Sanktionen töten genauso viele Menschen wie Kriege

Sanktionen töten genauso viele Menschen wie Kriege

Sanktionen töten genauso viele Menschen wie Kriege

Ein Artikel von: Redaktion

Umfassende Wirtschaftssanktionen, die größtenteils von der US-Regierung verhängt werden, töten jedes Jahr Hunderttausende unschuldiger Menschen – vor allem Kinder. Die Fachzeitschrift Lancet Global Health veröffentlichte am 23. Juli eine Studie, in der die Zahl der Todesopfer über einen Zeitraum von zehn Jahren auf etwa 564.000 pro Jahr geschätzt wird. Dies ist vergleichbar mit den jährlichen Todesfällen durch bewaffnete Konflikte in der ganzen Welt. Von Mark Weisbrot.

Sanktionen werden zu einer bevorzugten Waffe der USA und einiger Verbündeter – nicht, weil sie weniger zerstörerisch sind als Militäraktionen, sondern eher, weil der Tribut weniger sichtbar ist.

Sie können Nahrungsmittelsysteme und Krankenhäuser zerstören und im Stillen Menschen töten, ohne dass die grauenvollen Videos von Leichenteilen in Zeltlagern und aus der Luft bombardierten Cafés zu sehen sind. Sie bieten den politischen Entscheidungsträgern etwas, das die tödlichen Auswirkungen eines Krieges, auch gegen Zivilisten, ohne die politischen Kosten liefern kann.

Die oben angeführte Schätzung von 564.000 jährlichen Todesfällen durch Sanktionen basiert auf einer Analyse von Daten aus 152 Ländern über einen Zeitraum von zehn Jahren. Die Studie wurde von den Ökonomen Francisco Rodríguez, Silvio Rendón und mir erstellt.

Das Ergebnis ist erschütternd, aber für Ökonomen, Statistiker und andere Forscher, die die Konsequenzen von Wirtschaftssanktionen untersucht haben, nicht überraschend. Dabei handelt es sich um Maßnahmen, die sich gegen die gesamte Wirtschaft oder gegen einen Teil davon richten, von dem der Großteil der übrigen Wirtschaft abhängig ist. Beispiele sind der Finanzsektor oder ein Hauptexportgut, etwa in erdölexportierenden Volkswirtschaften.

Die Sanktionen können den Zugang zu lebenswichtigen Importen wie Medizin und Lebensmitteln sowie zur notwendigen Infrastruktur und zu Ersatzteilen für die Aufrechterhaltung der Trinkwasserversorgung – einschließlich elektrischer Systeme – blockieren.

Der Schaden für die Wirtschaft kann manchmal sogar noch tödlicher sein als nur die Blockierung notwendiger, lebenserhaltender Importe. Venezuela ist ein Beispiel für ein Land, das unter all diesen Auswirkungen zu leiden hatte, und der Fall ist weitaus besser dokumentiert als bei den meisten der heute 25 Prozent der Länder, die unter Sanktionen stehen (in den 1960er-Jahren waren es noch acht Prozent).

In Venezuela hat das erste Jahr der Sanktionen unter der ersten Trump-Regierung Zehntausende von Menschenleben gefordert. Die Lage verschlimmerte sich noch weiter, als die USA das Land vom internationalen Finanzsystem und den Ölexporten abschnitten, Vermögenswerte in Milliardenhöhe einfroren und „Sekundärsanktionen“ gegen Länder verhängten, die versuchten, mit Venezuela Geschäfte zu machen.

Venezuela erlebte die schlimmste Depression der Weltgeschichte – ohne einen Krieg. Sie dauerte von 2012 bis 2020 und führte zu einem Rückgang der Wirtschaft um 71 Prozent – mehr als dreimal so stark wie bei der Großen Depression in den USA in den 1930er-Jahren. Der Großteil dieses Rückgangs ist auf die Sanktionen zurückzuführen.

Unsere Studie hat ergeben, dass die Mehrheit der Menschen, die infolge der Sanktionen in allen Ländern starben, Kinder unter fünf Jahren waren. Diese Grausamkeit wurde in früheren Untersuchungen bestätigt. Medizinische Studien haben gezeigt, dass Kinder in dieser Altersgruppe viel anfälliger für den Tod durch Krankheiten wie Durchfall, Lungenentzündung und Masern sind, wenn sie unterernährt sind.

Diese Ergebnisse stimmen auch mit statistischen Studien der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich und anderer Statistiker und Ökonomen überein, die feststellen, dass Rezessionen in Entwicklungsländern die Sterblichkeitsrate erheblich erhöhen. Es versteht sich von selbst, dass die durch Sanktionen verursachte Zerstörung um ein Vielfaches schlimmer sein kann als eine durchschnittliche Rezession.

Im Jahr 2021 schrieb der Kongressabgeordnete Jim McGovern einen Brief an den damaligen Präsidenten Biden und forderte ihn auf, „alle sekundären und sektoralen Sanktionen aufzuheben, die die Trump-Administration gegen Venezuela verhängt hat“. Die Auswirkungen dieser Sanktionen „sind wahllos und absichtlich. (…) Ein massiver wirtschaftlicher Verlust ist das Mittel, mit dem die Sanktionen wirken sollen. Aber nicht die venezolanischen Regierungsvertreter leiden unter den Kosten. Es ist das venezolanische Volk“, heißt es darin.

Deshalb sind die US-Sanktionen nach den von den USA selbst unterzeichneten Verträgen, einschließlich der Charta der Organisation Amerikanischer Staaten, illegal. Außerdem sind sie in Kriegszeiten nach den Genfer und Haager Konventionen als kollektive Bestrafung der Zivilbevölkerung verboten.

UN-Experten haben sehr überzeugend argumentiert, dass etwas, das ein Kriegsverbrechen darstellt, wenn Menschen sich gegenseitig bombardieren und erschießen, auch als Verbrechen gelten sollte, wenn es keinen solchen Krieg gibt.

Diese Sanktionen verstoßen auch gegen US-Recht. Wenn der Präsident Sanktionen anordnet, muss er laut Gesetz erklären, dass das sanktionierte Land einen „nationalen Notstand“ für die USA verursacht und eine „ungewöhnliche und außergewöhnliche Bedrohung“ für die nationale Sicherheit der USA darstellt[*]. Dies ist jedoch fast nie der Fall gewesen.

Angesichts des Abbaus der Rechtsstaatlichkeit in den USA und der mangelnden Beachtung der Menschenrechte in der US-Außenpolitik – und zunehmend auch im eigenen Land – kann man leicht pessimistisch sein, was die Aussichten auf ein Ende dieser wirtschaftlichen Gewalt angeht. Aber sie wird enden.

Wir haben Siege gegen weitaus stärkere Gegner und festgefahrene Politiken, einschließlich Kriege, errungen – zuletzt gegen die Beteiligung der USA am Krieg im Jemen. Durch organisierte Opposition wurde der Kongress dazu gebracht, 2019 eine entsprechende Resolution über Kriegsbefugnisse (War Powers Resolution) zu verabschieden. Damit wurde zumindest ein Teil der militärischen Unterstützung und der Blockade durch die USA gestoppt, die Millionen von Menschen in eine Hungersnot gestürzt hatten – und so wurden Tausende von Menschenleben gerettet.

Das offizielle Folterprogramm der CIA nach dem 11. September 2001, das auch Waterboarding umfasste, wurde 2009 nach Aufdeckung in der Öffentlichkeit und erheblichem Widerstand per Präsidialdekret beendet.

Für politische Entscheidungsträger, die Sanktionen einsetzen, ist deren Unsichtbarkeit der größte Vorteil. Aber das ist auch ihre Achillesferse. Wenn die wirtschaftliche Gewalt umfassender Sanktionen allgemein bekannt wird, werden sie nicht mehr zu rechtfertigen und politisch nicht mehr tragbar sein.

Der Beitrag ist auf Englisch bei CEPR erschienen und wurde von Marta Andujo übersetzt.

Über den Autor: Mark Weisbrot, US-amerikanischer Ökonom und Publizist, ist Mitbegründer des Center for Economic and Policy Research (CEPR) in Washington

Titelbild: Nelson Bastidas / shutterstock


[«*] Anmerkung der Übersetzerin: So geschehen im Fall von Venezuela. Im Jahr 2015 erklärte der damalige Präsident Barack Obama das südamerikanische Land per „Executive Order“ zur „Bedrohung für die nationale Sicherheit” der USA. Der stellvertretende US-Sicherheitsberater Ben Rhodes erklärte dazu, Venezuela stelle zwar keinerlei Gefahr für die USA dar, aber das sei nun mal der „Rahmen”, der es dem Präsidenten ermöglicht, Sanktionen zu verhängen.

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