Ich führe dieses Interview mit Prof. Dr. Helga Baumgarten nicht nur als Ärztin, Psychotherapeutin, Autorin und politisch engagierte Frau – sondern auch als persönlich tief Betroffene. Ich war über 20 Jahre mit einem Palästinenser aus dem Gazastreifen verheiratet. Wir waren gemeinsam mit unseren Kindern mehrfach dort, meist unter sehr schwierigen Umständen. Heute, nach langer Zeit, habe ich ihn wieder getroffen. Er ist schwer traumatisiert – nicht nur durch den aktuellen Krieg, in dem viele seiner Angehörigen auf grausamste Weise ums Leben gekommen sind, sondern auch durch die tiefen Wunden, die Krieg, Flucht und Verlust bereits in seiner Kindheit hinterlassen haben. Als Sechsjähriger erlebte er den Sechstagekrieg 1967. Dieses Trauma – wie viele andere in der palästinensischen Gesellschaft – wurde nie aufgearbeitet, sondern lebt weiter: im Körper, im Verhalten, in der nächsten Generation. Von Dr. Gabi Weber.
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Gabi Weber: Liebe Frau Baumgarten, willkommen zu unserem zweiten Interview! Sie waren mehrere Wochen quer durch die Republik unterwegs, um über Ihr neues Buch „Völkermord in Gaza“ zu sprechen – teils gemeinsam mit Ihrem Mitautor Norman Paech, aber meist alleine. Wie war die Resonanz in Deutschland zu diesem Thema?
Helga Baumgarten: Die Resonanz war überwältigend. Egal, wo wir bzw. ich das Buch vorstellte(n), war das Interesse des Publikums enorm. Die Menschen wollen informiert werden. Sie haben kein Vertrauen in die Regierungspropaganda, die leider auch in der Mainstream-Presse verbreitet wird. Immer wieder kam von den Zuhörern massive Kritik an den fortgesetzten Waffenlieferungen nach Israel. Sie waren entsetzt von der Behauptung der Berliner Regierung, Israel halte sich an geltendes internationales Recht – und das angesichts eines offensichtlichen Völkermordes in Gaza.
Wir hätten noch viele weitere Vorträge halten können … aber es wurde schlicht zu viel. Ich habe insgesamt 27 Buchpräsentationen gemacht in etwa sechs Wochen.
Ganz anders sieht es aus, wenn ich die Reaktion einiger deutscher Universitäten anschaue. Zugesagte Räume wurden in letzter Minute abgesagt. Speziell in Freiburg reagierte die Universität mit Verunglimpfung bzw. Verleumdung sowohl der Veranstalter als auch mir selbst – kein Respekt für eine Kollegin aus einer Universität in Palästina.
Der Eindruck war klar: Die Menschen in Deutschland kritisieren die Regierungspolitik gegenüber Israel, die man ihnen aufzwingen will. Sie vertreten eine völlig andere Position zum Völkermord in Gaza und zur ethnischen Säuberung in der Westbank und in Ost-Jerusalem. Aber dazu brauchen sie Informationen.
Für mich als ehemalige Vorsitzende von Cafe Palestine Freiburg e. V. wiederholt sich gerade vieles: Uns wurde damals (2008) die Wanderausstellung „Die Nakba – Flucht und Vertreibung der Palästinenser“, initiiert von der „Flüchtlingshilfe Libanon e. V.“, einseitig durch den damaligen OB Dr. Dieter Salomon verboten. Genauso ist es im Mai 2025 auch der Gruppe ergangen, die diese anerkannte Ausstellung in den Räumen der Unibibliothek Freiburg zeigen wollte. Ihr eigener Vortrag, Frau Baumgarten, wurde wiederum in den Räumen der Uni Freiburg nicht genehmigt, obwohl Sie dort schon vor Jahren für Cafe Palestine über „Die Hamas“ sprechen konnten. Nun mussten Sie in Freiburg unter freiem Himmel vor der Universität sprechen. Die Richter des Verwaltungsgerichts Freiburg haben sich bzw. ihre Haltung zur freien wissenschaftlichen Meinungsäußerung offensichtlich nicht erhalten können. Müssen wir hier nicht fragen, was denn wir Deutsche aus unserer Vergangenheit gelernt haben?
Ja, das waren noch bessere Zeiten, als es möglich war, an der Uni einen Vortrag zur Hamas zu halten. Eigentlich sollte es ja selbstverständlich sein, dass man solche Themen aufgreift und kritisch behandelt. Aber es gibt wenigstens noch die Alternative, einfach vor der Uni zu reden! Hoffen wir, dass das nicht auch bald verboten wird.
Was haben wir Deutschen aus der Vergangenheit gelernt? Eine schwierige Frage. Aber wir sollten auch hier klar unterscheiden. Regierung und Mainstream-Presse meinen, es sei „deutsche Staatsraison“, Israel uneingeschränkt zu unterstützen. Es ist Berlin egal, ob eine israelische Regierung Kriegsverbrechen begeht. Es schert sie nicht, ob in Gaza Verbrechen gegen die Menschlichkeit, ja, ein Völkermord begangen wird. Und Berlin übersieht großzügig, dass der Internationale Gerichtshof in Den Haag schon im Januar 2024 einen Völkermord für „plausibel“ gehalten hat. Große Teile in der deutschen Gesellschaft sehen das anders. Sie folgen der Politik der deutschen Regierung nicht und kritisieren sowohl die deutsche Politik gegenüber Israel als auch Israels Verbrechen in Gaza.
Es gibt zwei Interpretationen für die notwendige Reaktion auf den Holocaust. Die Erste ist eine enge Reaktion, die den Völkermord der Deutschen lediglich auf die jüdischen Opfer begrenzt. Sie sieht deshalb Israel als den Repräsentanten dieser Opfer. Die Zweite ist eine universelle Reaktion. Sie argumentiert, dass nach 1945 kein Völkermord mehr passieren darf. Es ist dabei egal, von wem er verübt wird, und gleichgültig, gegen wen er verübt wird. Das ist z.B. die Position der „Jewish Voice for Peace“ in den USA und der „Jüdischen Stimme für Frieden und Gerechtigkeit in Deutschland“. Die Mehrzahl der Holocaust-Forscher sehen das so, und ich selbstverständlich auch.
Gleichzeitig müssen wir uns klar distanzieren von einer verhängnisvollen Einstellung, die sich inzwischen auch in Deutschland wieder in die Öffentlichkeit wagt. Aus der Anklage gegen die israelische Politik heute in Gaza, aus der Kritik am Zionismus und am Siedlerkolonialismus wird in einer verabscheuungswürdigen Wende wieder eine Beschuldigung der Juden, heute, in der Vergangenheit und überhaupt: also Antisemitismus pur.
Fassen wir zusammen: Natürlich ist es unsere Pflicht als Deutsche, den Völkermord in Gaza anzuprangern und uns dagegenzustellen. Es ist unsere Pflicht, den Prozess der ethnischen Säuberung in ganz Palästina zu kritisieren. Wir müssen die Regierung in Berlin zwingen, endlich mit den leeren Worten aufzuhören und Taten folgen zu lassen.
Weltweit gehen Hunderttausende auf die Straßen gegen den Völkermord an den Palästinensern. Das Schiff „Madleen“ wurde in internationalen Gewässern von Israel aufgebracht. Das Schiff hatte versucht, die jahrelang anhaltende Blockade Gazas zu durchbrechen: mit Hilfsgütern für Gaza. Greta Thunberg war eine der elf Aktivisten an Bord, zusammen mit einem Journalisten!
Alle wurden nach Israel „deportiert“ – wie Greta Thunberg es formulierte. Eine erste Gruppe, darunter auch Greta Thunberg, durfte nach einer Nacht in Abschiebehaft am israelischen Ben-Gurion-Flughafen zurückfliegen. Weitere sechs Aktivisten wurden in einem Gefängnis beim Flughafen festgehalten. Die letzten drei wurden schließlich am 16. Juni über Jordanien „abgeschoben“. Die palästinensisch-israelische Menschenrechtsorganisation Adalah hatte alle vertreten und half bei deren Rückreise in ihre Heimatstaaten. Alle dürfen die nächsten 100 Jahre (!!!) nicht mehr nach Israel einreisen. Welches perfide Spiel spielt Israel hier – leider nicht zum ersten Mal!
Ja, offensichtlich ist das nicht das erste Mal, dass Israel mit Gewalt gegen internationale Protestaktionen und Hilfsschiffe für Gaza vorgeht. Nur einen Monat vor dem Übergriff gegen die „Madleen“ und der Festnahme der Aktivisten auf dem Schiff griff die israelische Armee das Boot „Conscience“ mit Drohnen an. Dieses Schiff war im Auftrag der „Freiheitsflotte“ (Freedom Flotilla) aus Tunesien in Richtung Gaza in See gestochen war. Das Boot konnte nach Malta abgeschleppt werden, und es gab glücklicherweise keine Opfer.
Drei ehemalige Abgeordnete der Partei der Linken waren 2010 auf dem Konvoi „Mavi Marmara“ der Gaza-„Freiheitsflotte“: mein Mitautor Norman Paech, Annette Groth und Inge Höger. Auf diesem Hilfskonvoi mit mehreren Schiffen wurden zehn Menschen von dem angreifenden israelischen Armee-Kommando getötet. Der UN-Menschenrechtsrat berichtete im September 2010, dass alle durch Gewehrschüsse getötet worden waren, und er spricht in sechs Fällen von schlichter Hinrichtung.
Aber zurück zur Gegenwart: Adalah hat überzeugend argumentiert, dass der israelische Angriff auf die „Madleen“ klar gegen internationales Recht verstoßen hat. Gerade an diesem Beispiel entlarvt sich unsere Politik gegenüber Israel: Israel muss sich nicht an internationales Recht halten. Für Israel gelten andere Regeln, nämlich keine Regeln.
In Ihrem Buch fehlt die Frage der kollektiven Traumata aus der jeweiligen Geschichte: der Holocaust für Israel, die Nakba für die Palästinenser – und natürlich auch die deutsche Schuld am Holocaust! – sowie deren Auswirkung auf die politische Realität heute.
Dafür gibt es einen einfachen Grund. Ich bin keine Spezialistin in dieser Frage, und ich schreibe nicht über Themen, bei denen ich mich nicht auskenne.
Ich kann aber darauf verweisen, wie z.B. Amira Hass, Korrespondentin für die liberale israelische Zeitung Haaretz, mit der Geschichte ihrer Eltern und ihrer Familie umgeht. Amiras Eltern sind Überlebende der deutschen Konzentrationslager. Das wird für sie immer unvergessen bleiben. Aber ihre Eltern haben ihr ein Vermächtnis mitgegeben: sich immer und überall für die Opfer von Unterdrückung einzusetzen. Amira hat lange in Gaza gelebt und lebt zwischenzeitlich in Ramallah [palästinensische Autonomiegebiete im Westjordanland – Anm. d. Red.].
Und in Deutschland ist Norman Finkelstein aus New York sehr bekannt. Auch er wird nie die Geschichte seiner Familie als Opfer des deutschen Faschismus vergessen können. Genau wie Amira Hass zieht er jedoch eine entscheidende Konsequenz daraus: Nie mehr, egal wo und egal durch wen! Das ist, wie ich oben schon kurz angerissen habe, auch die Position von „Jewish Voice for Peace“ oder der „Jüdischen Stimme für Frieden und Gerechtigkeit“. Sie alle wehren sich gegen die Instrumentalisierung des Holocaust, der Shoa, durch das derzeitige Regime in Israel.
Zu den Palästinensern: In Israel dürfen die Palästinenser nicht mehr in öffentlichen Gebäuden den Gedenktag an die Nakba (Flucht und Vertreibung der Palästinenser) begehen. Immer mehr Menschen – in den besetzten Gebieten wie auch weltweit – stellen den 15. Mai als Erinnerung an die Nakba jedoch in den Mittelpunkt des Gedenkens. Dies sind jedoch eher neuere Entwicklungen. Die Generation, die mit schlimmen Massakern aus ihren Häusern und aus ihrer Heimat vertrieben wurde, hat lange nicht darüber gesprochen. Sie hat jedoch den Schlüssel zum eigenen Haus als Symbol behalten. Für sie bleibt die Hoffnung, irgendwann einmal zurückkehren zu können.
Zu den Traumata der Palästinenser in Deutschland hat Sarah Bulbeisi eine grundlegende Arbeit vorgelegt: „Tabu, Trauma und Identität. Subjektkonstruktionen von PalästinenserInnen in Deutschland und der Schweiz, 1960-2015“, erschienen 2020. Dieses Buch möchte ich allen zur Lektüre empfehlen. Auch zahlreiche junge Journalistinnen in Deutschland haben dies thematisiert, eine davon ist Hebh Jamal.
Ist Frieden möglich ohne Aufarbeitung der Traumata? Ich denke, Frieden ist die Voraussetzung dafür, dass die palästinensische und die israelische Gesellschaft anders mit ihren Traumata umgehen und einen Schritt in eine bessere Zukunft gehen können. Aber das sage ich als Politologin, nicht als Psychologin oder Massenpsychologin.
Nun würde ich gerne über das israelische Atomprogramm sprechen. Welche Länder haben dies gefördert, welche Informationen gibt es darüber, wie viele Atomsprengköpfe besitzt Israel? Warum spricht niemand offiziell darüber? Und warum wird im Gegensatz dazu ein angebliches iranisches Atomprogramm ständig angeprangert?
Im Buch bin ich kurz auf die Rolle Frankreichs eingegangen. Frankreich hat zweifellos die entscheidende Rolle gespielt bei der Entwicklung des israelischen Atomprogramms. Im Anschluss daran einigten sich alle folgenden US-Regierungen, darüber den Mantel des Schweigens zu breiten. Auch international blieb es dabei. Lediglich in der UNO-Generalversammlung wird Israel regelmäßig aufgefordert, endlich den Atomwaffensperrvertrag, also den Vertrag über die Nichtverbreitung von Kernwaffen, zu unterschreiben. Dort wurde zuletzt auch beschlossen, dass der gesamte Nahe Osten eine atomwaffenfreie Zone wird. Nur fünf Staaten stimmten dagegen, darunter Israel und die USA. Weitere 24 Staaten enthielten sich der Stimme, darunter EU-Staaten inklusive Deutschlands.
Da Israel nie offiziell zugegeben hat, Atomwaffen zu besitzen, können wir nur von Schätzungen ausgehen: zwischen einem Minimum von 90 und einem Maximum von 300 bis 400 Atomsprengköpfen. Klare Informationen zum israelischen Nuklearprogramm haben wir erst, seit Mordechai Vanunu 1986 an die Öffentlichkeit gegangen ist. Dafür saß er 18 Jahre in israelischer Haft, bis heute darf er Israel nicht verlassen.
Zum Iran wissen wir, dass dort kein atomares Aufrüstungsprogramm verfolgt wird. Der Iran hat den Atomwaffensperrvertrag unterzeichnet. Er besteht auf seinem dort verbrieften Recht der Anreicherung von Uranium für friedliche Zwecke. All das ist in den USA bekannt und wird von den dortigen Geheimdiensten und verantwortlichen Ministern auch kontinuierlich so bestätigt. Der Norden, von den USA über die EU bis Australien, besteht unisono darauf, dass der Iran nie zur Atommacht werden darf. Zu Israel schweigt man.
Auch dies ist nur ein weiteres Indiz dafür, dass Israel über internationalem Recht steht und vom Norden nie ernsthaft zur Einhaltung internationalen Rechts gezwungen wird.
Ihr aktuelles Buch heißt „Völkermord in Gaza – eine politische und rechtliche Analyse“. In diesem Buch entspricht der Völkermord in Gaza der vierten Phase des Siedlerkolonialismus! Können Sie die darin genannten Begriffe Siedlerkolonialismus, Genozid, Medizid, Scholastizid unseren Lesern bitte erklären?
Siedlerkolonialismus ist schlicht und einfach eine spezielle Form des Kolonialismus. Siedler besetzen Land, das sie als ihr verbrieftes Eigentum betrachten. Sie vertreiben die einheimische Bevölkerung oder stecken sie in Reservate. Historische Beispiele sind Nordamerika oder Australien und Neuseeland.
Der Erste, der Israel als siedlerkolonialistischen Staat gebrandmarkt hat, ist der palästinensische Historiker Fayez Sayegh. In seiner kleinen Schrift von 1965 „Zionistischer Kolonialismus in Palästina“ zeigt er die Grundlage von Siedlerkolonialismus: Rassismus und Gewalt gegen die einheimische Bevölkerung. Entscheidend ist, dass das gesamte historische Palästina, vom Jordanfluss im Osten bis zur Mittelmeerküste im Westen zum jüdischen Staat Israel gemacht wird. Für die Palästinenser gibt es dort keinen Platz.
Patrick Wolfe ist heute der wichtigste Theoretiker des Siedlerkolonialismus. Er hat herausgearbeitet, dass Siedlerkolonialismus zwangsläufig zum Völkermord führt. Genau diesem Völkermord sind die Palästinenser seit Oktober 2023 im Gazastreifen ausgesetzt. Dieser Völkermord, der englische Begriff ist Genozid [genocide – Anm. d. Red.], hat zu einer ganzen Reihe von neuen Begriffen geführt wie Medizid und Scholastizid.
Medizid ist die Zerstörung des Gesundheitswesens, das ja im Gazastreifen zu entsetzlichen Folgen geführt hat bis heute. Gerade erst wurde wieder ein palästinensischer Arzt bei einem israelischen Bombenangriff getötet: Dr. Marwan al-Sultan, Direktor des Indonesischen Krankenhauses in Gaza. Er war einer der zwei letzten Kardiologen in Gaza.
Scholastizid ist die systematische Zerstörung des Bildungssystems, wie wir es seit Oktober 2023 in Gaza sehen müssen, also ein Teil des „kulturellen Völkermords“. Rafael Lemkin, der Genozid ins Völkerrecht eingeführt hat, schreibt dazu: „Die Zerstörung der Kultur ist der erste Schritt zur vollständigen Zerstörung einer Nation.“
Ein Kapitel Ihres Buches trägt den Titel „Gaza – der größte Kinderfriedhof der Welt, sie haben alle einen Namen“. Sie haben in Ihrem Buch UN-Generalsekretär Antonio Guterres zitiert, der schon Ende 2023 davor warnte, dass Gaza zu einem einzigen Friedhof für Kinder werde.
Leider ist die Tötung von Kindern nichts Neues. Nach Abschluss des Buchmanuskriptes wurde ich auf einen Artikel in der New York Times vom 9. Oktober 2024 aufmerksam [die NachDenkSeiten berichteten – Anm. d. Red.]. Dieser Artikel basiert auf den Augenzeugenberichten von 65 amerikanischen Ärzten, die jeweils für kurze Hilfseinsätze nach Gaza gereist waren. Jeder dieser Ärzte musste täglich mehrere Fälle von Kindern mit Kopf- oder Herzschüssen behandeln. Die tragische Erkenntnis: Kinder wurden und werden bis heute gezielt getötet. In der Mehrzahl sind es Kinder unter zehn Jahren.
Der amerikanische Dokumentarfilmer Josh Rushing griff die Geschichte auf. Er sprach mit 20 der 65 Ärzte und drehte einen Film unter dem Titel „Kids under Fire“, übersetzt: Kinder unter Beschuss, mit dem Untertitel: „Eine Untersuchung über die Erschießung von Kindern durch israelische Soldaten“. Der Film kann auf YouTube heruntergeladen werden.
Rushing sprach mit Miranda Cleland von Defense for Children International und fragte sie schlicht, wie junge Soldaten derartige Verbrechen begehen können. Ihre Antwort schockierte ihn und muss uns alle schockieren:
„Seit Jahren werden in der Westbank Kinder gezielt erschossen … und niemand reagiert darauf oder unternimmt irgendetwas dagegen. Israelische Soldaten erschießen palästinensische Kinder, weil sie es wollen. Und ich glaube, sie tun es, weil sie es tun dürfen und weil sie niemand jemals gestoppt hat.“
In Rushings Film erzählt die Ärztin Dr. Miri Sayed von der vierjährigen Mira, die sie am 24. August auf ihren Behandlungstisch bekam. Mira hatte eine einzige Schusswunde im Kopf, und das CT zeigte das Geschoss sehr deutlich. Mira wurde operiert und überlebte. Wir wissen, dass sie schnellstmöglich in ein spezialisiertes Krankenhaus außerhalb Gazas hätte gebracht werden müssen. Ob das gelang und ob sie noch lebt, wissen wir leider nicht. Wie lange schaut die Welt, schauen wir in Deutschland all diesen Verbrechen tatenlos zu, ja schauen wir einfach weg?
Und wie geht es weiter?
Der Völkermord muss enden, besser heute als morgen! Die Besatzung muss enden! Palästinenser müssen endlich ihr Recht auf Selbstbestimmung verwirklichen können! Und es muss endlich Freiheit und Gleichheit geschaffen werden, „from the river to the sea“!
Vielen Dank für dieses Interview!
Titelbild: Anas-Mohammed/shutterstock.com