Weit über 1 Million Opfer durch “Krieg gegen den Terror”

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Das erste Opfer des Krieges ist immer die Wahrheit: Es wird gelogen, verfälscht, verleumdet, stigmatisiert. Der Gegner wird dämonisiert, die eigenen Taten dagegen werden als „Verteidigung“ und Heldenhaftigkeit in Szene gesetzt. Eigene Gräuel und Kriegsverbrechen werden geleugnet und bagatellisiert. Dieses Allgemeingut der Kriegsgegner belegte nun einmal mehr eine am Freitag anlässlich des 12. Jahrestages des „Krieges gegen den Terror“ vorgestellte Studie der Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges (IPPNW). Denn diese ergab: Die tatsächliche Zahl an Todesopfern, die der „Krieg gegen den Terror“ bereits kostete, ist fast 10-mal so wie bisher bekannt. Für die US-amerikanische IPPNW-Sektion unterstreichen die Ergebnisse dabei einmal mehr ein Ausmaß vom Westen gemachter Zerstörung, das weltweit Hass schüre, liefere überdies den Kontext, um den Aufstieg brutaler Kräfte wie beispielsweise des IS zu verstehen, die als Folge der US-Politik immer weiter gediehen. Jens Wernicke sprach mit Jens Wagner, dem Koordinator des Projekts, zum Studienbefund.

Herr Wagner, anlässlich des 12. Jahrestag des Beginns des Irakkrieges am 20. März diesen Jahres veröffentlichten die Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges (IPPNW) eine Studie mit dem Titel „Body Count“ zur Gesamtzahl der Todesopfer der Kriege in Afghanistan, Pakistan und dem Irak. Sie sind der Ideengeber für diese Studie. Wie kam es dazu?

Ich kam auf die Idee weil ich merkte, dass selbst innerhalb der Friedensbewegung die tatsächliche Dimension der Zerstörung in Kriegen mit modernen Waffen stark unterschätzt wird. Ich recherchierte 2007/2008 speziell zum Irak-Krieg und wurde für meine Bemerkung unter Kollegen, dass im Irak von 2003 -2008 wahrscheinlich bereits an eine Million Menschen durch den Krieg umgekommen waren fast ausgelacht. Das Fernsehen und die gängigen Zeitungen sprachen damals von etwa 10.000 bis 100.000 Todesopfern im Irak. Man brauchte allerdings keine drei Stunden Recherche und ein bisschen Erfahrung im Umgang mit Kriegsberichten, Zahlen und Statistiken, um zu erahnen, dass die wirkliche Anzahl der Opfer viel höher war.

An Iraqi woman looks on as U.S. Army Soldiers from 1st Battalion, 23rd Infantry Regiment, 3rd Stryker Brigade Combat Team search the courtyard of her house during a cordon and search in Ameriyah, Iraq, May 14, 2007. (U.S. Army photo by Sgt. Tierney Nowland)

Ich hatte mich in der Vergangenheit bereits mit dem Vietnamkrieg beschäftigt und stieß nun auf viele Parallelen bei der Recherche. Die Anzahl der getöteten ist dabei als ein Maß der Zerstörung eines Landes zu werten. Speziell eine Studie zur Erhöhung der Sterblichkeit im Irak nach der US-Invasion in der medizinischen Fachzeitschrift „Lancet“ aus dem Jahr 2006 brachte den Stein dabei ins Rollen. Nach dieser Studie waren bereits 2006 mehr als eine halbe Million Menschen durch Waffengewalt zusätzlich zur „normalen“ Sterblichkeit im Irak umgekommen. Wenn man bedenkt, dass dort 2006 der Bürgerkrieg mit 3.000 getöteten Zivilisten pro Woche erst richtig begann, kann man bereits ahnen, dass die gesamte Anzahl der Kriegstoten bis zum Abzug der US-Truppen insgesamt nicht nur bei ca. 10.000 liegen kann, wie dies die US-Amerikaner und Briten bis heute mehrheitlich glauben.

Und wie sind Sie, diesem Anliegen folgend, vorgegangen? Was wurde untersucht und welches Bild zeichnete sich dabei?

Ich suchte mir Autoren, die sich mit den damals aktuellen Kriegsgebieten und dem vorhandenen Datenmaterial auskannten. Dabei waren zunächst Irak und Afghanistan im Gespräch, später entwickelte sich die Notwendigkeit, auch noch einen kürzeren Teil zu Pakistan und speziell dem Drohnenkrieg hinzuzufügen, für Jemen und Somalia gab es zu wenig Datenmaterial. Die Arbeit wurde mit etwas Verspätung zum 10. Jahrestag der Anschläge vom 11. September 2001 von der IPPNW als kleines Heft herausgegeben, als Bilanz nach 10 Jahren „Krieg gegen den Terror“. Die Arbeit wurde dann 2013 und 2014 mit inzwischen vorhandenen neueren Daten ergänzt und nun aktuell als internationale Ausgabe herausgegeben.

Dabei zeichnet sich deutlich ab, dass die Entscheidung für einen „Krieg gegen den Terror“ zwischen 2001 und Ende 2014 mindestens 1,3 Million Menschen das Leben gekostet hat. Wobei wir als Friedensorganisation ausdrücklich nicht zwischen Kombattanten, Soldaten und Zivilisten unterscheiden. Im Irak sind die Zahlen dabei relativ gut belegt, in Afghanistan und Pakistan ist es wegen der fehlenden Infrastruktur hingegen wesentlich schwerer, die Situation einzuschätzen. Leider wurden von den ISAF- und OEF-Truppen in Afghanistan, aber auch im Irak in dicht besiedelten Gebieten viele Luftangriffe mit schweren Waffen geflogen, bei denen viele kleine Siedlungen auf einmal zerstört wurden. In Afghanistan lassen überhaupt nur Stichproben das wahre Ausmaß der Zerstörung erahnen. Katastrophal sind aber auch und insbesondere die Verseuchung ganzer Landstriche mit abgereichertem Uran und die Folgen der amerikanischen Chemiewaffeneinsätze beispielsweise in Fallujah im Irak.

Das heißt, neben der Barbarei der unmittelbaren kriegerischen Aktion hat der „Krieg gegen den Terror“ auch darüberhinaus Opfer gefordert – durch Umweltzerstörung, Vergiftung und auch die zahlreichen Drohnenmorde, die kaum je als „kriegerische Akte“ benannt und verstanden werden, verstehe ich recht?

Beides trifft zu. Wir haben in unserer Studie aus Gründen der Durchführbarkeit allerdings meist nur die direkt im Zusammenhang mit kriegerischer Gewalt umgekommenen Menschen zählen konnten. Das „endlose Leiden“ der Menschen, die durch mangelnde medizinische Versorgung und Hunger in Afghanistan sterben und die durch Verletzungen und Brandverletzungen, Uran- und Chemiewaffen später noch einen qualvollen Tod sterben oder lebenslang behindert sind, ließ sich zahlenmäßig kaum erfassen und käme sozusagen auf unsere Zahlen „noch obenauf“.

Ausschnitt aus dem Wikileaks-Video “Collateral Murder” von 2007, in dem Kampfhubschrauber Journalisten, Zivilisten und Kinder im Irak töten

Und leider sind die Bürgerkriege durch die Zerstörung der staatlichen Strukturen inzwischen ja wieder aufgeflammt. Im Irak und in Syrien hat sich der „Islamische Staat“ ausgebreitet und Afghanistan ist im UNICEF-Report in fast jeder Disziplin heute das lebensfeindlichste Land, insbesondere was Kindersterblichkeit, Alphabetisierung und Frauenrechte angeht. All das fordert Opfer – und auch diese sind, auch wenn das selten jemand so sagt, natürlich späte Opfer der vorangegangenen Kriege.

Vermute ich recht, dass Sie daher kein Freund dieses so genannten „Krieges gegen den Terror“ sind? Was halten Sie von diesem denn?

Der Einsatz des Militärs zur Bekämpfung des Terrorismus war von vornherein nur ein Vorwand und als solcher auch für jeden halbwegs politisch erfahrenen Menschen erkennbar. Ganz allgemein ist ein Militäreinsatz zur Verbesserung einer humanitären Situation – wie es heute oft angegeben wird – doch nichts anderes als der Versuch, Feuer mit Benzin zu löschen. Militäreinsätze führen praktisch nie zu einer Verbesserung der politischen oder humanitären Situation, schon gar nicht Militäreinsätze in fremden Ländern.

Unangenehm fällt zudem auf, dass in unseren Medien diese Tatsache jedoch gar nicht angekommen ist. Hier gibt man sich in fast jeder konkreten Situation kriegsbereit, so in Afghanistan und jetzt aktuell hinsichtlich der Ukraine. Die Kriegsbereitschaft und Unterstützung der aktuellen und auf Konfrontation ausgerichteten Politik kann dabei nur aufrechterhalten werden, wenn die Folgen von Kriegen verharmlost werden. Hier ein Gegengewicht zu schaffen und die Tatsachen offenzulegen, war unsere Intention und sehen wir auch als unsere Pflicht als Ärzte in sozialer Verantwortung an.

Der Terrorismus ist also … nur ein Vorwand, um Kriege zu führen?

Früher war ich überzeugt, dass die Ursachen des Terrorismus so sind, wie sie uns durch die Medien vermittelt werden, also dass vereinfacht gesagt: böse Menschen aus mehr oder weniger unbekannten Gründen böse Dinge tun. 

Später habe ich mich aus Sicht der Friedensforschung damit beschäftigt und bin letztendlich zu völlig anderen Schlussfolgerungen gekommen: Entweder ist Terrorismus ein Resultat von Unterdrückung und hauptsächlich sozialen Ursachen – Beispiel Palästina – oder, und das ist die tiefere Ebene der Analyse, bei der man die Historie und die von den Massenmedien gern versteckten Tatsachen des Terrorismus betrachten muss, es handelt sich um ein verdecktes politisches Instrument von Geheimdiensten und mächtigen Interessensgruppen, in aller Regel Staaten. Die Liste der Terroranschläge, die diesem Muster entsprechen, ist dabei endlos, angefangen vom Reichstagsbrand und dem Überfall auf den Sender Gleiwitz, über den Golf von Tonkin bis hin zu neuesten Entwicklungen.

Der „Krieg gegen den Terror“ hat ja vor allem ja Feldzüge in den ölreichen Regionen legitimiert und neue geostrategische Realitäten geschaffen, die langfristige Gegner wie etwa Russland, China und den Iran schwächen. Außerdem spielen wirtschaftliche und finanzpolitische Interessen wie etwa die Stabilisierung des Dollar durch die Kontrolle der Erdölwirtschaft eine wichtige Rolle.

Den Massenmedien kommt dabei die unrühmliche Aufgabe zu, die Öffentlichkeit auf die falsche Fährte zu locken. Das war beim Reichstagsbrand schon so und ist es bei der aktuellen Hetze gegen Russland nicht minder.

Aber darum geht es im “Body Count” nicht, er ist eine nüchterne Betrachtung der Resultate von Kriegen und soll eine Analyse von politischen und medialen Konzepten ermöglichen. Fast alle Zeitungs- und Rundfunkbeiträge unserer Medien veröffentlichen Opferzahlen, die mindestens um den Faktor 10 zu niedrig sind, jedenfalls, wenn es um Kriege geht, die der “Westen” zu verantworten hat, was dann auch, grob gesagt, das Fazit unseres “Body Count” ist.


Jens Wagner (Dr. med.), Jahrgang 1972, ist ehemaliges Vorstandsmitglied der IPPNW (Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges / Ärzte in sozialer Verantwortung e.V.). Seit Ende der 1990er Jahre beschäftigt er sich mit den Themen Globalisierung, Neoliberalismus, Kriegsursachenforschung, Militärstrategie und Geopolitik. In der IPPNW ist er hauptsächlich mit den Themen Friedenspolitik und Medienanalyse befasst.


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