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Titel: Abschuss eines russischen Kampfjets – Die Türkei und Russland spielen mit dem Feuer

Datum: 24. November 2015 um 12:48 Uhr
Rubrik: Aktuelles, Außen- und Sicherheitspolitik, Audio-Podcast, Militäreinsätze/Kriege
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Noch ist es unklar, ob der am heutigen Morgen von der Türkei über syrischem Gebiet abgeschossene Jagdbomber vom Typ Suchoi Su-24 zuvor den türkischen Luftraum verletzt hat. Das türkische Militär behauptet dies, russische Stellen dementieren jedoch eine Verletzung türkischen Luftraums mit Nachdruck. So lange keine der beiden Seiten Beweise vorlegt, kann man über die Ursachen und Motive nur spekulieren. Die Entwicklungen, die sich in der Abschussregion in den letzten Tagen abgespielt haben, ergeben jedoch recht eindeutige Indizien dafür, dass die Türkei mehr und mehr aktiv in den Bürgerkrieg in Syrien eingreift und dabei offenbar auch das russische Militär als Feind ansieht. Wenn ein NATO-Mitglied offen militärisch gegen Russland vorgeht, ist dies eine brandgefährliche Situation. Russland ist jedoch in diesem Zusammenhang kein reines Opfer, da die russische Luftwaffe offenbar auch aktiv gegen die syrischen Verbündeten der Türkei vorgeht. Die NATO und allen voran Deutschland sollten nun so schnell und so massiv wie möglich Druck auf die Türkei ausüben. Ansonsten könnte die Situation außer Kontrolle geraten. Von Jens Berger.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.


Quelle: Anadolu

Die Absturzstelle der russischen Su-24 befindet sich in einer Region, die von der turkmenischen Minderheit[*] in Syrien als Bayirbucak bezeichnet wird. Bayirbucak liegt nur wenige Kilometer nördlich der syrischen Hafenstadt Latakia, vor deren Toren sich die von der russischen Luftwaffe genutzte Basis Khmeimim befindet. Bayirbucak ist jedoch auch heiß umkämpft und aktuell Kriegsgebiet. Seit Oktober führen dort die syrischen Regierungstruppen von Westen aus eine Offensive gegen die in der östlichen Hälfte der Region befindlichen turkmenischen Milizen durch. Wie das Internetportal Eurasia News am 19. November unter Berufung auf lokale Quellen meldete, haben die Regierungstruppen in der letzten Woche eine erfolgreiche Großoffensive gestartet. Ein wichtiger Faktor für die jüngsten Erfolge der Regierungstruppen sei demnach die Luftunterstützung durch die russische Luftwaffe.

In der Türkei werden die syrischen Turkmenen als „Türken in Syrien“ betrachtet und vor allem aus religiösen und nationalistischen Kreisen gab es schon längere Zeit offene Forderungen, sich aktiv auf Seiten der Turkmenen im Bürgerkrieg zu engagieren. Erst an diesem Wochenende hat die rechtsextrem-religiöse türkische Partei BBP 250 freiwillige Milizionäre in die Region Bayirbucak entsandt, um Seit´ an Seit´ mit den „turkmenischen Brüdern“ gegen Assads Truppen und deren Verbündete aus Russland zu kämpfen. Erst gestern forderte Mehmet Görmez, Präsident des staatlichen türkischen Amtes für religiöse Angelegenheiten und damit oberste islamische Autorität des Landes, angesichts der turkmenischen Flüchtlinge mehr Unterstützung für die Turkmenen in Syrien. Heute Morgen meldete die Nachrichtenagentur Anadolu zudem, dass die Türkei offiziell bei der UN Beschwerde über die russischen Bombardements der turkmenischen Bevölkerung im syrischen Grenzgebiet eingelegt hat. Die drohende Niederlage der Turkmenen schien bis heute Morgen nur noch eine Frage der Zeit zu sein.

All dies sind natürlich keine Beweise, dass die Türkei die russische Su-24 mit Vorsatz abgeschossen hat, was als ein kriegerischer Akt des NATO-Mitglieds gegen Russland zu sehen wäre. Als Hintergrundinformationen stellen diese Indizien jedoch ein mögliches und meines Erachtens sogar wahrscheinliches Motiv für den Abschuss dar. Leider war bis zum jetzigen Zeitpunkt in den großen deutschen und internationalen Medien noch überhaupt nichts zum Hintergrund zu hören oder zu lesen.

Mehr denn je zeigt sich, dass der Stellvertreterkrieg in Syrien ein gewaltiges Konfliktpotential beinhaltet, das weit über die Region Nahost hinausgeht. Dass Russland nicht nur – wie offiziell immer behauptet – Ziele des IS bombardiert, ist klar. Auch die Luftwaffen aus den USA, Frankreich und den Golfstaaten bombardieren nicht „nur“ den IS, sondern auch die Gegner, gegen die ihre jeweiligen Verbündeten am Boden gerade kämpfen. Dass Russland im syrischen Bürgerkrieg als Unterstützer der syrischen Regierungstruppen auch die Verbündeten der Türkei angreift, mag zwar folgerichtig sein, ist aber auch ein weiterer Schritt in der Eskalationsspirale. Sollten nun die Türkei und Russland als „Schutzmächte“ ihrer Verbündeten in Syrien gegeneinander in diesem bislang regionalen Krieg kämpfen, dann ist dies jedoch eine brandgefährliche Situation, die schnell zu einem Dritten Weltkrieg führen könne. Daher sollten sich alle beteiligten Seiten schnellstmöglich an den Grünen Tisch setzen und endlich ernsthaft einen gemeinsamen Plan zum Vorgehen in Syrien entwerfen. Und hier sind nicht nur die Türkei und Russland gefordert, sondern auch die Länder, die einen Hebel auf die Türkei haben – und dazu zählt allen voran Deutschland.

Nachtrag 14:30 Uhr: Das türkische Militär hat mittlerweile eine Flugdatengrafik veröffentlicht, die den Kurs der russischen Su-24 zeigen soll:

Das türkische Militär hat mittlerweile eine Flugdatengrafik veröffentlicht, die den Kurs der russischen Su-24 zeigen soll

Ob die Darstellung korrekt ist, lässt sich nicht sagen. Aber selbst, wenn sie korrekt sein sollte, wirft dies mehr Fragen auf, als es beantwortet. Demnach hätte die Su-24 den türkischen Luftraum lediglich rund zwei bis drei Kilometer lang überflogen. Dies sind bei Tempo 900 rund acht bis zwölf Sekunden. Gleichzeitig beharrt die Türkei jedoch darauf, den russischen Piloten innerhalb von fünf Minuten zehn Mal gewarnt zu haben, dass dieser den türkischen Luftraum verletzte. Auf Basis der veröffentlichten Flugdaten kann dies aber nicht stimmen.


[«*] Die Turkmenen in Syrien haben nichts mit dem gleichnamigen Staat in Zentralasien zu tun


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