuwahlen?

Nach dem Abbruch der Koalitionsverhandlungen mit der HDP und dem erfolglosen Gespräch mit der MHP am 17. August, sieht alles nach Neuwahlen aus. Selbst, wenn der Staatspräsident noch dem CHP-Vorsitzenden Kılıçdaroğlu den Auftrag zur Regierungsbildung übertragen sollte, er wird kaum einen Koalitionspartner finden können – bereits am Sonntag läuft die 45-Tage-Frist zur Bildung einer Regierung ab. Die große Frage ist: Was sollen Neuwahlen bringen?

Eine Ausweitung der inneren Konflikte könnte der AKP in die Hände spielen. Man könnte zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen: Einerseits wirtschafts- und sicherheitsorientierte Kurden, die nach einem kurzen Ausflug ins „linke HDP-Utopia“ von der Gewalt der PKK und dem ökonomischen Abschwung abgeschreckt sind, wieder zurückgewinnen. Andererseits der MHP ein paar Stimmen abjagen, die sich stets und konsequent gegen jegliche Bemühungen für einen türkisch-kurdischen Aussöhnungsprozess ausgesprochen hat. Ihren Wählern hat man ja jetzt gezeigt, dass man sich vor Angriffen gegen Kurdenrebellen nicht scheut. Sollte es gelingen, von beiden Zielgruppen nur wenige Prozent zurück ins AKP-Boot zu holen, wäre die absolute Mehrheit wieder gesichert. Momentan fehlen ihr dafür nur 18 Sitze. Sollte die HDP oder die MHP wieder unter die 10-Prozent-Hürde fallen – um so besser für die AKP.

Die HDP muss währenddessen einen Drahtseilakt vollziehen: Sich einerseits weiter als Verfechter der kurdischen Sache und Garant für den Friedensprozess präsentieren, ohne sich jedoch in die Nähe der Gewalt der PKK zu bringen. Das würden ihr nicht nur die links-alternativen Wähler im Westen der Türkei kaum verzeihen – das wäre auch ein gefundenes Fressen für diejenigen AKP-Funktionäre, die ein Verbot der HDP wegen Unterstützung einer Terrororganisation fordern. Gelingt es ihr jedoch, vor allem über digitale Kanäle, die Wechselstimmung in der Gesellschaft aufzusaugen und sich als echte und friedliche Alternative zu etablieren, die gleichzeitig die kurdische Sache nicht verrät, könnte sie am Ende der große Gewinner sein.

Die CHP hat sich als kompromissbereite und verantwortungsvolle Partei dargestellt, die bereit ist, auch in schwierigen Zeiten und unter harten Bedingungen eine Koalition einzugehen. Sie dürfte an Glaubwürdigkeit gewonnen haben und darauf spekulieren, dass frustrierte Wechselwähler von der HDP wieder in die eigentliche politische Heimat zurückkehren. Ob das ohne ernsthafte Verjüngungskur klappen kann, ist jedoch ungewiss. Sie bräuchte vor allem auch Stimmen anderer Parteien. Doch zu viele Stammwähler hat die AKP vor allem in ländlichen Regionen. Es gibt ganze Landstriche, in denen die CHP gar keine Rolle spielt. Vielleicht kann sie aber einige MHP-Wähler, denen die rassistischen Ausuferungen manche Abgeordneter dann doch zu brutal waren, zurück ins Lager der Partei des „Vaters der Türken“, Mustafa Kemal Atatürk, zurückholen. Eine Koalition mit der HDP, eine Art türkisches „Rot-Grün“, könnte die rebellierende, akademische Jugend mit der sozialdemokratischen Partei ihrer Elterngeneration versöhnen – aber genauso an Eitelkeiten, Vorurteilen oder an der erforderlichen Sitzmehrheit scheitern. Die CHP müsste sich für einen Friedensprozess mit den Kurden auch noch ein wenig mehr mit der eigenen Geschichte auseinander setzen.

Und die MHP wird weiter ihre ideologisch-treuen Stammwähler und einige Protestwähler mobilisieren können. Mit Protesten gegen angebliche Menschenrechtsverletzungen der chinesischen Regierung gegen Uiguren konnte sie ihre auf Rasse basierende Ideologie im Fastenmonat Ramadan gewinnbringend unter die Leute bringen. Je mehr Gewalt von Seiten der PKK kommt, desto mehr dürfte sich die MHP als einziger echter Gegner des Friedensprozesses in Stellung bringen. Dann müsste die AKP vielleicht mehr in die Waagschale werfen, um die Nationalisten beim nächsten Mal zu einer Koalition zu bewegen. Die MHP bleibt unberechenbar.

Es kommt jetzt darauf an, wer an welchen Fäden zieht und was in den nächsten Monaten, auch geopolitisch, passiert. Man darf sich im Wahlkampf sicherlich auf einiges gefasst machen. Dass sich die türkischen Wähler nicht als bloßes Stimmvieh sehen und den Machtphantasien ihres Staatsoberhaupts durchaus skeptisch gegenüber stehen, haben bereits die Wahlen im Juni gezeigt. Es gibt – anders als in vielen anderen Ländern der Region – eine gefestigte, gut informierte Zivilgesellschaft und – jedenfalls über das Internet – Zugang zu alternativen Medien. Viel wird auch davon abhängen, wie sich die türkische Regierung nun in den Kampf gegen den IS einbringt – und wie die internationalen Partner und die eigenen Bürger hierauf reagieren.

Geht am Ende gar das Kalkül der AKP auf und schafft sie es im zweiten Anlauf wieder zu absoluten Mehrheit? Bislang scheint sie aus dem letzten Wahlergebnis nicht viel gelernt zu haben. Rhetorik und Personal sind gleich. Doch ihre Wahlkampfstrategie ist noch völlig offen. Nun wird über einen großen Parteikongress vor den Neuwahlen spekuliert – dieser könnte den Parteivorsitzenden Davutoğlu entweder (auch gegenüber Erdoğan) stärken oder ihm den Anspruch auf das Amt des Ministerpräsidenten streitig machen.

Es gilt zu klären: Will die AKP die Politik der harten Hand und wirtschaftlichen Offenheit der letzten Jahre fortsetzen? Dann wird sie auch erklären müssen, was sie sich unter dem angekündigten „Präsidialsystem“ eigentlich genau vorstellt: Autoritarismus durch Gesetz – oder eher eine Kopie des französischen oder demokratischen Modells mit starkem Staatsoberhaupt? Gar ein wenig Föderalismus?

Und was passiert, das ist die spannende Frage, wenn alle Taktiererei nichts bringt und sich am Stimmungsbild nichts ändert? Wenn es misslingt, so lange zu wählen, bis das Ergebnis passt? Rebelliert die AKP dann gegen den Patriarchen? Tritt er gar zurück? Vielleicht klappt’s ja dann aber auch mit der Großen Koalition. Die ausländischen Beobachter würde es freuen, würde es doch in ihr beschränktes Verständnis von demokratischer Evolution passen – und die Investitionen und Absatzmärkte beim NATO-Partner auf Dauer sichern.


[«*] Ralf Hoffmann ist freier Autor. Er lebt und schreibt in Istanbul.


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