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Titel: Auf dem Weg in den digital-autoritären Sicherheitsstaat?

Datum: 18. Dezember 2015 um 9:58 Uhr
Rubrik: Aufbau Gegenöffentlichkeit, Überwachung, Erosion der Demokratie, Interviews
Verantwortlich:

Rolf Gössner

Mit seinen historisch einmaligen Enthüllungen hat der ehemalige NSA-Mitarbeiter und Whistleblower Edward Snowden die umfangreichste verdachts­un­abhängige Überwachung aller Zeiten aufgedeckt. Für seine beispiellose Zivilcourage zeichnete ihn die Inter­nationale Liga für Menschenrechte mit der renommierten Carl-von-Ossietzky-Me­daille aus. Gemeinsam mit ihm ehrte die Liga auch die Filmregisseurin Laura Poitras und den Journalisten Glenn Greenwald, die mit der Pu­blika­tion von Snowdens Enthüllungen betraut sind. Was macht das Wirken dieser drei Menschen so besonders und notwendig? In welchem Kontext fanden ihre Enthüllungen statt? Und wovor haben sie uns – ein Stückweit zumindest – womöglich bewahrt? Zu diesen Fragen sprach Jens Wernicke mit Rolf Gössner, Vizepräsident der Internationalen Liga für Menschenrechte.

Herr Gössner, Edward Snowden, Laura Poitras und Glenn Greenwald sind Ende 2014 als “mutige Aufklärer im digitalen Zeitalter” mit Carl-von-Ossietzky-Medaillen geehrt worden. Der hierzu von Ihnen kürzlich herausgebrachten Publikation „Mutige Aufklärer im digitalen Zeitalter“ ist zu entnehmen, dass die Leistung dieser drei Personen von herausragender Bedeutung ist. Inwiefern? Was macht gerade diese Aufklärer zu so etwas Besonderem?

Die Internationale Liga für Menschenrechte zeichnete mit der Carl-von-Ossietzky-Medaille alle drei genannten Personen quasi als Aufklärungsteam aus: Edward Snowden als außergewöhnlich mutigen Whistleblower, der mit seinen Enthüllungen den größten geheimdienstlichen Überwachungs- und Ausspähskandal aller Zeiten aufdeckte – allen Widerständen und absehbaren Gefahren für seine Freiheit und sein Leben zum Trotz.

Zusammen mit Snowden ehrte die Liga die von ihm betrauten Journalisten Glenn Greenwald und Laura Poitras: Sie klärten die Weltöffentlichkeit über dessen Erkenntnisse professionell, umsichtig und verantwortungsvoll auf und tun es nach wie vor. Snowden selbst hätte dies unter Fluchtbedingungen nicht leisten können. Der wirklich eindrucksvolle und mit einem „Oscar“ ausgezeichnete Film von Laura Poitras, »Citizenfour«, dokumentiert das gemeinsame Engagement aller drei Medaillenträger und ihre riskante Aufklärungsarbeit sehr anschaulich.

Zu Ihrer Frage aber, was „gerade diese Aufklärer zu so etwas Besonderem“ macht: Weil Edward Snowden seine Entdeckungen bei der NSA für menschenrechtswidrig hielt, sah er für sich keinen anderen Weg, als die entsprechenden NSA-Dokumente und -Belege der Öffentlichkeit und damit der öffentlichen Diskussion zugänglich zu machen – zumal sich interne Abhilfe als chancenlos herausgestellt hatte. Mit dieser Gewissensentscheidung hat er sein bürgerliches Leben, seinen Arbeitsplatz, seine Privatsphäre, seine persönliche Freiheit und Sicherheit riskiert, ja geradezu geopfert, um uns die Chance zu eröffnen, unsere Freiheit zu schützen.

Mit seinen Enthüllungen und seiner Zivilcourage hat er zusammen mit Laura Poitras und Glenn Greenwald Demokratie und Menschenrechten einen überlebenswichtigen Dienst erwiesen. Die Liga würdigt die Kooperation dieses mutigen Whistleblowers mit staatskritischen Journalisten – ganz im Geiste Carl von Ossietzkys, des Namensgebers der Medaille. Der für seine Zivilcourage und für sein selbstloses Engagement international geehrte Publizist der Weimarer Republik geriet ebenfalls wegen seiner Aufklärungsarbeit in die Mühlen der damaligen politischen Justiz und fiel später dem Nazi-Terror zum Opfer.

Sie sehen also Parallelen zwischen Ossietzkys publizistischen Aktivitäten und dem Engagement der genannten drei Personen?

Ja, es gibt durchaus Parallelen. Als pazifistischer Publizist und Herausgeber der Zeitschrift „Die Weltbühne“ hatte Carl von Ossietzky im Jahr 1931 einem Luft­fahrt-Experten – heute würde man wohl sagen: einem Whistleblower – dazu verholfen, seine Erkennt­nisse über den heimlichen Aufbau einer deutschen Luftwaffe in seiner Zeitschrift öffent­lich darzulegen; ein solcher Wiederaufbau deutscher Luftstreitkräfte war nach dem Versailler Vertrag völkerrechtlich strikt untersagt. Autor war der Flugzeugkonstruk­teur und Pazifist Walter Krei­ser, der unter dem Pseudonym Heinz Jäger schrieb.

Ossietzky und Kreiser wurden daraufhin wegen Geheimnis­verrats vor dem Reichsgericht angeklagt; dieser justizielle Angriff auf die Pressefreiheit, der anschließende spektakuläre politische Weltbühne-Prozess und die spätere Verurteilung der Militärkritiker erregten damals großes Aufsehen im In- und Ausland. Das Reichsgericht verurteilte beide schließlich zu je anderthalb Jahren Freiheitsstrafe – wegen des Verrats militärischer Geheimnisse. Walter Kreiser konnte sich allerdings der weiteren Strafverfolgung durch Flucht entziehen, während Ossietzky seine Strafe im Gefängnis Berlin-Tegel verbüßte. Schon zwei Monate nach seiner Entlassung verhaftete ihn dann die Gestapo in der Nacht des Reichstagsbrands im Februar 1933 abermals und verschleppte ihn zuerst ins KZ Sonnenburg und dann ins KZ Esterwegen. Im Mai 1938 starb Ossietzky an den Folgen der erlittenen KZ-Haft und -Folter.

Heute bewegt sich der ehemalige NSA-Mit­arbei­ter Edward Snowden aus den USA in dieser Whistleblower-Tradition. Auch er muss für seine Enthüllungen harte existentielle Konsequenzen ertragen und gewärtigen: Er wird durch US-Behörden politisch gnadenlos verfolgt, wird der Spionage und des Geheimnisverrats beschuldigt und mit Haftbefehl gesucht. Er musste sich vor dieser politischen Verfolgung ins Exil retten und ihm droht im Falle seiner Festnahme und Rückkehr in die USA eine jahrzehntelange, möglicherweise lebenslängliche Haftstrafe. Bislang gibt es von Seiten der US-Administration offenbar nur die „großzügige“ Zusicherung, dass Snowden, sollte er gefasst werden, keine Folter zu befürchten hat…

Das wäre doch – gerade wegen der Lehren aus der Geschichte – ein klarer Fall für internationales Asyl. Wie haben sich diesbezüglich denn die europäischen Staaten verhalten? Und wie hat sich die Internationale Liga für Menschenrechte in Sachen Asyl für Snowden positioniert?

Die Jagd auf Snowden ist schwere politische Verfolgung, gegen die Asylrechtsschutz gewährt werden muss. Leider musste er dennoch die bittere Erfahrung machen, dass die Bundesrepublik und andere EU-Mitglieds­staaten, die sich als demokratische Rechtsstaaten verstehen, stur stellen und so das universell sowie im Grundgesetz verbriefte Menschenrecht auf politisches Asyl in diesem Fall offenbar ihrer Vasallentreue zu den USA unterordnen. Snowden muss sich also mit dem immer wieder befristeten Asyl in Russland zufrieden geben, das ihm bislang tatsächlich Schutz bietet, jedoch nicht ohne Auflagen gewährt worden ist.

Soviel zur moralischen und zivilisatorischen Überlegenheit der „westlichen Welt“…

Sie sagen es. Die Internationale Liga für Menschenrechte fordert jedenfalls – zusammen mit anderen NGOs – die Gewährung sicheren Asyls und internationalen Schutz vor Auslieferung für Edward Snowden. Beziehungsweise ein humanitäres Aufenthaltsrecht nach § 22 des bundesdeutschen Aufenthaltsgesetzes. Alles selbstverständlich unter der Voraussetzung, dass Edward Snowden ausreichend Schutz vor Auslieferung an die USA oder vor Kidnapping durch Spezialkommandos gewährt werden kann.

Wir fordern außerdem freies Geleit und Zeugenschutz für seine Vernehmung als sachverständiger sowie besonders gefährdeter Zeuge vor dem NSA-Untersuchungs­ausschuss des Deutschen Bundestags sowie als Belastungszeuge im Rahmen eines vom Generalbundesanwalt einzuleitenden Strafverfahrens. Ein solches Ermittlungsverfahren versucht die Liga zusammen mit Datenschutz- und Bürgerrechtsorganisationen schon seit Anfang 2014 mit ihrer Strafanzeige gegen Bundesregierung und Geheimdienste zu initiieren.

Mutige Aufklärer im digitalen Zeitalter

Sie verklagen die Bundesregierung und die deutschen Geheimdienste? Wieso denn das, wenn ich fragen darf?

Wir verklagen sie nicht, sondern haben sie angezeigt. Bekanntlich haben es Bundesregierung und bundesdeutsche Geheimdienste – trotz der massiven Bedrohungen und Bürgerrechtsverstöße durch die NSA-Massenüberwachung – sträflich unterlassen, die Bevölkerung und von Wirtschaftsspionage betroffene Betriebe vor den Ausforschungsattacken zu schützen – obwohl es zu ihren verfassungsrechtlichen Aufgaben gehört, diesen Schutz zu gewährleisten. Stattdessen ist etwa der Bundesnachrichtendienst in die NSA-Massenüberwachung und -Wirtschaftsspionage selbst massiv verwickelt.

Angesichts der andauernden regierungsamtlichen Le­thargie und Komplizenschaft nach Edward Snowdens Enthüllungen sah ich mich zusammen mit der Internationalen Liga für Menschenrechte, mit Digitalcourage und ChaosComputerClub daher Anfang 2014 gezwungen, beim Generalbundesanwalt Strafanzeige gegen die Bundesregierung und die involvierten Geheimdienste zu erstatten, um die politisch und strafrechtlich Mitverantwortlichen endlich zur Rechenschaft zu ziehen.

Was werfen Sie den Beschuldigten denn konkret vor? Und wem da genau?

Die Strafanzeige erfolgte erstens wegen der massiven Verstrickung deutscher Geheimdienste in das globale menschenrechtswidrige NSA-Massenüberwachungssystem, zweitens wegen millionenfacher Verletzung der Privatsphäre, und drittens, wie gesagt, wegen sträflich unterlassener Abwehrmaßnahmen zum Schutz der Bevölkerung. Es war der Versuch, damit die gesellschaftliche Duldungsstarre, die wir allenthalben spürten, zu durchbrechen. Und siehe da: Dieser Akt der Notwehr und Nothilfe, so möchte ich das mal nennen, wirkte tatsächlich wie eine Art Ventil, das plötzlich geöffnet wird: Tausende haben sich gemeldet und unterstützen die Strafanzeige.

Die Anzeige richtet sich, wie schon erwähnt, gegen die Bundesregierung, also die politisch Verantwortlichen, und gegen die fachlich Verantwortlichen der involvierten Geheimdienste im In- und Ausland und deren Amtsvorgänger – und zwar wegen verbotener geheimdienstlicher Agententätigkeit und Beihilfe hierzu, wegen der Verletzung des Telekommunikationsgeheimnisses, der Vertraulichkeit des Wortes und von Privatgeheimnissen sowie wegen Strafvereitelung im Amt.

Als Beispiel nenne ich mal das Bundeskanzleramt, denn diesem Amt kommt als zen­traler Schaltstelle der Bundesregierungen eine ganz entscheidende Rolle zu. Ihm obliegt die oberste Fachaufsicht über den Auslandsgeheimdienst BND und auch die Kooperation und Koordination der Zusammenarbeit aller drei Bundesgeheimdienste untereinander und mit anderen Dienststellen im In- und Ausland.

Just hier in dieser politischen Macht- und Schaltzentrale sitzen also die Hauptverantwortlichen dafür, dass deutsche Geheimdienste mit der menschen- und völkerrechtswidrigen NSA-Überwachungs­struktur verzahnt sind, dass Deutschland das am stärksten überwachte Land Europas ist und dass notwendige Abwehr- und Schutzmaßnahmen unterlassen wurden.

Und Sie sehen, wenn ich recht verstehe, hinreichend Belege dafür, dass der oberste bundesdeutsche Staatsanwalt zu dem Ergebnis gelangen könnte, deutsche Regierung und Geheimdienste seien in Verbrechen involviert?

In der Tat geht es um mutmaßliche Vergehen und auch Menschenrechtsverletzungen großen Ausmaßes mit weitreichenden Folgen. Und dafür gibt es ja nun reichlich konkrete Anhaltspunkte, Belege und Nachweise, wenn man die von Snowden enthüllten Fakten und weitere inzwischen offengelegte Unterlagen ernst nimmt.

Bekanntlich leitete der Generalbundesanwalt als oberster bundesdeutscher Ankläger zunächst ein offizielles Strafermittlungsverfahren ein – aber nur wegen des unfreundlichen US-Spionage-Angriffs auf das Handy der Kanzlerin. Eine offenkundig politisch motivierte Kompromissentscheidung, die an der Gleichheit aller Menschen vor dem Gesetz zweifeln lässt. Denn auf ein Ermittlungsverfahren wegen der ungleich schwerer wiegenden massenhaften Ausspähung der ganzen Bevölkerung verzichtet der Generalbundesanwalt bis heute – kurioserweise mangels „zureichender Tatsachen“. Obwohl 2015 ein neuer Generalbundesanwalt sein Amt angetreten hat, hat sich hieran bislang nichts geändert.

Trotz der Fülle an Belastungsbeweisen und -zeugen immer noch einen Anfangsverdacht zu negieren, ist meines Erachtens und nach Auffassung der Liga Ausdruck von Realitätsverleugnung und Willfährigkeit – jedenfalls hart an der Grenze zur Strafvereitelung im Amt. Doch wir werden nicht lockerlassen. Denn wir halten diese Verweigerungshaltung für eine Kapitulation des Rechtsstaats vor staatlichem Unrecht. Die demokratisch kaum kontrollierbaren Geheimdienste können sich so jeder Verantwortung entziehen, können munter weitermachen wie bisher – ja, werden, wie zur Belohnung, sogar noch weiter aufgerüstet.


„Während die Regierung Schröder, allen voran ihr Innenminister Otto Schily, ihre rigide Politik der inneren Sicherheit immerhin noch mit zwar unzutreffenden, aber doch verfassungsimmanenten Argumenten zu legitimieren suchte, hat die derzeitige Bundesregierung, allen voran ihr Innenminister Wolfgang Schäuble, diese Zurückhaltung aufgegeben und die Verfassung selbst sowie ihren Hüter, das Bundesverfassungsgericht, ins Visier der Politik genommen. Es muss jedenfalls damit gerechnet werden, dass die Politik der inneren Sicherheit der großen Koalition an der mittlerweile ins Maßlose abgeglittenen Überwachung der Bürgerinnen und Bürger weiter festhalten wird. Mit der Furcht vor Terrorismus im Rücken wird der rechts-, besser, der verfassungspolitische Aufstand geprobt – gegen eine ihrer Idee nach freiheitliche Gesellschaftsordnung, wie sie die Eltern des Grundgesetzes in der Tradition John Lockes, Charles de Montesquieus und der europäischen Aufklärung vor Augen hatten. Erkennbar soll sie durch eine leviathanische Ordnung im Sinne Thomas Hobbes‘ ersetzt werden, in der ein autoritärer, von den freiheitssichernden und machtbeschränkenden Regelungen der Verfassung enthemmter Staat über den Ausnahmezustand entscheidet. Folgerichtig bezieht sich der Bundesinnenminister ausdrücklich auf Thomas Hobbes, den er als Kronzeugen des von ihm so apostrophierten ‚modernen Staatsdenkens‘ ansieht.
Konsequent und ganz in der Manier der ‚Konservativen Revolution‘ der 20er und frühen 30er Jahre ist es dann auch der Bundesinnenminister, der beklagt, dass ‚die Verfassung immer stärker die Kette geworden ist, die den Bewegungsspielraum der Politik lahm legt.‘ Immer mehr werde ‚das politische Handeln und Gestalten stranguliert und degradiert, weil entweder mit dem Hinweis auf die Verfassung Tabuzonen […] geschaffen werden‘ oder veränderungsbedürftige Sachverhalte ‚selbst mit Verfassungsrang ausgestattet und damit der politischen Gestaltung weitgehend entzogen werden.‘
Es wirft ein grelles Licht auf den fundamentalen Wandel im Staatsdenken, der sich in den letzten Jahren schleichend vollzogen hat und nun mit Vehemenz die Politik bestimmt, dass es ausgerechnet das Bundesinnenministerium war, das in einer 1989 herausgegebenen Broschüre ausdrücklich auf die dem Hobbesschen Staatsdenken eigene Gefahr der ‚Rechtfertigung autoritärer Systeme‘ hinwies, in denen ‚die Bedeutung des Volkes auf den Status von Befehlsempfängern degradiert wird.‘
Die Bürgerinnen und Bürger der Bundesrepublik haben niemals in das Gewaltmonopol eines Staates eingewilligt, der sie unterschiedslos als Verdächtige, als potentielle Kriminelle zu behandeln trachtet. Insofern ist die Unschuldsvermutung, anders als die Äußerungen des Bundesinnenministers suggerieren möchten, sehr viel mehr als eine rechtsstaatlich unbedingt gebotene Maxime des Strafprozessrechts. Sie ist konstitutive Bedingung des Gesellschaftsvertrages, den wir als grundsätzlich freie Bürgerinnen und Bürger mit dem Staat geschlossen haben. Als solche hat sie Eingang gefunden in die Grundrechtsordnung der Verfassung. Wer dort, wie der Bundesinnenminister, ihre Anwendbarkeit verneint, der verlässt den Boden dieses Vertrages und den der Verfassung gleichermaßen. Der will partout einen anderen, einen autoritären Staat, der bürgerliche Freiheiten allenfalls gewährt, statt sie als Grundlage seiner selbst zu respektieren.“

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger: „Auf dem Weg in den autoritären Staat


Da Sie auf mutmaßliche Verfassungsbrüche durch Regierende und Geheimdienste hinweisen und auch die Unkontrollierbarkeit der Dienste ansprechen – und da Sie zudem Parallelen zwischen Snowden und Ossietzky sehen: Sind Demokratie und Menschenrechte aktuell ggf. wieder ähnlich stark bedroht wie einst, als Carl von Ossietzky für Aufklärung sorgte? Was steckt denn hinter dieser von Snowden enthüllten Massenüberwachung und warum schätzen Sie diese als so immense Bedrohung ein?

Wir müssen uns seit Snowdens Enthüllungen mit Geheimdienst-Praktiken und -Strukturen auseinandersetzen, die gravierende Auswirkungen auf ganze Bevölkerungen und ihre Bürger haben, auf Gesellschaften und Staaten sowie auf deren Politik und Wirtschaft, auf die Substanz von Grund- und Bürgerrechten sowie auf das Bewusstsein und Verhalten der Menschen. Es geht um eine bislang unvorstellbare Dimension geheimdienstlicher Überwachung, die anlasslos und verdachtsunabhängig erfolgt, und deshalb Millionen, ja Milliarden von Menschen in aller Welt betrifft.

Edward Snowdens Enthüllungen offenbaren praktisch die digitale Durchleuchtung ganzer Gesellschaften, die alle Menschen, die auf irgendeine Art elek­tronisch kommunizieren, also fast alle, unter Generalverdacht stellt, die die Unschuldsvermutung unterhöhlt, zu massenhafter Verletzung von Privatsphäre und Kommunikationsfreiheit führt sowie verbriefte Grundrechte, ja die Demokratie insgesamt in Frage stellt.

„Wollte eine US-Regierung die USA in einen autoritären Staat umbauen, wären alle Bedingungen dafür bereits geschaffen“, so Snowden in seinem ARD-Interview vom 26. Januar 2014. „Millionen und Millionen und Millionen von Datenverbindungen aus dem täglichen Leben der Deutschen, ob sie mit ihrem Handy telefonieren, SMS-Nachrichten senden, Webseiten besu­chen, Dinge online kaufen – all das landet bei der NSA.“

Die NSA-Technologie sei in der Lage, die kleinsten Details zu jeder Person zu finden und gegen sie zu verwenden. Auch der ehemalige technische NSA-Direk­tor William Binney, der bis 2001 für die weltweiten Spähprogramme der NSA zuständig war, warnt heute vor der Macht, der Datensammelwut und der Maßlosigkeit der US-Behörde. Diese verfolge einen „totalitären Ansatz, den wir sonst nur aus Diktaturen kennen“, gibt er zu bedenken. Und: „Zwischen Überwachung und Unterdrückung verläuft eine schmale Grenze. Wir sind nicht mehr weit vom totalitären Staat entfernt. Die Infrastruktur dafür existiert bereits.“

Die rasante Entwicklung der Informationstechnologie machte diese nationale Grenzen sprengende Überwachungs-, Erfassungs-, Speicher- und Auswertungsdimension erst möglich – und das ist eben auch die neue Dimension der damit verbundenen Menschenrechtsverletzungen. Wir stehen vor einer gewaltigen Herausforderung, die uns das digitale Zeitalter und eine globalisierte Welt aufbürden: Was sind Datenschutz und Privatsphäre, Berufs- und Betriebsgeheimnisse, Meinungs- und Pressefreiheit eigentlich noch wert unter den sich verselbständigenden Bedingun­gen von BigData, automatisierter Totalüberwachung und digitaler Durchdringung ganzer Gesellschaften, was die Grundrechte auf Kommunikationsfreiheit, Informationelle Selbstbestimmung und auf Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität informati­onstechnischer Systeme? Und: Wie kann man sich dagegen noch wirksam schützen? Das sind die großen Fragen und Probleme, auf die wir Antworten finden müssen, wollen wir uns dem informationstechnologisch-geheimdienstlichen Komplex nicht kampflos ergeben.

Hand aufs Herz: Sie sehen die westlichen Gesellschaften und auch unsere … auf dem Weg in einen autoritären Staat? Woran machen Sie das konkret fest, woran „spüren“ Sie und spüren wir eine solche Entwicklung?

Ich warne schon seit Längerem vor der Gefahr eines präventiven und autoritären „Sicherheitsstaats“ – insbesondere angesichts der Art und Weise der „Terrorbekämpfung“ nach 9/11. Der sogenannte Krieg gegen den Terror, geführt „im Namen von Sicherheit und Freiheit“, hat zu dramatischen Einschränkungen der Bürger- und Freiheitsrechte in westlichen Demokratien geführt.

Wir sind Zeugen einer Demontage hergebrachter Grundsätze des Völkerrechts, der Menschen- und Bürgerrechte und einer Entfesselung staatlicher Gewalten: Antiterror-Gesetzespakete, Polizei- und Geheimdienst-Aufrüstung, Vorratsdatenspeicherung, völkerrechtswidrige Angriffskriege und bundesdeutsche Beihilfe dazu; staatliche Entführungen, extralegale Haft und systematische Folterungen sowie die Rechtlosstellung im Foltercamp Guantànamo, mörderische US-Drohneneinsätze, die über Ramstein abgewickelt werden, die globale Massenüberwachung sowie Regierungs- und Wirtschaftsspionage durch den US-Geheimdienst NSA unter tatkräftiger Mitwirkung des Bundesnachrichtendienstes etc.

Dabei dreht sich der moderne Sicherheitsdiskurs nicht mehr allein um präventive oder repressive Einzelmaßnahmen – die Rede ist vielmehr von einer vollkommen neuen Sicherheitsarchitektur. Es geht dabei im Kern um zwei Tabubrüche, die auf dem Hintergrund deutscher Geschichte von besonderer Bedeutung sind. Erstens: die Militarisierung der „Inneren Sicherheit“, in deren Mittelpunkt der Einsatz der Bundeswehr als reguläre Sicherheitsreserve im Inland stehen soll – obwohl Polizei und Militär aus historischen Gründen sowie nach der Verfassung strikt zu trennen sind. Und zweitens: die verstärkte Verzahnung von Polizei und Geheimdiensten – unter Verstoß gegen das verfassungs­mäßige Trennungsgebot, einer bedeutsamen Konsequenz aus den bitteren Erfahrungen mit der Gestapo der Nazizeit. Damit sollte ursprünglich eine unkontrollierbare und damit undemokratische Machtkonzentration der Sicherheitsapparate verhindert werden. Doch längst wächst da allmählich zusammen, was nicht zusammen gehört.


Rolf Gössner: Rede zur Demo „Freiheit statt Angst“ 2014


Wie könnte man dann aber – gerade unter diesen Vorzeichen, unter dieser Regierung und mit diesen Geheimdiensten – wirksamen Schutz für Whistleblowern organisieren? Das klingt ja fast noch utopischer als die Vorstellung, dass deutsche Gerichte die Bundesregierung inhaftieren würden …

Dass etwas gerade schwer durch- und umzusetzen ist, heißt nicht, dass es unmöglich ist – jetzt einmal abgesehen von einer möglichen Inhaftierung der Bundesregierung. Gerade hinsichtlich des rechtlichen Schutzes für Whistleblower ist es unserer Einschätzung nach höchste Zeit, sowohl auf internationaler als auch auf nationaler Ebene verstärkte Anstrengungen zu unternehmen. Zumal Whistleblower etwa in Deutschland bislang kaum geschützt sind, wie erst kürzlich ein Gutachten des DGB festgestellt hat. Denn die generellen Verbote, Staats- und Dienstgeheimnisse preiszugeben, enthalten keinerlei Klauseln, die das Whistleblowing im öffentlichen Interesse schützen. Die OECD kritisiert schon lange die Untätigkeit der Bundesrepublik in diesem Bereich.

Was kann denn konkret getan werden? Was stellen Sie sich vor?

Auf alle Fälle müssen international und innerstaatlich entsprechende Schutztatbestände menschen- und völkerrechtlich wirksam verankert werden: Wer Machtmissbrauch, Verfassungsbruch und Menschenrechtsverletzungen aufdeckt und dabei selbstlos seinem Gewissen folgt – wie Edward Snowden, Chelsea Manning, Julian Assange und andere Whistleblowers dies in letzter Zeit ja immer wieder taten -, der oder die erfüllt den demokratischen Kollektivanspruch der Bevölkerung auf Transparenz und Kontrolle. Folglich muss er oder sie auch Anspruch auf gesellschaftliche Hilfe und rechtlichen Schutz vor politischer und strafrechtlicher Verfolgung haben – als “Dienst­lei­ster” im öffentlichen Interesse sozusagen, als Verteidiger von Demokratie und Menschenrechten. Und dieser Anspruch muss endlich menschen- und völkerrechtlich wirksam verankert werden.

Nur auf einer rechtlich abgesicherten Grundlage lässt sich eine Kultur des Whistleblowing entwickeln – zumal das Whistleblowertum gerade im digitalen Zeitalter und in einer globalisierten Welt eine existentielle Bedeutung gewonnen hat. Ohne Whistleblower und ihre Helferinnen und Helfer sind wir jedenfalls den Daten- und Spionage-Angriffen der Geheimdienste schutzlos ausgeliefert – weil wir in der Regel davon gar nichts erfahren und weil die demokratische Kontrolle über deren Praktiken und Machenschaften aus systemischen Gründen nicht funktioniert, nicht funktionieren kann.

Hinsichtlich der geheimdienstlichen Massenüberwachung sind ja viele von uns der Meinung, wer nichts zu verbergen habe, brauche auch nichts zu verstecken.

Tatsächlich soll es noch Menschen geben, die daran glauben, dass die Massenüberwachung schon die „Richtigen“ treffen werde, die sich im übrigen ihre Behandlung selbst zuzuschreiben hätten. Man selbst habe ja nichts zu verbergen, könne also alles freiwillig offenbaren und hätte demgemäß auch nichts zu befürchten. Dieses „Argument“ ist so einfältig wie gefährlich.

Diese Haltung zeugt meines Erachtens von einem Mangel an bürgerlich-demokratischer Tradition, ein Mangel, der autoritäre „Lösungen“ begünstigt – wie jetzt wieder nach den grausamen Pariser Anschlägen, zu denen sich der so genannte Islamische Staat bekannte.

Mein Eindruck nach Snowdens Enthüllungen Mitte 2013 war allerdings, dass sich viele Men­schen anfänglich eher besorgt zeigten angesichts der uferlosen geheimdienstlichen Ausfor­schung ihres Kommunikationsverhaltens. Weil aber alle gleichermaßen betroffen scheinen, fühlt man sich in einer Art auswegloser Schicksalsgemeinschaft. Es fehlt das Bewusstsein individueller Betroffenheit mit persönlichen Auswirkungen, weil man ja nichts spürt. Die digitale Durchleuchtung der Privatsphäre und ganzer Gesellschaften ist zwar unheimlich, wirkt aber abstrakt, erzeugt Ohnmachtsgefühle und Resignation, weshalb sich auch nur relativ wenig Protest und Widerstand regt. Dabei macht die Massenüberwachung alle Betroffenen millionenfach zu „Verdächtigen“ und führt zu massenhafter Verletzung von Persönlichkeitsrechten.

Wie kann man die Menschen denn aufrütteln und sensibilisieren? Was wäre Ihrer Einschätzung nach aktuell zu tun, um der allgemeinen Entwicklung und dem Demokratie­abbau wirksam begegnen zu können?

Da hat leider niemand ein Patentrezept, auch ich nicht. Sicher: Demonstrationen wie „Freiheit statt Angst“ oder symbolische Blockaden wie „BND an die Kette“ oder Strafanzeigen wie im Fall NSA-BND und Verfassungsbeschwerden wie gegen die Vorratsdatenspeicherung oder Negativ­preis­verleihungen wie der BigBrotherAward an BND und Bundeskanzleramt und Positivpreise wie an Snowden und anderes sind wichtige zivilgesellschaftliche Initiativen und Signale. Ebenso parlamentarische Aufklärungsversuche wie im NSA-Untersuchungsausschuss.

Doch angesichts der erörterten Bedrohungen reicht das nicht aus – wir brauchen mehr. Dem skizzierten Zerstörungsprozess müssen Menschen- und Bürgerrechtsgruppen, Gewerkschaften und politisch-soziale Bewegungen, müssen wir alle energischer als bisher entgegentreten. Dieses Land und Europa brauchen dringend eine neue starke Bürgerrechtsbewegung und widerständige Menschen, die die demokratischen Lehren aus Krieg und Faschismus der Verdrängung entreißen, die der Nachkriegsmaxime, dass von deutschem Boden nie wieder Krieg ausgehen soll, wieder volle Geltung verschaffen, die Bürger- und Menschenrechte, auch für das digitale Zeitalter, neu erkämpfen, die sich staatlicher Überwachung und Kontrolle sowie jeder Kriegstreiberei und Kriegsrechtfertigung mit Phantasie widersetzen.

Und wir brauchen eine Kultur des Whistleblowing – und hier wiederhole ich gerne meinen Gedanken, den ich während der Kundgebung „Freiheit statt Angst“ 2014 am Brandenburger Tor in Berlin vor Tausenden demonstrierender Menschen geäußert habe: Was uns fehlt und was wir dringend brauchen: einen Snowden im BND und im „Verfassungsschutz“! Und jede Menge Zivilcourage.

Vielen Dank für das Gespräch.


Dr. Rolf Gössner ist Rechtsanwalt, Publizist und Vizepräsident der Internationalen Liga für Menschenrechte. Mitherausgeber des „Grundrechte-Reports. Zur Lage der Bürger- und Menschenrechte in Deutschland“ (Fischer-TB), der Zweiwochenschrift „Ossietzky“ sowie Mitglied der Jury zur jährlichen Vergabe des Negativpreises „BigBrotherAward“. Sachverständiger in Gesetzgebungsverfahren von Bundestag und Landtagen. Autor zahlreicher Bücher zum Themenbereich Demokratie, Innere Sicherheit und Bürgerrechte. Ausgezeichnet mit der Theodor-Heuss-Medaille, dem Kölner Karlspreis für engagierte Literatur und dem Bremer Kultur- und Friedenspreis. Er stand selbst vier Jahrzehnte lang unter Beobachtung des Inlandsgeheimdienstes „Verfassungsschutz“ – von Anfang an grundrechtswidrig, wie das Verwaltungsgericht Köln 2011 urteilte (das Urteil ist immer noch nicht rechtskräftig, da erst kürzlich die Berufung der Bundesregierung zugelassen wurde). Er ist Miterstatter einer Strafanzeige gegen Bundesregierung und Geheimdienstverantwortliche in Sachen NSA, BND & Co. sowie Mitautor eines Memorandums zur Auflösung des „Verfassungsschutzes“ [PDF].


Weiterschauen:

Rolf Gössner: „Unser Nachbar NSA: Wettrüsten im globalen Informationskrieg der Geheimdienste“


Rolf Gössner: Verleihung des BigBrotherAwards 2014 an das Bundeskanzleramt


Rolf Gössner: Verleihung des BigBrotherAwards 2015 an den Bundesnachrichtendienst


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