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Titel: „Die Vision des Neoliberalismus widerspricht entscheidenden Anforderungen der freiheitlichen demokratischen Grundordnung des Grundgesetzes“

Datum: 14. Januar 2008 um 8:43 Uhr
Rubrik: Erosion der Demokratie, Markt und Staat, Neoliberalismus und Monetarismus, Wertedebatte
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Das ist einer der Kernsätze eines Essays von Wieland Hempel, den wir Ihnen zur Lektüre und zur Diskussion empfehlen. Unser Autor, Ministerialbeamter und ausgewiesen im Verfassungsrecht, unternimmt es, die herrschende neoliberale Politik am unveränderbaren Kern des Grundgesetzes zu messen. Sein Befund bestätigt die häufig diffuse Vermutung, dass die neoliberalen “Reformen” auf eine andere Republik zielen. Albrecht Müller.

Der Neoliberalismus will die Marktkräfte von allen “Fesseln”, Verantwortlichkeiten und Rücksichten befreien. Deshalb muss er den sozialen Rechtsstaat bis zur Wirkungslosigkeit aushöhlen. Wieland Hempel belegt, dass die “Erfolgsbilanz” der neoliberalen Politik in Deutschland kein Zufall ist, sondern einer langfristigen Strategie folgt. Er bezieht den Kulturbruch, den der Neoliberalismus für die deutsche Gesellschaft darstellt, in seine verfassungsrechtliche Kritik ein und sucht nach den geistes- und sozialgeschichtlichen Voraussetzungen dieser Entwicklung.

Unser Autor plädiert für eine argumentativ wohl begründete Verteidigung des Grundgesetzes gegen seine Verächter – auch gegen die gutgläubig Verfassungsvergessenen. Er hofft, dass die Delegitimierung der neoliberalen Machtelite die Abwehrkraft der Mehrheitsgesellschaft stärkt.

Wieland Hempel hat uns zum Einstieg auch noch etwas zur Erbauung geschickt: die Merkelsche Eidesformel in den Worten des wunderbaren Karikaturisten Klaus Stuttmann (Tagesspiegel vom 27.11.2005):

Ich schwöre, dass ich meine Kraft dem Wohle des deutschen Marktes widmen, seinen Nutzen mehren, Schaden von ihm wenden, die Gesetze des freien Wettbewerbs wahren und verteidigen und Gerechtigkeit gegen alle Besserverdienenden üben werde. So wahr mir die Wirtschaft helfe.

Ich kann da nur noch anmerken. Wenn es wenigstens Wettbewerb und nicht über weite Strecken Durchsteckerei und Förderung der Großen wäre!

Diese Anmerkung soll nicht ablenken von der Lektüre eines interessanten Aufsatzes.
Dafür ein großes Dankeschön dem Autor. Es ist immer wieder eine Freude zu sehen, wie viele gute Beiträge – große, kleine und die interessanten täglichen Hinweise – uns von Freundinnen und Freunden der NachDenkSeiten erreichen. Danke vielmals! Oder: Merci vielmals, wie man hier im Grenzbereich von Elsass und Südpfalz sagt.


Die schleichende Revolution
Mit neoliberalen Reformen in eine andere Republik?

Von Wieland Hempel

(Download: “Die schleichende Revolution” als PDF-Datei [144 KB])

Übersicht:

  • Verfassungsfragen und Machtfragen
  • Die freiheitliche demokratische Grundordnung
  • Die neoliberale Vision
  • Neoliberale Strategien für Deutschland
  • Erfolge
  • Unerledigtes
  • Verfassungsfeindlich, verfassungsvergessen
  • Spurensuche
  • Kulturbruch
  • Offensive Verteidigung des Grundgesetzes

Vor zehn Jahren schrieb Jan Roß, heute Koordinator in der außenpolitischen Redaktion der ZEIT, ein Buch über “Die neuen Staatsfeinde” und wurde bereits im Untertitel konkret: “Was für eine Republik wollen Schröder, Henkel, Westerwelle und Co?” Die Antwort fällt heute nicht anders aus als damals, als bereits eine Bilanz der Wende von 1982/83 gezogen werden konnte. Sie wollen eine Republik, die sich im Wettbewerb um Rendite suchendes Kapital behauptet. Sie wollen für dieses Ziel Steuern, Sozialleistungen und Arbeitskosten der Kapitaleigner senken (“Sozial ist alles was Arbeit schafft”), gesetzliche Sozialleistungen einschränken (“Stärkung der Selbstverantwortung”), staatliche Beeinflussung der Wirtschaft, wie sie mit sozialen, rechtlichen oder ökologischen Standards verbunden ist, abbauen (“Mehr Freiheit wagen”), Daseinsvorsorge privatisieren (“Bürokratie abbauen”) und die Produktivitätsgewinne der Kapitalseite zukommen lassen (“Leistung muss sich wieder lohnen”). Die so entfachte Dynamik des Kapitals soll Wachstum und Beschäftigung erzeugen. Es ist dies das Konzept des Neoliberalismus, der seit einem viertel Jahrhundert in Deutschland und mehr noch weltweit zur bestimmenden Kraft geworden ist. Ist es auch der Weg in eine andere Republik, in eine andere als die der freiheitlichen demokratischen Grundordnung? Oder geht es lediglich um die politisch zwar umkämpfte, letztlich aber legitime Nutzung grundgesetzlicher Handlungsspielräume?

Verfassungsfragen und Machtfragen

In Deutschland legt die Politik durchaus Wert auf ordnungsgemäße rechtsstaatliche und parlamentarische Verfahren. Es wird artig für eine neue Mentalität geworben, damit die “notwendigen Reformen” realisiert werden können. Möglichst mit einem “Ruck” soll sich die Gesellschaft von Lethargie, Beharrungsvermögen und Besitzstandsdenken befreien und Raum schaffen für Flexibilität, Mobilität und Zuversicht. Hier an schleichende Aushöhlung der Verfassung zu denken, erscheint abwegig, zumal Parlament und Regierung sich auf das Mandat ihrer – wenn auch zunehmend unzufriedenen – Wähler stützen können. Verfassungsrechtliche Aufmerksamkeit könnte allerdings schon deshalb angebracht sein, weil der Neoliberalismus in anderen Weltteilen seine Macht keineswegs so harmlos erworben hat. Weder in Südamerika noch in Afrika, Russland, China oder in den Tigerstaaten Südostasiens war seine Durchsetzung eine demokratische Veranstaltung. Sie beruhte in der Regel auf finanzpolitischer Erpressung, Staatsstreichen, Terror und Außerkraftsetzen von Verfassungen. Selbst die demokratisch legitimierte Revolution von Margret Thatcher wäre ohne die Machtdemonstration des Falklandkrieges und die Niederkämpfung der Bergarbeiter und ihrer Gewerkschaft nicht zustande gekommen.

Der frühe Liberalismus, dessen historische Leistung die Überwindung von Absolutismus und Merkantilismus sowie die Durchsetzung individueller Freiheitsrechte ist, wusste: Verfassungsfragen sind Machtfragen und Machtfragen sind auch Verfassungsfragen. Auch die Arbeiterbewegung wusste dies in ihrem Kampf um menschenwürdige Arbeits- und Lebensbedingungen. Heute ist die Machtfrage gestellt zwischen einer neoliberal agierenden Elite und einer Mehrheitsgesellschaft, in der große Teile sich in ihrem Gerechtigkeitsgefühl und in ihren Zukunftschancen verletzt sehen. Auch diese Machtfrage – für die es vor allem auf Wahlen, Arbeitskämpfe und die Verfügung über Produktion, Finanzkapital und Bewusstseinsindustrie ankommt – ist zugleich eine Verfassungsfrage. Denn es geht nicht zuletzt darum, wie die Gesellschaft leben will: in einer formal rechtsstaatlichen Demokratie mit staatlichem Gewaltmonopol zur Sicherung der wirtschaftlichen Abläufe, insbesondere optimaler Renditen – oder in einem kulturell und sozial anspruchsvollen Gemeinwesen, in dem ein handlungsfähiger Staat dem Wohl der Allgemeinheit verpflichtet ist.

Die Vordenker und Macher des Neoliberalismus würden solche Fragen als idealistisch, moralisierend und polarisierend abtun. Sie erwarten von der Verfassungsinterpretation, dass sie die jeweils für unausweichlich erklärte Realität beflissen legitimiert. Doch solche Erwartungen können geltende Rechtsnormen nicht entkräften, ebenso wenig wie die Wähler dies könnten. Woher aber bezieht der normative Geltungsanspruch einer Verfassung hinreichende Kraft, um in der machtpolitischen Auseinandersetzung zu bestehen? Entscheidend dürfte sein, dass die Verfassung für die Lebenspraxis der Menschen von Bedeutung ist, dass sie von ihnen wertgeschätzt wird, weil sie auf lebenswichtige Fragen eine überzeugende, die eigenen Einschätzungen und Bedürfnisse bestätigende Antwort zu geben vermag. Ein klares Nein des Grundgesetzes zur neoliberalen Umgestaltung der Republik könnte eine solche Antwort sein. Umgekehrt: Das Grundgesetz zu dieser zentralen Herausforderung nicht zu befragen hieße, sein politisches Potential zu schwächen und letztlich abzuschreiben. Jene politischen, wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Eliten, die eine andere Republik wollen, blieben im vertrauten Besitz demokratischer Legitimität.

Die Verfassungsfrage wird in Deutschland derzeit nicht mit der Dringlichkeit gestellt, die sie verdient. Gewiss gibt es eine Scheu, gewählten Politikern, erfolgreichen Konzernchefs, prominenten Wissenschaftlern und vertrauten Medien Treubruch gegen die Verfassung zuzutrauen; schließlich wollen sie nicht als Extremisten gelten, die vom öffentlichen Dienst fernzuhalten sind. Oder ist man davon beeindruckt, dass der Verfassungsschutz die etablierte Macht, deren Teil er ist, nicht observiert? Die FAZ stellte am 11.8. 2007 ihren Lesern den früheren sächsischen Ministerpräsidenten Biedenkopf in keineswegs denunziatorischer Absicht mit dem Satz vor, er wolle “den Sozialstaat westdeutscher Prägung abschaffen“. Obwohl dies den Fakten und dem Selbstverständnis des Portraitierten nahe kommen könnte, wird vermutlich keine Observierungsakte angelegt worden sein. Andere wiederum mögen bei einem über Jahrzehnte laufenden Prozess die dramatische Auflehnung gegen die Rechtsordnung vermissen und von Revolution erst sprechen wollen, wenn Pistolleros mit erhobener Waffe den Bundestag stürmen oder zumindest einen blutigen Staatsstreich nach dem chilenischen Modell planen. Vielleicht beeindruckt aber auch die Wucht, mit der der Neoliberalismus sich weltweit durchgesetzt hat. Mit diesem Wissen fällt es schwer, im Grundgesetz und in dem von ihm demokratisch und sozial verfassten Staat eine Kraft zu sehen, die bei der Bändigung eines entfesselten Kapitalismus hilfreich sein könnte. .

Die freiheitliche demokratische Grundordnung

Das Grundgesetz dürfte eine der anspruchsvollsten Verfassungen der Welt sein. Zum einen, weil es seine Grundentscheidungen auch gegenüber dem verfassungsändernden Gesetzgeber tabu stellt, ihnen also bis in weite Zukunft hinein Geltung und sachliche Überzeugungskraft zutraut. Und zum anderen, weil es nicht nur wie üblich die Machtarchitektur festlegt (Republik, Demokratie, Gewaltenteilung, Bundesstaat), sondern auch die inhaltliche Gestalt des Gemeinwesens, seine Lebensweise in die “Ewigkeitsgarantie” einbezieht. Diese Bundesrepublik soll ein sozialer Rechtsstaat sein, dem die Achtung und der Schutz der Menschenwürde aufgetragen ist (Art. 79, 1, 20, 28 GG). “Nie wieder” sollten nach der Katastrophe des Nationalsozialismus und dem vorangegangenen Scheitern der Weimarer Republik Entwürdigung der Menschen und die Auslieferung des Gemeinwesens an die Mächtigen und ihre Interessen eine Chance erhalten. Das Bundesverfassungsgericht hat die Elemente der gegen Verfassungsfeinde zu verteidigenden Grundordnung näher beschrieben und seine frühen Schlüsselentscheidungen immer wieder bekräftigt.

  • Das Menschenbild des Grundgesetzes – ein Maßstab auch für den homo oeconomicus – “ist nicht das eines isolierten souveränen Individuums; das Grundgesetz hat vielmehr die Spannung Individuum – Gemeinschaft im Sinne der Gemeinschaftsbezogenheit und Gemeinschaftsgebundenheit der Person entschieden, ohne dabei deren Eigenwert anzutasten” (Investitionshilfe-Urteil vom 20.7.1954).
  • Demokratie ist mehr als bloße Legitimierung frei waltender und schaltender Repräsentanten. Sie ist auch politische Willensbildung des Volkes, das in Wahlen und Abstimmungen als Staatsorgan handelt (Urteil vom 30.7.1958 zu Volksbefragungsgesetzen).
  • Die Sozialstaatlichkeit wird wegen ihrer Offenheit für unterschiedliche politische Entscheidungen des demokratischen Gesetzgebers gern als Verfassungslyrik abgewertet – zu Unrecht, wie die über Jahrzehnte kontinuierliche Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zeigt. Sozialstaatlichkeit bedeutet, dass der Staat “ein Instrument der ausgleichenden sozialen Gestaltung” ist. Das Sozialstaatsprinzip soll “Ausnutzung der Arbeitskraft zu unwürdigen Bedingung und unzureichendem Lohn unterbinden”, “es soll schädliche Auswirkungen schrankenloser Freiheit verhindern und die Gleichheit fortschreitend bis zu einem vernünftigerweise zu fordernden Maße verwirklichen”. “Darüber hinaus entnimmt die freiheitliche demokratische Grundordnung dem Gedanken der Würde und Freiheit des Menschen die Aufgabe, auch im Verhältnis der Bürger untereinander für Gerechtigkeit und Menschlichkeit zu sorgen” (KPD-Urteil vom 17.8.1956). Dass das grundrechtlich gewährleistete Eigentum verpflichtet und sein Gebrauch zugleich dem Wohl der Allgemeinheit dienen soll (Art. 14 Abs.2 GG), ist Ausdruck dieser Grundentscheidung. Die Sozialstaatlichkeit gestattet es deshalb dem Gesetzgeber z.B., bei öffentlichen Aufträgen dem Verdrängungswettbewerb durch Dumpinglöhne entgegenzuwirken (Beschluss vom 11.7.2006 zur Tariftreueregelung im Berliner Vergabegesetz).
  • Speziell die Daseinsvorsorge hat im Sinne des Sozialstaats Verfassungsrang: “Die Energieversorgung gehört zum Bereich der Daseinsvorsorge und ist eine Leistung, deren der Bürger zur Sicherung einer menschenwürdigen Existenz unumgänglich bedarf” .Gewinnstreben auf diesem Feld ist deshalb von Verfassungs wegen “überlagert” durch die Erledigung öffentlicher Aufgaben. (Beschluss vom 20.3.1984 zum Energiewirtschaftsgesetz).

Der soziale Rechtsstaat macht Front gegen den bürgerlichen Rechtsstaat mit seiner nur formalen Rechtsgleichheit, die sich um die tatsächlichen Voraussetzungen der Ausübung von Freiheit nicht kümmert. Jener Begriff war Hermann Hellers Versuch im Jahre 1930, der von den Machteliten und den Krisen des Kapitalismus bedrohten Weimarer Republik und ihrer Verfassung rechtliche Legitimation zu verschaffen. Als Bestandteil der freiheitlichen demokratischen Grundordnung verbürgt der soziale Rechtstaat, dass die Bundesrepublik auch ein intervenierender, planender, lenkender, leistender, verteilender, individuelles wie soziales Leben erst ermöglichender Staat ist – so die Erläuterung durch den früheren Bundesverfassungsrichter Konrad Hesse und die inhaltsgleiche Kommentierung des Sozialstaats durch den früheren Präsidenten des Gerichts, Roman Herzog. Aktuell zur Privatisierung Siegfried Broß, Richter am BVerfG, nachdenkseiten vom 2.2.2007/andere interessante Beiträge.

Auch wenn die freiheitliche demokratische Grundordnung vom Nationalstaat ausgeht, wird sie vom Grundgesetz ausdrücklich im Blick auf die Verwirklichung eines vereinten Europas bekräftigt. Die Übertragung von Hoheitsrechten auf die Europäische Union setzt deshalb voraus, dass diese “demokratischen, rechtsstaatlichen, sozialen und föderativen Grundsätzen…..verpflichtet ist” (Art. 23 Abs.1). In seinem Urteil vom 12.10.1993 zum Maastricht-Vertrag erläutert das Bundesverfassungsgericht: “Entscheidend ist, dass die demokratischen Grundlagen der Union schritthaltend mit der Integration ausgebaut werden und auch im Fortgang der Integration in den Mitgliedsstaaten eine lebendigen Demokratie erhalten bleibt”.

Hinzuzufügen bleibt, worauf hinzuweisen früher kein Anlass bestand, dass alle Staatsgewalt vom Volke ausgeht, die Staatsgewalt also dem Volk und nicht nur Minderheiten zu dienen oder öffentlich finanzierte Infrastruktur und Daseinsvorsorge in private Renditeobjekte umzuwandeln hat. In der vom Grundgesetz übernommenen Sprache des kontinentaleuropäischen Staatsverständnisses heißt das: Der Staat hat dem Wohl der Allgemeinheit zu dienen (z.B. Art. 56, 87e GG). Er ist der öffentliche Kontrapunkt zu der von privaten Interessen geleiteten Gesellschaft. Durch Vorgabe oder Vereinbarung von Zielen und Rahmenbedingungen, durch Bündelung von Ressourcen, auch durch Zusammenführung von Interessen hat er eine gedeihliche Entwicklung des Gemeinwesens zu gewährleisten. Seine Handlungsfähigkeit im Blick auf diese Aufgabe zu sichern, gehört deshalb zu den verbindlichen Festlegungen des Verfassungskerns.

Und wenn sich die Welt so radikal veränderte, dass das Land, hielte es an seiner Verfassung fest, nicht überlebensfähig wäre? Wenn etwa die Übernahme seiner Wirtschaft durch konkurrierende Mächte drohte, die ihre eigenen Ordnungsvorstellungen durchsetzen könnten? Solche Zwangsläufigkeiten werden beschworen, um die Geltungskraft etwa des grundgesetzlichen Sozialstaats für erledigt zu erklären oder die demokratische Willensbildung dadurch zu relativieren, dass die internationalen Finanzmärkte als “fünfte Gewalt” respektiert werden müssten (Hans Tietmeyer, Rolf Breuer). Derartigen Meinungen könnte bereits damit begegnet werden, dass die behauptete Alternativlosigkeit zur neoliberalen Umgestaltung der Republik aus vielerlei Sachgründen nicht besteht. Die grundsätzliche Antwort lautet jedoch, dass es nicht Sache einer selbst ernannten Elite, sondern allein Sache des Volkes ist, eine andere Republik durchzusetzen, etwa eine Republik, die einer tatsächlich oder vermeintlich undemokratischen und unsozialen Weltentwicklung durch Anpassung Tribut zollt. Das Grundgesetz nimmt es mit seiner “Ewigkeitsgarantie” in Kauf, dass eine solche Lage im offenen Konflikt entschieden werden könnte, wenn eine verfassungstreue Minderheit Widerstand leistet (Art. 20 Abs.4 GG; s. hierzu die Kommentierung von Roman Herzog). Doch das ist glücklicherweise nur Theorie, denn vorerst möchte noch nicht einmal die Hälfte der Wähler neoliberal “durchregiert” werden.

Die Vision des Neoliberalismus

Der Neoliberalismus will Freiheit – an erster Stelle die Freiheit des Marktes und der Marktteilnehmer, nicht die “freie Entfaltung der Persönlichkeit” eines jeden Menschen, auch nicht die politische Freiheit des Bürgers. Neoliberale Freiheit als höchster Wert ist Selbstgenuss der Freien und Starken und nicht ein Instrument zur Förderung des Wohls der Allgemeinheit. Ob eine Gesellschaft ohne Solidarität überhaupt kultiviert überleben kann, bleibt außerhalb der sozialphilosophischen und erst recht außerhalb der empirisch-anthropologischen Reflexion. Der Crash wird der Praxis überlassen. Diese ideologischen Setzungen bestimmen das Menschenbild und das Staatsverständnis neoliberaler Politik. Folgten die Kreuzzüge dem Ruf “Gott will es”, so legitimiert sich die neoliberale Revolution mit dem fundamentalistischen Ruf “Die Freiheit will es”. Dass ihre Netzwerke und think tanks im Laufe der Jahrzehnte differenzierte Konzepte einschließlich gelegentlicher sozialer Rücksichten entwickelt haben (Dieter Plehwe, WZB-Mitteilungen Heft 110 Dez. 2005), berührt die hier interessierende Begründung und Stoßrichtung der neoliberalen Vision, ihre grundsätzlichen Ziele, nicht. Auf die kritischen Publikationen von Christoph Butterwegge et al. (Kritik des Neoliberalismus 2007, mit umfassendem Literaturverzeichnis), Ulrich Duchrow et al. (Solidarisch Mensch werden. Psychische und soziale Destruktion im Neoliberalismus – Wege zu ihrer Überwindung 2006), John Gray (Die falsche Verheißung 1998), Naomi Klein (Die Schocktherapie 2007) und Ton Veerkamp (Der Gott der Liberalen 2005) sei pauschal verwiesen.

Bereits in den 20er und 30er Jahren hatten deutsche “Ordoliberale” im Vertrauen auf die angenommenen Selbstheilungskräfte des Marktes gegen staatliche Interventionen in die Wirtschaft (und gegen den Parlamentarismus der Weimarer Republik) angeschrieben. Folgenreicher war es, dass in den USA der 30er und 40er Jahre wirtschaftsliberale Wissenschaftler und Intellektuelle erleben mussten, dass die Politik die aus ihrer Sicht falschen Konsequenzen aus den großen Krisen gezogen hat. Sie folgte dem Rat von John Maynard Keynes und ließ den Staat in die Wirtschaft hineinregieren, legte Investitions- und Sozialprogramme gegen das Massenelend auf, regulierte Löhne und Preise und vor allem: Sie beanspruchte hierfür einen beträchtlichen Teil der Wertschöpfung für den Staat, anstatt ihn den Kapitaleignern zu überlassen. Diese Politik rettete zwar den Kapitalismus vor dem Untergang. Liberale sahen indessen nur einen Verlust an “Freiheit”. In den Krisen und Katastrophen des Kapitalismus versage nicht der Markt, sondern der Staat, weil er interveniert, anstatt dem zerstörerischen Gesundungsprozess freien Lauf zu lassen. Wahre Marktwirtschaft kann deshalb nur “freie” Marktwirtschaft sein, die es gegen politische Deformierung – etwa zur späteren “sozialen” Marktwirtschaft in Deutschland – zu verteidigen gilt.

Das war der Konsens der 1947 im schweizerischen Mont Pèlerin von Friedrich August von Hayek ins Leben gerufenen Gesellschaft. Chicagoer Wirtschafts-wissenschaftler unter Leitung von Milton Friedman entwickelten auf dieser Grundlage Modelle, die die selbstregulierende und stabilisierende Wirkung uneingeschränkt freier Märkte beweisen sollten, machten Vorschläge zur Regulierung der Geldmenge, zu freien Wechselkursen und bereiteten Strategien zur Durchsetzung einer hierauf gegründeten Wirtschaftspolitik vor. Die enge Verbindung mit großen Banken und Unternehmen, die sich durch eine gemischte Wirtschaftsordnung nicht nur in den USA, sondern insbesondere auch in Südamerika eingeengt sahen, gab den Konzepten der “Chicago boys“ die Chance, gesellschaftliche Wirklichkeit zu werden. In ihren klassischen Streitschriften plädieren von Hayek (Der Weg zur Knechtschaft 1944) und Friedman (Kapitalismus und Freiheit 1962) gegen jegliche Intervention des Staates, weil sie denknotwendig in der Zerstörung der Freiheit enden müsse, wie der sowjetische Sozialismus zeige – eine Polarisierung, die alle Bemühung um Zivilisierung des Kapitalismus durch eine soziale Demokratie diskreditieren sollte. Die deutsche Debatte zur Reanimierung des Wirtschaftsliberalismus nach 1945 (Müller-Armack, Ludwig Erhard) verlief zunächst differenzierter, insbesondere kam hier der Staat als Hüter eines fairen Wettbewerbs ins Spiel (Werner Abelshauser, Deutsche Wirtschaftgeschichte seit 1945, 2004). “Freiheit statt Sozialismus” kam später.

Friedman verwahrte sich mit Recht dagegen, dass den Missständen des unregulierten Kapitalismus ein Idealbild des intervenierenden Staates, getragen von vernünftigen und selbstlosen Akteuren, entgegengehalten wird. Seine Beispiele für Fehlsubventionen und Fehlinterventionen sind nicht zu bestreiten. Leider hielt er diesen wiederum die ideale Blaupause der “Freiheit” entgegen. Nach der weltweiten Umsetzung seiner Ratschläge können Neoliberalismus und sozialer Rechtsstaat gleichermaßen an ihren Früchten erkannt werden. Für den Vergleich bieten sich die großen Themen der Gegenwart an, die man entsprechend den persönlichen Vorstellungen von einem lebenswerten Leben bewerten und zu beiden Gesellschaftskonzepten in Beziehung setzen kann: Umweltzerstörung, Erzeugung und Verteilung des Reichtums – global und national -, Massenarbeitslosigkeit und Würde der Arbeit, Armut und Verwahrlosung, demokratische Vitalität, sozialer Zusammenhalt oder die tatsächlichen Chancen für individuelle Freiheit durch Zugang zu öffentlichen Gütern.

Unabhängig von solchen außerrechtlichen Einschätzungen ist jedoch das rechtliche Urteil eindeutig: Die Vision des Neoliberalismus widerspricht entscheidenden Anforderungen der freiheitlichen demokratischen Grundordnung des Grundgesetzes – das zu respektieren allerdings weder der Österreicher von Hayek noch der Amerikaner Friedman Veranlassung hatten. Ihnen und ihren Freunden in der amerikanischen Wirtschaft stand und steht es frei, den New Deal zu bekämpfen oder mit von Hayek zu meinen, dass der Begriff soziale Gerechtigkeit “für eine Gesellschaft freier Menschen…. überhaupt keinen Sinn hat”. Wer jedoch das Leitbild schrankenloser Freiheit für die Marktkräfte auf die Bundesrepublik übertragen und seine konkrete Politik hiermit rechtfertigen will, scheitert an dem entgegen gesetzten Leitbild eines freien und zugleich sozial gebundenen und verantwortlichen Individuums, an der rechtlichen Verbürgung gleicher Freiheit und an der Verfassungsentscheidung für einen Staat, der ihre Freiheit fördert, ihre Würde schützt und den sozialen Ausgleich reguliert. Indem der Neoliberalismus den sozialen Rechtsstaat bekämpft und ihn insbesondere durch Steuersenkungen seiner Handlungsfähigkeit beraubt, versucht er sich der einzigen Macht zu entledigen, die zu Gunsten der kleinen Leute und eines gedeihlichen Zusammenlebens massenwirksam Solidarität zu organisieren und den Bessergestellten einen Beitrag abzuverlangen vermag.(vertiefend: Erhard Eppler, Auslaufmodell Staat? 2005; Brun-Otto Bryde, Richter am BVerfG, Steuerverweigerung und Sozialstaat, in: Festschrift für F.v.Zezschwitz 2005; Dieter Grimm, Hg., Staatsaufgaben 1994).

Die Minimierung des Staates macht die Frage nach der Ordnung der Freiheit umso dringlicher. Von Hayek antwortet, dass es die Individuen sind, die durch ihr Zusammenwirken die erforderliche Ordnung spontan und damit flexibel und frei von staatlichem Zwang herstellen. Die spontane Ordnung korrespondiert jener unsichtbaren Hand, die auf der Basis der von der Zentralbank festgelegten Geldmenge die richtigen Preise der Produktionsfaktoren und damit ihren optimalen Einsatz gewährleistet, etwa die Preise für die Arbeitskraft im freien globalen Arbeitsmarkt. Staatliches Handeln mit dem Ziel einer guten Ordnung des Gemeinwesens, des bonum commune, gilt als prinzipiell verfehlt, weil es neben den Individuen und ihren Familien “so etwas wie Gesellschaft” laut Margret Thatcher gar nicht gibt. (Systematisierend: Christoph Zeitler, Spontane Ordnung, Freiheit und Recht. Zur politischen Philosophie von Friedrich August von Hayek, 1996) Folgerichtig ist neoliberales Denken betriebwirtschaftliches, nicht volkswirtschaftliches Denken. Das jeweilige Eigentum soll seinen Nutzen maximieren und hierfür die sozialen und ökologischen Kosten externalisieren dürfen. Statt der sozialstaatlichen Verpflichtung, dass der Gebrauch des Eigentums zugleich dem Wohl der Allgemeinheit zu dienen habe, folgt der Neoliberalismus der vorkonstitutionellen Vorstellung vom bürgerlichen Eigentum, das das Bürgerlichen Gesetzbuch von 1896 in seinem § 903 so anschaulich definiert hat, nämlich als Recht, “mit einer Sache nach Belieben zu verfahren und andere von jeder Einwirkung auszuschließen“. “Andere” – das sind auch die Beschäftigten, die dem “Herrn im Hause” zu dienen und nicht etwa über ihre Arbeit und Arbeitsbedingungen mitzubestimmen haben.

Ohne einen das Gemeinwesen mitgestaltenden Staat hat eine auf ihn bezogene Demokratie keine wesentliche Bedeutung. Worauf sollte sich die “Mitwirkung des Volkes an der politischen Willensbildung“ oder gar das Selbstbestimmungsrecht des Volkes beziehen, wenn die Wirtschafts- und Sozialordnung über das Eigentumsrecht reguliert wird? Neben der Wahl des staatlichen Führungspersonals, das der Freiheit der Kapitalvermehrung zu dienen hat, bleiben gerade noch die Außenpolitik sowie die Gestaltung des Polizei-, Justiz- und Militärwesens. Zum Ausgleich für diese Entleerung der staatsbezogenen Demokratie sollen die Bürger bzw. Standortbewohner Eigentum an Unternehmen erwerben und dort an den Entscheidungen mitwirken können. Die wahre Demokratie der Freiheit ist Aktionärsdemokratie, genauer: “ownership society”. Ob die verbleibenden staatlichen Institutionen demokratisch reguliert werden – für Friedman ohnehin nur ein “Hilfsmittel” im Entscheidungsverfahren der freien Individuen -, ist daneben zweitrangig. Die Lebensfähigkeit des Kapitalismus in autoritären oder diktatorischen Regimen lässt hieran keinen Zweifel zu.

Unabhängig von der Legalität einzelner Handlungen und unabhängig von Verbotsverfahren spricht das Grundgesetz solchen “Zielen”, die “darauf ausgehen, die freiheitliche demokratische Grundordnung zu beeinträchtigen oder zu beseitigen” (Art. 21 Abs.2), die Legitimität ab. Die grundlegenden Ziele des Neoliberalismus und die zu ihrer Realisierung ergriffenen Maßnahmen sind deshalb in der politischen Auseinandersetzung als verfassungsfeindlich zurückzuweisen.

Neoliberale Strategien für Deutschland

Der Neoliberalismus ist in dem Maße erfolgreich, wie das Kapital auf der Grundlage stabiler Währungen frei agieren kann: soweit es weltweit investieren kann wo und wie es will und keine sozialen, ökologischen und steuerrechtlichen Standards, auch keine lenkenden Gebote und Verbote, keine staatlichen Grenzen die Minimierung der Kosten und die Maximierung der Gewinne aufhalten. Dieses Konzept, das Helmut Schmidt gerne Raubtierkapitalismus nennt, geht offenkundig zu Lasten der Bevölkerungsmehrheit. Demokratische Mehrheitsentscheidungen sind deshalb zumindest auf kurze Sicht kaum zu erreichen. Naomi Klein hat, auch an Hand frei gegebener Dokumente der CIA, dargestellt, dass die neoliberale Umgestaltung in aller Regel anderen Mustern folgt, insbesondere der Ausnutzung, erforderlichenfalls auch Schaffung katastrophaler Situationen. Dann gilt es, die Herrschaft über den Ausnahmezustand zu gewinnen und die vorbereiteten Maßnahmen – Deregulierung, Privatisierung der Daseinsvorsorge, Senkung von Steuern und Abgaben für die Unternehmen, Sozialabbau – zu realisieren. Häufig ist es die akute Kreditnot eines Landes, die dem Internationalen Währungsfonds die Chance gibt, dieses Programm – den “Washington Konsensus” – durchzusetzen.

Die Bundesrepublik Deutschland kommt in dem voluminösen Buch von Naomi Klein nicht vor. Das ist kein Zufall. Als zur Wende 1982/83 die Strategiepapiere von Graf Lambsdorff, Haimo George und Ernst Albrecht kursierten, war die Machtbasis in den neuen Koalitionsparteien noch ungesichert. Dem rechten Flügel in der FDP war es gerade erst mit Mühe gelungen, die Sozialliberalen auszubooten und der Wirtschaftsflügel der CDU war noch weit von seinem Durchmarsch auf dem Leipziger Parteitag von 2003 entfernt. In der Zukunft lag auch noch die Schwächung der Gewerkschaften durch gesetzliche Maßnahmen, Mitgliederverlust und die endgültige Aufkündigung des sozialpartnerschaftlichen “rheinischen Kapitalismus” durch die Arbeitgeber. Eine Strategie der kleinen aber zielstrebigen Schritte war deshalb das Gebot der Stunde und der folgenden Jahre. Vorsorglich hat sich die Regierung Kohl für weitere Neuverschuldung entschieden, um strukturelle Einschnitte unterhalb einer politisch brisanten Schmerzschwelle zu halten und Eskalationen wie in Großbritannien zu vermeiden.

Die Stoßrichtung der deutschen Neoliberalen brachte am klarsten das Thesenpapier zum Ausdruck, das der damalige niedersächsische Ministerpräsident Ernst Albrecht im Auftrag des CDU-Vorsitzenden Kohl erarbeitet hatte (Handelsblatt vom 27.8.1983). Die Entlohnung des investierten Kapitals sei zu gering, die Entlohnung der Arbeit zu hoch. Das wirtschaftliche und gesellschaftliche System der Bundesrepublik sei verkrustet, was mit den Stichworten Kündigungsschutz, Sozialpläne, Mitbestimmung, Jugendschutz und Baunormen belegt wird. Das soziale System sei teuer und unwirtschaftlich. Die Unternehmensbesteuerung müsse spürbar gesenkt werden. Die sozialen Lasten wirtschaftlicher Anpassungsvorgänge müssten überwiegend von der Allgemeinheit getragen werden.

Der Vorsitzende des Arbeitskreises Arbeit und Soziales der CDU/CSU-Bundestagsfraktion Haimo George stellte im Pressedienst seiner Fraktion vom 13.7.1983 fest: “Der Schlüssel für die Lösung der heutigen Probleme liegt in den Kosten – vor allem der Arbeit, damit also des Tarifssystems, das aus der heutigen (Besitzstands-)Erstarrung gelöst werden muss.“ Es folgen inzwischen vertraute Stichworte wie die Stärkung der betrieblichen Ebene gegenüber den Flächentarifverträgen, die “Frage der Zumutbarkeit angebotener Arbeit für längere Zeit Arbeitslose” oder die untertarifliche Bezahlung unter humanem Aspekt.

Graf Lambsdorff hatte diese Richtung und die kleinen aber zielstrebigen Schritte bereits im September 1982 mit seinem berühmten “Scheidungspapier” zur Beendigung der Regierung Schmidt vorgezeichnet. Zwei seiner Forderungen waren auf längere Sicht besonders wirksam: Zum einen die “Verlagerung bisher öffentlich angebotener Leistungen auf den privaten Bereich mit dem Ziel einer effizienten Aufgabenerfüllung und einer Entlastung der Haushalte sowie einer Stärkung der wirtschaftlichen Dynamik.” Und zum anderen die Forderung, die europäische Ebene systematisch zur Aushebelung nationaler Standards zu nutzen: “Ablehnung gemeinschaftlicher Regelungen, insbesondere Richtlinien, die bereits im Stadium der Beratung ……. das Investitionsklima belasten….” Ihre jüngste Bekräftigung hat diese Strategie einer ausgedünnten demokratischen Kontrolle im europäischen Verfassungsprozess erfahren. Der vom Bundestag bereits ratifizierte Entwurf war an den Volksentscheiden in Frankreich und den Niederlanden nicht zuletzt wegen der Verpflichtung auf eine neoliberale Politik gescheitert. Das hindert die Regierungen nicht, im Vertrag von Lissabon ihre Grundentscheidung für eine freie Marktwirtschaft aufrecht zu erhalten, sie aber über Verweisungen und Fußnoten hinter den Kulissen und einigen sozialen Feigenblättern zu verbergen.

Die Regierungen Kohl, Schröder und Merkel haben die damaligen Konzepte zu einem erheblichen Teil ins Werk gesetzt, wenn auch in den hierfür bislang benötigten 25 Jahren nicht immer gradlinig und auch noch keineswegs vollständig. Ob die SPD jene Strategiepapiere noch einmal, wie 1984 geschehen, unter dem Titel “Dokumente der Reaktion. Die Kampfansage der Rechten an den Sozialstaat” veröffentlichen würde, darf bezweifelt werden.

Erfolge

In der öffentlichen Rhetorik werden die abverlangte “Lohndisziplin”, die Einschränkung von Sozialleistungen, das “Sparen” des Staates und die Besserstellung der ohnehin Bessergestellten damit gerechtfertigt, dass hierdurch die Massenarbeitslosigkeit und die Staatsverschuldung abgebaut und Raum für Zukunftsinvestitionen geschaffen würde (“Gewinne von heute sind die Investitionen von morgen und die Arbeitsplätze von übermorgen”). Verglichen mit der Abschlussbilanz der Regierung Schmidt hat die seitherige Politik diese Ziele nicht nur verfehlt, sondern die Probleme verschärft. Das ist nicht überraschend. Denn eine einseitige Politik der Kostensenkung unterstützt zwar die Exportwirtschaft, schwächt aber Massenkaufkraft und Binnennachfrage, was schon Henry Ford wusste: Autos kaufen keine Autos. Und überraschen kann auch nicht, dass eine prozyklische Sparpolitik die notwendigen Investitionen in Infrastruktur und “Humankapital” nicht bezahlen kann und damit nachhaltiges Wachstum schwächt.

Erfolgreich ist neoliberale Politik deshalb nicht bei ihren propagierten, wohl aber bei der Realisierung ihrer strategischen Ziele, nämlich bei der Renditesteigerung und der Verteilung. Erreicht wurden z.B.:

  • Höhere Entlohnung des Kapitals, geringere Entlohnung der Arbeit
  • Umwandlung Deutschlands in ein Niedrigsteuerland für Unternehmensgewinne und Kapitaleinkünfte im Zuge eines internationalen Steuerdumping
  • Förderung des globalen Kaufens und Verkaufens von Unternehmen z.B. durch Steuerfreiheit für Veräußerungsgewinne, Deregulierung der Finanzmärkte und eine die deutschen global player begünstigende Außenwirtschaftspolitik der EU
  • Unterstützung der deutschen Exportwirtschaft bei der Erschließung neuer Absatz-, Investitions- und Rohstoffmärkte auch um den Preis der Verlagerung zumal wenig qualifizierter Arbeit ins Ausland
  • Umverteilung von unten nach oben (“Einkommensspreizung”, Abschaffung der Vermögensteuer, Minimierung der Erbschaftsteuer, “Steuergestaltung” für die höheren Einkommen)
  • Privatisierung von strategischen Unternehmen (Verkehr, Energie, Post, Telekommunikation, Banken) und weiteren Bereichen der Daseinsvorsorge (Krankenhäuser, Wasserversorgung, Entsorgung)
  • “Flexibilisierung” des “verkrusteten” Arbeitsmarkts, um den Kostenwettbewerb über Löhne und Arbeitsbedingungen führen zu können (Abbau von Schutzrechten, Ausbau prekärer Beschäftigungsverhältnisse und des Niedriglohnsektors)
  • Neue Maßstäbe für Kapitalrenditen, mit denen auch rentable Betriebe niedergerungen werden können
  • Überwälzung der sozialen Kosten flexibilisierter, prekärer Arbeitsverhältnisse auf die einzelnen (Scheinselbständigkeit, Ich-AG) bzw. auf die Allgemeinheit, bis hin zu öffentlich mitfinanzierten Kombilöhnen
  • Teilprivatisierung der herkömmlich solidarisch finanzierten Altervorsorge und der Gesundheitskosten (die Gewinnexplosion der privaten Lebensversicherer durch die kapitalgedeckte Rente wird auch durch staatliche Werbung und Kostenübernahme angetrieben)
  • Großzügigkeit bei umwelt- und verbraucherpolitischen Regulierungen (Automobilindustrie, Energiewirtschaft, chemische und pharmazeutische Industrie)
  • Senkung der Staatsquote mit der Folge geringerer Aufwendungen für Zukunftsinvestitionen (s. OECD-Vergleiche zur Bildungsfinanzierung und zum schulischen Leistungsniveau) oder auch für sozialpräventive, jugendpolitische Aufgaben, die für den sozialen Zusammenhalt unerlässlich sind
  • Drastischer Abbau des öffentlichen Dienstes und seiner Leistungsfähigkeit
  • Aushebelung staatlicher Regulierungen durch (dann nicht eingehaltene) Selbstverpflichtung der Wirtschaftsverbände (Ausbildungsplätze, Einwegflaschen, Kfz-Emissionen, Pharmapreise, Nichtraucherschutz in der Gastronomie)
  • Vermeidung unkalkulierbarer parlamentarischer Beratungen durch Vorschaltung prominent besetzter Expertenkommissionen und durch administrations- und parlamentsnahe Lobby-Arbeit
  • New Public Management in der öffentlichen Verwaltung, im Bildungs- , Wissenschafts-, Gesundheits- und Pflegebereich zur Durchsetzung betriebswirtschaftlicher Nutzenkalküle
  • Diskreditierung des Staates als Anwalt der kleinen Leute und der Zukunftssicherung
  • Etablierung von privatem Fernsehen und Rundfunk
  • Positive Besetzung von “Wettbewerb” und “Elite” unabhängig von chancengleichen Wettbewerbsbedingungen und unabhängig von fairen Perspektiven für die Verlierer.

In der Summe sind dies die Weichenstellungen weg vom sozialen, im Sinne des Gemeinwohls intervenierenden und ausgleichenden Rechtsstaat hin zu einer anderen Republik. Man täte den Protagonisten dieser Entwicklung Unrecht, wollte man in der Übereinstimmung von neoliberaler Vision, Strategiepapieren und politischer Realisierung nur das zufällige Ergebnis situationsbezogener Entscheidungen sehen. Die Strategen und Macher haben Anspruch auf Anerkennung ihrer Leistung. Die skrupulöse Scheu, strategische Zusammenhänge anzuerkennen, ihre Tabuisierung als “Verschwörungstheorie”, verstellt den Blick auf die Wirklichkeit. Wer den Strategiepapieren von 1982/83 den Erfolg nicht zuerkennen mag, kann aus jüngerer Zeit die ausgereiften und umsetzungsbezogenen Empfehlungen der Bertelsmann-Stiftung und bedeutender Unternehmensberatungsgesellschaften würdigen, die die neoliberale Basisstrategie auf zahlreiche Politikfelder anwenden. Auch die freundlichste Interpretation der vorstehenden Erfolgsliste kommt an der Tatsache nicht vorbei, dass zahlreiche einschneidende Maßnahmen wie die Begünstigung von Finanzinvestoren oder die Privatisierungen in der Daseinsvorsorge nicht dem Kostendruck des globalen Wettbewerbs geschuldet sind. Ganz im Sinne des Neoliberalismus zielen sie – als Selbstzweck – auf ausschließliche Aneignung der Produktivitätsgewinne durch die Kapitalseite, auf Umverteilung von unten nach oben, auf Verlagerung vom gemeinwohlorientierten auf den gewinnorientierten Sektor, auf Abbau chancengleichen Zugangs zu öffentlichen Gütern und auf Entmachtung des Staates. Sollte die Globalisierung mit ihrem Kostendruck tatsächlich Wohlstandseinbußen in Deutschland erzwingen, so wäre eine am Gemeinwohl orientierte Politik nicht gehindert, diese solidarisch zu organisieren und eine faire Teilhabe am Sagen und Haben anzustreben. Neoliberale Politik will und tut das Gegenteil.

Der Erfolg der neoliberalen Strategie für Deutschland ist nicht zu trennen von der Entwicklung in den USA. Zwar sorgten diese schon in den 70er Jahren in ihrem südamerikanischen “Hinterhof” für neoliberale Ordnung. Den Durchbruch brachte jedoch erst die Präsidentschaftswahl 1980, als die amerikanischen Milliardäre den Wahlsieg ihres Kandidaten Ronald Reagan feiern konnten. Großbritannien folgte seit der zweiten Amtszeit von Margret Thatcher. Der marktradikale Kurs prägte seitdem die internationale Finanz- und Handelspolitik (IWF, Weltbank, WTO, GATS). Ohne diese machtpolitische Ermutigung wären die deutschen Strategiepapiere von 1982/83 vermutlich eines geblieben: Papier. Weitere Erfolgsbedingungen sind die von deutschen Regierungen mitbetriebene neoliberale Ausrichtung der EU und die international agierenden Medienkonzerne von Murdoch über Time Warner und Berlusconi bis zu Bertelsmann und Springer. Letztere arbeiten daran, breiten Mehrheiten den Glauben an die Segnungen unregulierter Wirtschaft und die Überflüssigkeit des Staates beizubringen. Die Meinungsführerschaft dank der Massenmedien wird ergänzt durch großzügig finanzierte Denkfabriken und PR-Agenturen (Scholz&Friends propagieren für die Arbeitgeber seit 2000 die “Neue Soziale Marktwirtschaft”), durch Zusammensetzung von Expertengremien und die Besetzung wirtschaftswissenschaftlicher Lehrstühle, die die Deutungshoheit zu sichern haben. Dadurch können griffige Schlagworte wie Globalisierung, Demographie, Neidsteuer, Deregulierung und Entfesselung (statt Entrechtlichung), Freizeitpark oder soziale Hängematte, aber auch Kampagnen gegen den gefräßigen, verschwenderischen und ineffizienten Staat unabhängig von ihrem argumentativen Wert platziert werden. Alternative Politiken, mit denen andere Länder die großen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Probleme unter Wahrung ihrer sozialen Demokratien und ohne Einbußen an notwendigem Kapital lösen, können erfolgreich ignoriert oder diskreditiert werden.

Daneben hatte permanentes Schlechtreden des “Standorts Deutschland” dafür zu sorgen, dass weitere “Reformen” als unerlässlich erscheinen. Inzwischen geht es darum, dem Publikum beizubringen, dass die aktuelle (vielleicht nur flüchtige) Verbesserung einiger Wirtschaftsdaten der “Reformpolitik” zu danken sei. Außerordentlich erfolgreich sind die treibenden Kräften des neoliberalen Projekts darin, Schlüsselpositionen auf unternehmerischen, staatlichen und verbandlichen Führungsebenen einzunehmen. Dass der Mitverfasser des Lambsdorff-Papiers Kanzlerberater und Präsident des Bundesbank und sodann Kuratoriumsvorsitzender der “Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft” wurde, möge als Beispiel dienen. Inzwischen ist die deutliche Mehrzahl der Entscheidungsträger in Wirtschaft, Politik und Massenmedien dem neoliberalen Projekt verbunden. (Zum marktradikalen Elitennetzwerk in Deutschland s. Butterwegge et al. S. 75 ff; das internationale Netzwerk präsentiert sich der Öffentlichkeit jährlich in Davos als “Weltwirtschaftsforum“)

Unerledigtes

Erhebliche Teile der neoliberalen Agenda sind noch nicht abgearbeitet. Sie sind darauf gerichtet, Reste des Kündigungsschutzes, der Mitbestimmung und des gewerkschaftlichen Einflusses auf die Arbeitsbedingungen zu beseitigen, die Erbschafts- und Gewerbesteuer abzuschaffen, mit einer flat-tax die hohen Einkommen weiter zu entlasten, dem Steuerrecht sozialstaatliche und ökologische Lenkungsfunktionen zu entziehen, die Pflegeversicherung zu privatisieren, den Sockelbetrag der Sozialhilfe zu halbieren, die Kinderarmut in den nicht steuerpflichtigen Familien durch höhere Steuerfreibeträge zu bekämpfen und die bereits erreichte Ökonomisierung vieler öffentlicher Dienstleistungen durch Verkäufe zum Schnäppchenpreis zu ergänzen, wie dies aktuell für die Deutsche Bahn vorbereitet wird. Der aufkommende Widerstand gegen den Ausverkauf des Staates, nicht nur bei der Bahn, sondern gerade auch in den Städten und Gemeinden, signalisiert, dass die schleichende Revolution sich noch anstrengen muss. (Werner
Rügemer, Privatisierung in Deutschland. Eine Bilanz, 2006)

Selbst die neoliberale Meinungsführerschaft und Deutungshoheit ist noch nicht gesichert. Noch immer behaupten sich Redaktionen gegen das Diktat der Quote und die Interessen der Werbekunden; Wissenschaftler, die es wollen, können noch ihre Unabhängigkeit wahren und kleinere Netzwerke entziehen sich der Gleichschaltung. Vor allem aber hilft eigene Betroffenheit dem Publikum zunehmend dabei, Propaganda von Fakten und Verlautbarungspolitik von Realpolitik zu unterscheiden. Protagonisten des Neoliberalismus wie der Bundespräsident oder Alan Greenspan (nach seinem Abschied als Präsident der US-Notenbank) sehen sich veranlasst, dessen augenscheinliche Konsequenzen wie Armut, soziale Schieflage und wachsende Entfremdung zwischen Unternehmen und Gesellschaft zu beklagen. Auch der Verlauf und Ausgang des Wahlkampfes 2005 nebst anschließenden Rücksichtnahmen auf bröckelnde Akzeptanz nährt Zweifel am ungehinderten Erfolgskurs des Neoliberalismus in Deutschland. Für den Bundesfinanzminister war dies Grund genug, von einem wirtschaftsnahen Institut erforschen zu lassen, was zu tun sei, damit das Volk mehr von jenen Reformen verlangt, die es bisher nicht will (nachdenkseiten vom 13.8.2007). Der Rat der Forscher: Zum richtigen Zeitpunkt vollendete Tatsachen schaffen und die Botschaft beharrlich und unbeirrt wiederholen, ganz im Sinne von Margret Thatchers und Gerhard Schröders TINA: There Is No Alternative.

Verfassungsfeindlich, verfassungsvergessen

Das Bundesverfassungsgericht prüft auf Antrag einzelne Gesetzesvorschriften auf ihre Vereinbarkeit mit dem Grundgesetz und stellt ggf. ihre Nichtigkeit fest. Grundlage seiner Prüfung sind Rechtsnormen. Das Handeln des Gesetzgebers ist in der Regel nicht Vollzug von Verfassungsnormen sondern vorrangig politisches Handeln. Es bedarf vor allem einer von der Verfassung verliehenen Zuständigkeit; im übrigen hat es die Normen der Verfassung zu achten. In diesem rechtlichen Rahmen hat der Gesetzgeber im gewaltenteilenden Staat sein eigenes Mandat, kraft demokratischer Legitimation politische Entscheidungen zu treffen, also zwischen Interessen zu entscheiden, Risiken abzuwägen, Zukunftsprognosen zu wagen und sich dabei an den Wertmaßstäben und Erwartungen der freiheitlichen demokratischen Grundordnung zu orientieren. Das Gericht respektiert diesen Vorrang des politischen Prozesses durch eine geringere Kontrolldichte. Während es beim Schutz der Grundrechte und der Wahrung von Zuständigkeiten ein dichtes Normengeflecht vorfindet, prüft es im Bereich politischer Gestaltung z.B., ob das angegriffene Gesetz das rechtsstaatliche Gebot der Verhältnismäßigkeit wahrt und das Verbot willkürlicher, insbesondere willkürlich belastender, unter keinem sachlichen Gesichtspunkt nachvollziehbarer Regelungen beachtet ist.

Ein abrupter Umbruch in eine den Verfassungskern negierende Ordnung erhöht die verfassungsgerichtliche Kontrolldichte, macht die freiheitliche demokratische Grundordnung zu einer unmittelbar anwendbaren Norm. Denn hier liegen die Intentionen, die die Akteure mit ihren gleichzeitigen und tief greifenden Maßnahmen verfolgen, offen zu Tage. Die über Jahre und Jahrzehnte sich erstreckenden einzelnen Schritte des neoliberalen Projekts hingegen, die jeweils für sich genommen die verfassungsrechtliche Prüfung bestehen können, ergeben erst in ihrer Summierung die angestrebte neue Ordnung. Das Bundesverfassungsgericht fahndet hier nicht nach verfassungsfeindlichen Absichten und langfristigen Strategien. Die schleichende Revolution genießt die Prämie der kleinen Schritte.

Das neoliberale Projekt ist, wie dargestellt, gegen den Verfassungskern des Grundgesetzes gerichtet. Diejenigen, die es entwickeln, propagieren oder einzelne Elemente mit der Absicht umsetzen, die strategischen Ziele zu erreichen, handeln zumindest objektiv verfassungsfeindlich. Sie waren und sind dabei nicht ohnmächtige Vollstrecker einer naturwüchsigen Globalisierung. Meist haben sie mehrere Optionen und entscheiden sich für solche Maßnahmen, die das neoliberale Projekt fördern und keinen unkalkulierbaren Widerstand auslösen. Es ist schwierig zu mutmaßen, ob alle Akteure auch das finale Ziel des Neoliberalismus, den radikalen freien Markt zugunsten der Starken, erreichen oder auf halbem Wege stehen bleiben wollen oder ob sie ledigdiglich naiv dem Versprechen folgen, die verlangten “Reformen” führten zu Arbeit und Wohlstand für alle, oder gar irrtümlich meinen, unter weltwirtschaftlichen Zwängen so handeln zu müssen. Was mag ein Bundeskanzler denken, der nach eigenem Bekunden “geliefert” hat und dann düpiert und hilflos die Mächtigen der Wirtschaft um Patriotismus bittet? Auch subjektiv verfassungsfeindlich reden und handeln zumindest jene, die einzelne Elemente der freiheitlichen demokratischen Grundordnung, deren Unantastbarkeit gemäß Art.79 Abs.3 GG sie kennen, ausdrücklich für nicht mehr bindend erklären, etwa weil der Sozialstaat nicht mehr finanzierbar, der Bundesstaat hinderlich fürs Durchregieren oder die Mitwirkung des Volkes an der politischen Willensbildung nicht von Sachkunde und Gehorsam gegenüber den Finanzmärkten getragen sei. Für die Würdigung im konkreten Fall sieht das Grundgesetz zu seinem eigenen Schutz die Verfahren zur Aberkennung von Grundrechten und zum Parteienverbot vor (Art. 18, 21 Abs.2).

Abseits solcher eher seltenen offenen Bekundungen verfassungsfeindlicher Absichten ergibt sich ein nicht weniger beunruhigender Befund. Viele Akteure, die in Denkfabriken, Medien, Parteien, Verbänden, Parlamenten und Regierungen in der Spur des neoliberalen Projekt arbeiten, tun dies, ohne ihr Handeln an den Geboten und Erwartungen der freiheitlichen demokratischen Grundordnung zu messen. Das tägliche Geschäft im jeweiligen Fachgebiet, aber auch die überfordernde Komplexität der Aufgaben lässt es opportun erscheinen, eigene Durchsetzungschancen nicht durch weiter reichende Fragen zu gefährden. Überdies weiß man sich geborgen im inzwischen herrschenden Meinungsklima, an dessen Entstehung vertrauenswürdige Experten sowie jeweils nahe stehende Partei- und Fraktionsführer beteiligt waren. Von diesen wird man erwarten dürfen, dass sie die Eckpfeiler des neoliberalen Projekts – Deregulierung, Privatisierung, Steuersenkung usw. – sorgfältig konzipiert haben und angesichts schwieriger Weltverhältnisse das Beste für das Land und seine Menschen erreichen wollen. Warum dann noch an die Verfassung denken? Solche Verfassungsvergessenheit bewahrt zwar in der Regel vor rechtlichen Sanktionen, bleibt aber trotzdem nicht folgenlos. Die Akteure der kleinen zielgerichteten Schritte, die sich um deren strategischen und verfassungsrechtlichen Kontext nicht kümmern, verspielen die demokratische Legitimität ihres Handelns, sie geben sich als Akteure zu erkennen, die nicht die Sache des Gemeinwesens, das Wohl der Allgemeinheit vertreten, sondern zumindest objektiv die Interessen einer Elite, die sich von diesen Anforderungen freigezeichnet hat. In einer demokratisch wachen, für die Lebensform ihrer Grundordnung eintretenden Gesellschaft ist dies eine Einbuße an Meinungsführerschaft und Durchsetzungskraft, mehr noch: dieser Legitimitätsverlust ist eine Ermutigung für alle, die sich ihr Recht, in einer freien, kultivierten und solidarischen Gesellschaft zu leben, nicht nehmen lassen wollen.

Spurensuche

Was mag den Macht habenden Teil der deutschen Elite in Wirtschaft, Politik, Denkfabriken und Medien dazu bewegen, diesen Weg der Entsolidarisierung, der Bereicherung um jeden Preis, auch den der volkswirtschaftlichen Unvernunft zu forcieren, zu vergessen, was die Verfassung vor allem ihr abverlangt? An der Überzeugungskraft marktradikaler Modelle wird es kaum liegen und persönliche Dispositionen wie die narzisstische Vergrößerung des Ichs gehören ohnehin zur Menschheitsgeschichte. Auch die tatsächlichen und die vermeintlichen Zwänge der Weltwirtschaft dürfen hier außer Betracht bleiben. Denn andere, insbesondere nordeuropäische Länder gehen mit der globalen Situation anders um und vor allem sind es die deutschen Machteliten selbst, die die Öffnung ausländischer Märkte unter Außerachtlassung sozialer, ökologischer und kultureller Standards betrieben haben und betreiben. Aufschlussreicher sind Rückblicke ins 20.und 19. Jahrhundert.

Als 1945 gleich mehrere deutsche Wertehimmel einstürzten, war es nahe liegend, sich auf das dringlich zu Machende zu konzentrieren. Hierfür war die Ideologie nützlich, man könne Gesellschaft rein sachlich gestalten, ohne Rückbindung an Interessen und Werte, zu denen man stehen muss, die sich aber eines Tages wieder als brüchig erweisen könnten. Die Anforderungen einer sozialen Demokratie waren von dieser Skepsis nicht ausgenommen, sie waren sogar überflüssig: “Die moderne Technik bedarf keiner Legitimität; mit ihr herrscht man, weil sie funktioniert.“ (Schelsky 1965). Eine vermeintlich wertneutrale Technokratie gestattet es, Bedürfnisse und soziale Forderungen, die quer zu den Interessen der Machtelite liegen, als ideologisch und damit als unsachlich abzutun. Karl Steinbuch 1982: “Wenn wir unsere politische Ordnung wieder auf Rationalität stellen wollen, dann müssen wir mit dem Diktat der uninformierten Mehrheit aufräumen.“ Willy Brandt 1984: “Wann immer für ‘Eliten’ getrommelt wird, marschiert im Geiste die Verachtung fürs ‘gemeine Volk’ mit”. Ihren Höhepunkt erreichte die Ideologie der Ideologiefreiheit mit Ludwig Erhards und Rüdiger Altmanns Vision einer “formierten Gesellschaft“, handelnd durch ein “Deutsches Gemeinschaftswerk”, das den Sachverstand der Experten von unsachlichen Forderungen und demokratischen Verbiegungen freihalten sollte. Dass der Konflikt mit den wertbezogenen Grundentscheidungen der Verfassung damals nicht offen ausbrach, war neben dem baldigen Ende der Regierung Erhard jenem “Wirtschaftswunder” zu danken, das auch den Zurückgebliebenen das Gefühl genügender Teilhabe an Wohlstand und Sicherheit verschaffte. Aktuell geblieben ist technokratisches Denken gleichwohl, wie der Einfluss Niklas Luhmanns ebenso zeigt wie das vertraute Bekenntnis, dass es keine rechte und linke, sondern nur richtige und falsche Wirtschaftspolitik gebe.

Für die Distanz der deutschen Machtelite zum Verfassungskern des Grundgesetzes ist es nicht weniger folgenreich, dass zur politischen Identität der Bundesrepublik Deutschland die “Wertegemeinschaft” mit den USA gehört. Manager und Wissenschaftler, die von den dortigen Verhältnissen fasziniert sind, glauben in deren Sinne zu handeln, wenn sie empfehlen, amerikanischer Wirtschafts- und Sozialpolitik nachzueifern – ungeachtet der Feststellung des früheren Cheftheoretikers Margret Thatchers: “Kein europäisches Land, nicht einmal Großbritannien, ist bereit, das Ausmaß an sozialem Elend hinzunehmen, das die freie Marktwirtschaft in den Vereinigten Staaten zu verantworten hat” (John Gray 1998). Doch so sehr eine solche deutsch-amerikanische Wertegemeinschaft in rechtsstaatlichen, zum Teil auch in demokratischen Normen ihre Wurzeln hat, so sehr führt sie im Blick auf den deutschen Sozialstaat (und auch im Blick auf die grundgesetzliche Verbindlichkeit von Völkerrecht und defensiver Militärpolitik) in die Irre. Die USA wollen kein Sozialstaat sein, auch wenn sie vorübergehend wesentliche Elemente von Sozialstaatlichkeit realisiert haben. Sie wollen eine Gesellschaft freier Individuen sein, die sich auf eigene Faust durchsetzen und verteidigen, neue Grenzen erobern, mit eigener Initiative Gemeinnütziges aufbauen, ihres Glückes Schmied sind und ihre Niederlagen und ihr Elend ertragen, ohne vom Staat, allenfalls von der lokalen oder religiösen Gemeinschaft, Hilfe zu erwarten. Man mag sich diese Lebensform wünschen oder nicht. Als Vorbild gewählt, ist sie für die deutsche Machtelite eine Ermutigung, den Geltungsanspruch des grundgesetzlichen Sozialstaats nicht ernst zu nehmen.

Wer verstehen will, warum wichtige Teile der Gesellschaft den entfesselten Egoismus als höchsten Wert akzeptieren, kommt an der Geistes- und Sozialgeschichte des 19. Jahrhunderts speziell in Deutschland nicht vorbei. Mit der schwindenden Überzeugungskraft von Metaphysik und Religion wurde die bindungslose Freiheit, die egomanische Selbstverwirklichung vorgedacht, nicht mutwillig, sondern zumeist im Zorn auf die alten Mächte Thron und Altar, die die Glaubwürdigkeit ihres moralischen Anspruchs verspielt hatten. Symptomatisch hierfür waren, wenn auch zunächst ohne Breitenwirkung, Max Stirner (Der Einzige und sein Eigentum) und Friedrich Nietzsche. Letzterer dichtete den großen gelungenen Menschen, der um seiner selbstbezogenen Größe willen fähig ist, Leiden zuzufügen und den Anblick dieses Leidens auszuhalten (Die fröhliche Wissenschaft). Die Würde des Menschen, die das Grundgesetz geachtet und geschützt sehen will, ist indessen nicht die einer heroischen Elite, sondern die unheroische Würde eines jeden. Eine lockere Streitschrift “Die Tyrannei des Gemeinsinns. Ein Bekenntnis zur egoistischen Gesellschaft” (Herzinger 1997) ist ohne solchen Vorlauf schwer vorstellbar. Eine Fundgrube für die Wurzeln moralischer Indifferenz und elitärer Geringschätzung der breiten Bevölkerungsschichten ist die Sozialgeschichte des Kaiserreichs – vom Militarismus über die Reste des Feudalismus bis zum akademischen Standesdünkel. Ihre Spuren sind mit der Flucht des Kaisers nicht ausgelöscht (Fritz Fischer, Bündnis der Eliten. Zur Kontinuität der Machtstrukturen in Deutschland 1871-1945, 1979).

Die Spurensuche führt nicht zuletzt zu jenem frühen oder alten Liberalismus, der nun wieder neu und jung sein will – ein historischer Rückgriff, für den sich ausdrücklich auch Milton Friedman einsetzte. Jener frühe Liberalismus plädierte dafür, dass der Staat sich auf Sicherheit, Ordnung und Verteidigung zu beschränken habe. Roman Herzog erinnert in seiner Kommentierung des Art. 20 GG an den “letztlich anarchistischen Urgrund des frühen theoretischen Liberalismus….Die Auflösung des Staates bei Marx hat also ein prinzipiell liberales Vorbild”. Diese antistaatliche Traditionslinie wurde nur kurzzeitig durch Sozialliberale von Friedrich Naumann und Hugo Preuß bis zu Karl Herrmann Flach, Werner Maihofer und Gerhard Baum unterbrochen, die die Idee eines sozialen Rechtsstaats mitgetragen haben. Umso gravierender für die politische Debatte in Deutschland ist es, dass der kontinuierliche Kampf des Liberalismus gegen Demokratie verdrängt wird. Die Unvereinbarkeit von Demokratie mit bürgerlicher, in Besitz und Bildung gegründeter Freiheit hat Friedrich Christoph Dahlmann anschaulich beschrieben (Ein Wort über Verfassungen, 1815): Die Repräsentativverfassung “hat nichts zu schaffen mit Volkssouveränität, denn die Bevölkerung kann gar wohl die Einsicht haben, dass um des Volkes willen regiert werde, ohne darum sich zu dem Wagestück zu versteigen, selbst die Regierung übernehmen zu wollen.” Die “herrschende Lehre” der Verfassungsrechtler hat sich um diese Unvereinbarkeit nicht gekümmert, sondern den Zwitter einer “liberalen Demokratie” gezeugt. Auch diese Traditionslinie gehört, wie die über das 19. Jahrhundert hinausreichende, vom Liberalismus legitimierte Klassengesellschaft, zum Bewusstsein einer Elite, die sich sozialethisch und letztlich verfassungsrechtlich entpflichtet hat und die Kosten ihrer ungebundenen Freiheit dem Rest der Gesellschaft auferlegt.

Kulturbruch

Verglichen mit dem – aus deutscher Sicht – “gewöhnlichen” Kapitalismus, der sozialen Marktwirtschaft, ist der Neoliberalismus mehr als eine intensivere Umverteilung des gesellschaftlich erarbeiteten Reichtums von unten nach oben. Er ist auch, und dies ist die praktische Konsequenz seiner Unvereinbarkeit mit dem Menschenbild des Grundgesetzes und einer dem Gemeinwohl verpflichteten Staatlichkeit, eine Absage an tradierte Leitbilder der individuellen Lebensführung und des gesellschaftlichen Zusammenlebens. Sein plattes ökonomistisches Menschenbild kennt nur Nutzenmaximierung und die hierfür für erforderlich gehaltene Freiheit vom Staat. Es gestattet zum Beispiel noch nicht einmal ein Bedauern darüber, dass Bildung in instrumentelle Ausbildung pervertiert wird, dass die Kommerzialisierung in alle Poren das Alltagslebens eindringt oder die kultivierte Entwicklung des Menschen neben der Perfektionierung der Dinge in der “Philosophie der Freiheit” keinen Stellenwert hat. Neoliberalismus ist aber vor allem eine Absage an die große Leistung der europäischen Kultur, die Menschen durch das Recht – auch und gerade in Klassengesellschaften – gegen den Mutwillen und die Gier der Starken schützen zu wollen. Kultivierte Freiheit ist auf das Recht, auf Regulierung angewiesen.

Der “gewöhnliche Kapitalismus” begnügt sich mit einer wie auch immer zu seinem Vorteil verschobenen Balance von individueller, durchaus auch ökonomischer Freiheit und solidarischer Rücksicht, von materieller Bereicherung und Respekt vor den Verlierern. Damit bewegt er sich als eine von mehreren politisch möglichen Optionen innerhalb der freiheitlichen demokratischen Grundordnung. Der Neoliberalismus will sich von diesen Fesseln grundsätzlich befreien. The winner takes all. Die Zerstörung von Bindungen, Pflichten und Verantwortlichkeiten ist der Kern dieser “Philosophie der Freiheit” und sie ist der Kern ihrer wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Praxis bis hin zur Neuformierung bzw. Deformierung der Individuen. Sie bekennt sich unverschlüsselt zur Naturgegebenheit von Oben und Unten, von Herr und Knecht. Gräfin Dönhoff hatte diese weit über das Ökonomische hinausreichenden Konsequenzen im Blick, als sie 1996 ihren “Zwölf Thesen gegen die Maßlosigkeit” den Titel gab: “Zivilisiert den Kapitalismus!”.

Der französische Bürgerkönig hatte1830 seine Untertanen aufgefordert: “Bereichert Euch!”. Damals war eine sozialethische Verpflichtung des Bürgertums gegenüber den zu diesem Zweck Ausgebeuteten oder gar ein Recht der Verlierer auf Sicherung eines menschenwürdigen Unterhalts durch Arbeit oder öffentliche Hilfe nicht vorgesehen. Erst die Erkämpfung solcher Rechte durch die Arbeiterbewegung und ihre Verankerung im sozialen Rechtsstaat hat dem einzelnen die Anerkennung als gleichberechtigtes Subjekt verschafft. Dem Neoliberalismus geht eine solche Inpflichtnahme der Mittel- und Oberschicht zu weit. Man ist bereit zu “Charity”, zu Wohltätigkeit und Barmherzigkeit, aber möglichst ohne Rechtsanspruch. Friedmans Vorschlag einer negative Einkommensteuer sei als Ausnahme erwähnt, ebenso der Mindestlohn in den USA als Relikt des New Deal. In der deutschen Adaption bevorzugt neoliberale Politik die Aufstockung unzureichender Löhne durch staatliche Transfers. Sie nimmt in Kauf, dass sich entwürdigt fühlt, wer trotz regulärer Arbeit öffentliche Unterstützung beantragen muss. Transferleistungen, die das Existenzminimum sichern und Wettbewerbsvorteile durch Dumpinglöhne ermöglichen, sollen davon abhängig sein, dass jede – auch unterbezahlte – Arbeit angenommen wird (ALG II). Roland Koch hat geltend gemacht, dass der Staat für Brot und Salatköpfe keine Preise festsetze, deshalb bräuchten wir auch keine staatlich festgesetzten Preise für die Arbeit (rbb iinforadio vom 18.6.2007). Angesichts statussichernder Honorarordnungen für Rechtsanwälte, Steuerberater, Ärzte und Architekten wird hier einmal mehr die elitäre Verachtung fürs “Personal”, für die Arbeitskraft als bloße Ware, demonstriert.

Es ist nicht unbeabsichtigt, dass dieses Szenario bei vielen, die noch reguläre Arbeit haben, Angst vor dem Absturz erzeugt. Das macht sie hinsichtlich ihrer Entlohnung und ihrer Arbeitsbedingungen gefügig, sofern der Arbeitgeber nicht auf ihre spezifischen Qualifikationen angewiesen ist. Existenzangst setzt sich deshalb – neben den Geld- und Statusanreizen in den oberen Etagen – als zentrale Motivation im Arbeitsleben durch. Wenn prekäre Arbeitsverhältnisse oder unzulänglicher Kündigungsschutz die eigene wirtschaftliche Existenz und die der Familie bedrohen, könnte der Mut zu Konflikten am Arbeitsplatz zu teuer bezahlt sein. Vor allem muss nach neuer Arbeit Ausschau gehalten werden. Job-Mentalität löst die Verbundenheit mit der Arbeitsaufgabe ab, die herkömmlich Garant ist für langfristiges Engagement, Kreativität und Loyalität, für professionelle Qualität, Berufsstolz und selbstbewusste Identität. Die neuen renditegetriebenen Produktions- und Arbeitsformen und technologischen Umbrüche, die der Dynamik des zunehmend entgrenzten Kapitalismus zu danken sind, haben die Menschen, die auf Arbeit angewiesen sind, existentiell verunsichert. Mit ihrer Priorität für weitere “Flexibilisierung des Arbeitsmarkts” setzt neoliberale Politik alles daran, diese Entwicklung unumkehrbar zu machen.

Die Konsequenzen für das Leitbild des politisch verantwortlichen Bürgers, des citoyen, liegen auf der Hand. Das gilt nicht nur für das Engagement des einzelnen, sondern auch für die demokratische Loyalität wirtschaftlich und sozial ausgegrenzter Gruppen. Dem Extremismus des freien Marktes kann neben demokratischem Widerstand oder Resignation auch politischer Extremismus antworten. Auf der Hand liegen aber auch die Konsequenzen für die persönliche Lebensgestaltung, für den sozialen Zusammenhalt, für die Tragfähigkeit von solidarischem Einstehen. Dass der homo oeconomicus bei seiner Erfindung an neoliberalen Schreibtischen noch nicht existierte, schließt nicht aus, ihn mittels Umgestaltung und Ökonomisierung seiner Lebenswirklichkeit hervorzubringen. Viele Lebensbereiche, die ehedem durch eine gewachsene Kultur geprägt waren, folgen bereits dem Diktat der Kostenminimierung und Gewinnoptimierung. Kultur und Bildung müssen sich rechnen, Pflege und Zuwendung werden in Zeiteineinheiten zerlegt und abgerechnet, Wohnraum und Urbanität werden zum Spekulationsobjekt von Finanzinvestoren, Zeitstrukturen, die Raum schaffen sollen für Familie und autonome Lebensführung, werden aufgelöst, Medien richten ihre Inhalte darauf aus, dass sie den Werbekunden genügend Aufmerksamkeit der Hörer und Zuschauer zuführen, am effektivsten durch Banalisierung und Infantilisierung, Verlage müssen ihre Programme auf den Publikumsgeschmack abstimmen, wie ihn die Handelsketten vorgeben usw. Dank der Herkunft des Neoliberalismus aus den Vereinigten Staaten sind es vor allem amerikanische Intellektuelle, die seine entpolitisierenden und dehumanisierenden Wirkungen analysiert haben, z.B. Neil Postman (Wir amüsieren uns zu Tode 1985), Benjamin Barber (Coca -Cola und Heiliger Krieg 1995) und Richard Sennett (Der flexible Mensch. Die Kultur des neuen Kapitalismus 1998).

Die Un-Kultur der Bindungslosigkeit und der angstbesetzten Konkurrenz fordert auch an der Spitze der Hierarchien ihren Preis, nicht nur persönlich in Gestalt von burn out und Blickverengung. Über Sieg und Niederlage entscheiden zunehmend die in Quartalsberichten ausgewiesenen kurzfristigen Gewinnerwartungen, die sich wiederum in der Börsenbewertung des Unternehmens und damit in seiner Anfälligkeit für Übernahmen niederschlagen. Diese neue Kultur der Arbeit und des Wirtschaftens gefährdet die Unternehmen selbst und ihre Chancen zur Innovation und langfristig angelegten Wertschöpfung. Der ehemalige Chef der Citigroup, Sandy Weill, macht für die aktuelle Krise der Finanzmärkte allein die Gier, auch in den Topetagen der Banken, verantwortlich (Der Tagesspiegel vom 14.12.2007). Jürgen Schrempp gebührt das Verdienst, vor seinem reich belohnten Scheitern das neue Grundgesetz auf den Punkt gebracht zu haben: “Profit, Profit, Profit!”. Eine Nebenwirkung des ungebremsten Profits auf der Top-Ebene könnte sich allerdings als Eigentor erweisen. Bislang wurde gesellschaftliche Ungleichheit noch als Konsequenz des “Leistungsprinzips” akzeptiert. Maßlose Bereicherung jenseits des Leistungsprinzips verspielt diese Akzeptanz. Eskalierende Korruption tut ein übriges.

Offensive Verteidigung des Grundgesetzes

Die wirtschafts- und sozialpolitischen “Erfolge” des Neoliberalismus haben sich nicht zwangsläufig eingestellt. Sie sind gemacht und deshalb auch gefährdet. Die unerledigte Agenda, die immer sichtbarer werdende Unglaubwürdigkeit der Propaganda, das unsichere Lavieren bei bröckelnder Wählergunst, aber auch die hohe Akzeptanz des Sozialstaats und eines einigermaßen kultivierten Zusammenlebens zeigen: Die deutsche Mehrheitsgesellschaft muss nicht ohnmächtig zusehen, wie ihre Elite die neoliberale Revolution doch noch vollendet.

Die offensive Verteidigung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung sollte zur Gegenwehr gehören. Sie beginnt damit, in Wissenschaft, Medien und Organisationen deutlich zu machen, welche Antworten das Grundgesetz auf die Herausforderungen des Neoliberalismus gibt, insbesondere sein klares Nein zur schleichenden Aushöhlung eines handlungsfähigen sozialen Rechtsstaats. Darüber hinaus sind verfassungsvergessene Akteure des neoliberalen Projekts mit dessen Zielen zu konfrontieren. Es sind ihnen schlüssige Begründungen für ihr Tun und Unterlassen abzuverlangen, etwa, wie sie mit populären Steuersenkungen bei hoher Staatverschuldung die verfassungsrechtlichen Mindesterfordernisse des Sozialstaats definieren und finanzieren wollen – oder warum sie die international übliche, vom Grundgesetz (Art. 106 Abs.2 Nr.1) als selbstverständlich vorausgesetzte Vermögensteuer blockieren, mit einer minimalistischen Erbschaftsteuer die Konzentration großer Vermögen begünstigen und nötige Zukunftsinvestitionen verhindern. Offensive Verteidigung heißt auch, unter Anerkennung schwieriger Rahmenbedingungen Lösungen aufzuzeigen, die eine gedeihliche verfassungskonforme Entwicklung des Landes ermöglichen. An Konzepten und an ermutigenden ausländischen Erfahrungen fehlt es wahrlich nicht, von einem belastungsgerechten Steuerrecht über Ausgabenprioritäten, die Umfinanzierung der auf schwindender Vollbeschäftigung basierenden sozialen Sicherungssysteme, die Arbeitszeitpolitik, eine effektive Kontrolle fairen Wettbewerbs bis hin zum Agieren in internationalen Organisationen (aktuell z.B. Friedrich-Ebert-Stiftung, Zukunft 2020, www.fes.de).

Offensive Verteidigung des Grundgesetzes darf sich nicht die Blöße geben, zum Preis einer verfassungskonformen Politik zu schweigen: Auch die Pflichten gegenüber dem Gemeinwesen, insbesondere die nicht nur bei vielen Wohlhabenden ungeliebte Steuerpflicht, sind offensiv zu vertreten. Gleiches gilt für die entsprechende Pflicht des Staates, mit diesem Geld wirtschaftlich und sparsam umzugehen, also vermeidbare Belastungen der Bürger zu vermeiden, effizient und kostengünstig zu handeln, soziale Leistungen zielgenau auszurichten und den begünstigten Bürgern – den etablierten Subventionsempfängern wie den Hilfsbedürftigen – jenes Maß an Eigenverantwortung, Anstrengung und Rechtlichkeit abzuverlangen, das sie sowohl der Solidargemeinschaft als auch ihrer Selbstachtung schuldig sind.


Biografische Daten zum Autor:

DR. WIELAND HEMPEL

12101 Berlin
Schulenburgring 2
030 / 786 11 31
[email protected]

Jurist, geb. 1939, Senatsrat a.D.

1970 – 1979 Bundesministerium für Bildung und Wissenschaft
1979 – 2002 Senatsverwaltung für Wissenschaft und Forschung Berlin

Buchveröffentlichungen:

Der demokratische Bundesstaat, 1969

Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses an den Hochschulen, 1973

Größere Aufsätze:

Das Mandat des Abgeordneten. Verfassungsrechtliche Fußnoten zu einem politischen Thema
Die Neue Gesellschaft 3/1974

Verschnaufpause oder Dornröschenschlaf? Sechs Gründe für eine Wiederbelebung sozialdemokratischer Hochschul- und Wissenschaftspolitik (pseudonym)
Die Neue Gesellschaft 7/1984

Elite – oder: der Anspruch, mit dem Diktat der uninformierten Mehrheit aufzuräumen
Die Neue Gesellschaft 10/1984

Ökonomisierung des Staates – Abschied vom Gemeinwohl? Wo betriebswirtschaftliches Denken die res publica beschädigt
Vorgänge 166 Heft 2 Juni 2004

Zeitschriften-, Tagungs- und Zeitungsbeiträge zur Sicherheitspolitik, zum Sozialstaat und zu Hochschulangelegenheiten

Mitglied der SPD 1968 – 2007, ÖTV/Verdi seit 1975


Hauptadresse: http://www.nachdenkseiten.de/

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