„Gegen Russland haben wir 18 Sanktionspakete wegen seiner Aggressionen geschnürt, aber wegen seiner Doppelstandards ist Europa nicht in der Lage, ein Assoziierungsabkommen [mit Israel] auszusetzen“, echauffierte sich Spaniens Regierungschef Pedro Sánchez jüngst anlässlich der Untätigkeit der EU. Das von Sanchez erwähnte Assoziierungsabkommen mit Israel wird auch am kommenden Dienstag wieder auf der Tagesordnung beim EU-Außenministertreffen stehen, und es ist abermals davon auszugehen, dass dieses Abkommen unangetastet bleibt, da Staaten wie Deutschland und Ungarn die israelischen Verbrechen decken und die nötigen Mehrheiten innerhalb der EU verhindern. Damit macht die EU sich unglaubwürdig und konterkariert ihre eigene wertegeleitete Außenpolitik, die seit den 1990ern Grundlage von Verträgen der EU mit Drittstaaten ist. Von Jens Berger.
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Bei der Bewertung der Politik des Staates Israel geht schon lange ein Riss durch die EU. Während Staaten wie Spanien, Irland und Schweden die israelischen Verbrechen in Gaza, dem Westjordanland und Israel selbst schon lange scharf kritisieren, gibt es auch eine Reihe von EU-Staaten, die sich bedingungslos hinter Israel stellen und eine kritische Linie auf EU-Ebene durch ihr Veto verhindern. Zu diesen Staaten zählen vor allem Deutschland und Ungarn, was an sich bereits zu kognitiven Dissonanzen im politisch-medialen Sektor Deutschlands führen sollte. So sind sowohl Regierungsvertreter als auch Leitartikler immer sehr schnell dabei, wenn es darum geht, Viktor Orbán zu kritisieren, wenn er einzelne Sanktionen gegen Russland durch eine Veto-Androhung in Frage stellt. Dass Orbán aber auch seit vielen Jahren jede noch so kleine gemeinsame Kritik der EU an Israels Politik ebenfalls durch sein Veto verhindert, wird hierzulande lieber nicht kritisiert und meist noch nicht einmal thematisiert. Das mag noch nicht einmal wirklich verwundern, da Deutschland selbst neben Ungarn auch auf EU-Ebene zu den großen Blockierern zählt, wenn es um eine kritische Positionierung oder gar Sanktionen gegen Israel geht.
Damit hatte die EU sich unter der zähneknirschenden Kritik von Staaten mit kritischerer Positionierung abgefunden, zumal insbesondere Deutschland hinter den Kulissen seine politische und wirtschaftliche Macht dazu nutzte, EU-Staaten mit indifferenter Haltung auf seine Seite zu ziehen. Der Krieg in Gaza und die dort von Israel begangenen Verbrechen änderten jedoch die Gemengelage innerhalb der EU, und die Israel-Kritiker Spanien, Irland und Schweden bekamen mit jeder neuen Horrormeldung aus Gaza Rückenwind: Zuvor eher der deutschen Seite zugeneigte Staaten wie Belgien, Frankreich und die Niederlande schlossen sich dem Lager der Kritiker an.
Im Mai war es dann auch so weit, dass der Burgfrieden in Brüssel endgültig brach und der niederländische Außenminister Caspar Veldkamp – wohl in Absprache mit seinen Kollegen aus anderen kritischen EU-Staaten – die Forderung stellte, das Assoziierungsabkommen der EU mit Israel zu hinterfragen, da Israel offen gegen die im Abkommen genannte „Respektierung der Menschenrechte“ verstoße. Ein heikler Punkt, nennt das Abkommen in Artikel 2 doch die Respektierung der Menschenrechte als Basis. Wenn eine der beiden Parteien die Menschenrechte also nicht (mehr) respektiert, verliert das Abkommen seine Grundlage und kann ausgesetzt werden. Wie kaum anders zu erwarten, blockten Deutschland und Ungarn Veldkamps Initiative, aber anders als in den Jahren zuvor konnten sie die kritischen Stimmen diesmal nicht vollkommen marginalisieren. Man einigte sich darauf, dass die Juristen des Europäischen Auswärtigen Dienstes erst einmal ein Gutachten erstellen sollten, ob Israel denn tatsächlich gegen Artikel 2 des Abkommens verstoße. Der irische Aktivist Conor O´Neil kommentierte das mit dem treffenden Satz: „Das ist, als stünde man vor einem brennenden Gebäude und würde nach einer Überprüfung fragen, ob es brennt.“
Als das Gutachten dann vorlag und zu dem wenig überraschenden Ergebnis kam, dass Israel die Menschenrechte verletzt und damit gegen Artikel 2 des Abkommens verstößt, war es wieder einmal Deutschland, diesmal in Person des Außenministers Johann Wadephul, das sich offen dagegen aussprach, diesem Gutachten zu folgen und das Abkommen ganz oder in Teilen auszusetzen. Man einigte sich darauf, verschiedene Optionen auszuarbeiten und beim nächsten Außenministertreffen am kommenden Dienstag darüber zu beraten. Laut Medienberichten liegen nun fünf Optionen auf dem Tisch. Das Spektrum reicht von einer vollständigen oder teilweisen Aussetzung des Abkommens, Sanktionen gegen Einzelpersonen, Handelsmaßnahmen bis zu einem Waffenembargo und der Aussetzung der wissenschaftlichen Zusammenarbeit. Sofern kein Wunder geschieht, werden die EU-Außenminister jedoch alle diese Optionen am kommenden Dienstag ablehnen.
Für eine vollständige Aussetzung des Assoziierungsabkommens und ein Waffenembargo bräuchte es eine einstimmige Mehrheit, die dank eines sicheren Vetos Deutschlands und Ungarns ohnehin nicht erreicht wird. Für die übrigen Optionen reicht die sogenannte „qualifizierte Mehrheit“, es müssten also 16 der 27 Mitgliedstaaten zustimmen, die gleichzeitig mindestens 65 Prozent der EU-Bevölkerung repräsentieren. Deutschland und Ungarn kommen zusammen zwar nur auf 21 Prozent der EU-Bevölkerung, haben aber mit Tschechien und Italien bereits zwei Verbündete gefunden, mit denen man zusammen 36 Prozent Bevölkerungsanteil erreicht und damit jede dieser Optionen verhindern kann. Deutschland ist mit seinem Bevölkerungsanteil von 18,8 Prozent hier übrigens der entscheidende Faktor.
Es wäre also eine politische Sensation, wenn am kommenden Dienstag mehr als eine belang- und folgenlose Ermahnung Israels beschlossen würde, und danach verabschiedet sich die EU ohnehin in die Sommerpause, vor Herbst werden die Außenminister sich also nicht mehr treffen. Der Schaden, den allen voran die Blockierer Deutschland und Ungarn anrichten, ist jedoch immens und wird sehr lange anhalten.
Wie Pedro Sánchez sehr richtig anmerkte, ist es offensichtlich, dass die EU hier mit ihren Russland-Sanktionen und der grotesken Untätigkeit gegenüber Israel mit zweierlei Maß misst. Auch wenn dies den deutschen Wähler nicht sonderlich interessiert – im Ausland und hier vor allem im Globalen Süden wird dies sehr wohl wahrgenommen. Es geht hier auch nicht um Petitessen. Die EU hat in den 1990er-Jahren – also weit vor Annalena Baerbocks „Erfindung“ einer wertegeleiteten Außenpolitik – angefangen, ihre Außenpolitik in ein Konzept einzubetten, das Demokratie, die Menschrechte und das Völkerrecht als gemeinsame Basis definiert. Der Artikel 2 des Assoziierungsabkommens mit Israel findet sich in dieser oder einer ähnlichen Formulierung in nahezu allen EU-Abkommen mit Drittstatten, die seitdem geschlossen wurden – mehr als 20 an der Zahl, meist mit Staaten in Afrika.
Doch welche Bedeutung hat das gemeinsame Bekenntnis zu den Menschenrechten, wenn die EU im Falle Israels einen eklatanten und offensichtlichen Bruch dieser Klausel tatenlos ignoriert und damit implizit billigt? Es geht hier nicht „nur“ um Israel, sondern darum, dass die EU ihre ganzen Sonntagsreden von gemeinsamen Werten, Menschenrechten und wertegeleiteter Politik auf den Müllhaufen der Geschichte werfen kann, wenn sie ihre eigenen Standards derart selektiv befolgt. Und dafür trägt Deutschland die Hauptverantwortung.
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