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Titel: Die Gerechtigkeitslücke, wie Politik die Gesellschaft spaltet – Rezension des Buches von Ottmar Schreiner

Datum: 24. November 2008 um 9:09 Uhr
Rubrik: Erosion der Demokratie, Rezensionen, Soziale Gerechtigkeit, Ungleichheit, Armut, Reichtum
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Ein Sozialdemokrat in der SPD, Ottmar Schreiner, hat in seinem Buch „Die Gerechtigkeitslücke“ die Ursachen der sozialen Kluft, die sich aufgrund der neoliberalen Politik aufgetan hat und die mit der Agenda 2010 Programm der SPD wurde, von unterschiedlichen Seiten beleuchtet. Seit Jahren werden Reformen mit der Begründung, dass der „Standort Deutschland“ den Stürmen der Globalisierung trotzen müsse, vorangetrieben und Eckpfeiler der Sozialen Marktwirtschaft herausgebrochen. In seinem aufrüttelnden Buch, das Zahlen und Fakten nennt und Wege aus der Krise aufzeigt, rechnet Ottmar Schreiner, Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft für Arbeitnehmerfragen und Mitglied im SPD-Parteivorstand, mit dem Scheitern des derzeitigen politischen Kurses ab, notwendige Reformen sozialverträglich zu gestalten – auch mit den krassen Versäumnissen der eigenen Partei. Von Christine Wicht

Schreiner warnt eindringlich vor den Gefahren für den gesellschaftlichen Zusammenhalt, die die wachsende Gerechtigkeitslücke heraufbeschwört und verweist auf den Wert der Gleichheit, den das Grundgesetz nicht geringer achtet als den Wert der Freiheit. Mit Blick auf die deutsche Geschichte erinnert er daran, dass eine tiefgreifende soziale Spannung der Gesellschaft zum Totengräber der Demokratie werden kann. Nicht nur weil im kommenden Bundestagswahlkampf die soziale Gerechtigkeit ein zentrales Thema sein wird, ist dies ein Buch, dass alle angeht.

Soziale Sicherheit ist das Fundament der politischen Demokratie. Sie ist, so der Autor, der Humus, der es überhaupt erst ermöglicht, die demokratischen Rechte und Freiheiten auch wahrzunehmen, die die Demokratie gewährt. Nur wo die Bürger ohne Not oder Angst vor Not leben, können sie ihr Leben selbstbestimmt gestalten. Dies sei seit der Einführung von HartzIV nicht mehr möglich. Schreiner stellt die Frage, für welche gemeinsame Sache ein HartzIV-Empfänger mit 347 Euro monatlich und ein Top-Manager mit einem Jahreseinkommen von knapp drei Millionen Euro noch eintreten könnten? Die Staatsbürger könnten nicht mehr gleich sein, wenn ein Übermaß an gesellschaftlicher Ungleichheit das demokratische Fundament gefährde und letztendlich zerstöre.

Der Autor blickt zurück auf die deutsche Geschichte, auf die Errungenschaften der Arbeiterbewegung, die Absicherung existenzieller Risiken, wie Krankheit, Arbeitslosigkeit und Altersarmut und erinnert daran, dass diese Errungenschaften im Grundgesetz als „Sozialstaatsprinzip“ eingegangen seien. Schreiner rekapituliert die Prinzipien der sozialen Marktwirtschaft, einer Wirtschaft und Gesellschaftsform, die das Attribut „sozial“ nicht nur deshalb zugeordnet worden sei, um diejenigen sozial abzusichern, die aus dem ökonomischen Prozess herausgefallen waren. Das Soziale sei als ein Kernelement der Wirtschaftordnung selbst gedacht worden. Ludwig Erhards Leitidee der Sozialen Marktwirtschaft mit dem Motto „Wohlstand für alle“, sollte auch Sicherheit für alle bedeuten. Mit der Neugestaltung der Wirtschaft nach der Nazi-Tyrannei sollte die Voraussetzung dafür geschaffen werden, dass im Kapitalismus die gesellschaftliche Spaltung zwischen „Arm“ und „Reich“ aufgehoben oder zumindest ausgeglichen werden sollte.

Schreiner führt aus, wie sich die Sicht in unserem Land auf „das Soziale“ verändert habe. Indem etwa das sozialstaatliche Fundament der Bundesrepublik als „überzogenes Anspruchsdenken“ verunglimpft worden sei, dass es sich Menschen in der „sozialen Hängematte“ bequem einrichteten und den Sozialstaat missbrauchten. Mit der ständigen Wiederholung dieser Parolen sei dem Bürger eingeredet worden, beim entwickelten Sozialstaat handle es sich um ein Auslaufmodell und um einen Klotz am Bein der Wirtschaft. Deshalb müssten die Errungenschaften aus alter Zeit zurückgeführt werden. Deshalb lauteten die Forderungen der Vorkämpfer einer sozialstaatsfreien Zone: Sozialleistungen kürzen, Löhne drücken, Steuern senken, öffentliche Güter privatisieren und die viel zitierte „Eigenverantwortlichkeit“ stärken. Ironisch fügt der Autor noch hinzu: „Ein Schelm, der glaubt, hier seien privatwirtschaftliche Interessen oder ihre politischen Lobbyisten am Werk, da es den Wortführern nur um das Ganze, also um das Wohl des Volkes ginge. Denn nur so könne die hohe Arbeitslosigkeit bekämpft werden und Bundesrepublik international bestehen.“

Schreiner beschreibt, warum es sich bei der Globalisierung nicht um eine Art Naturgewalt handle, die über uns hereingebrochen sei und nun die Bedingungen des Arbeitsmarktes diktiere. Ausführlich erklärt er, was sich hinter den Behauptungen der Lobbyisten verberge, dass bei zunehmender Globalisierung der Standort Deutschland nur zu retten sei, wenn die Arbeitskosten gesenkt und der Arbeitsmarkt weiter „entriegelt“ würden. Letztendlich sei diese Politik darauf hinausgelaufen, dass die Arbeitgeber in der Renten- und Krankenversicherung entlastet, den Beschäftigten, Kranken und Rentnern aber zusätzliche Lasten aufgebürdet wurden. Schreiner stellt dar, dass mittlerweile derart massive Propaganda betrieben werde, dass die Mehrheit im Land es hingenommen habe als Verlierer der Globalisierung dazustehen und dies obwohl Deutschland seit Jahren Exportweltmeister ist. In diesem Zusammenhang räumt Schreiner mit dem Ammenmärchen der viel zu hohen Lohnnebenkosten auf. Die viel entscheidenderen Lohnstückkosten würden seit langem sinken und die Qualität der Produkte, die hervorragende Qualifikation der Fachkräfte seien für wirtschaftliche Erfolge viel wichtiger.

Agenda 2010

Die Agenda 2010, mit der tiefgreifenden Umwälzungen in der Arbeitsmarktpolitik, im Arbeitsrecht, mit massiven Steuerbegünstigungen für Reiche und mit der massiv in die Renten eingegriffen wurde, nimmt einen breiten Raum im Buch ein. Mit Zahlen und Fakten werden die unsozialen Auswirkungen der Agenda beschrieben, die wesentlich dafür verantwortlich sei, dass sich die Einkommensschere weiter geöffnet habe als je zuvor im Nachkriegsdeutschland. Nutznießer der Agenda 2010 sei ausschließlich die Oberschicht. Schreiner stellt die Frage: „Ist die Politik der Agenda 2010 neue „Modernisierung mit sozialem Augenmaß“ oder führt sie zur Entsozialdemokratisierung der SPD und damit zur politischen Selbstentsorgung einer außer sich geratenen Partei?“

Schreiner zitiert an vielen Stellen Frank-Walter Steinmeier; der Kanzlerkandidat werde nicht müde den Reformkurs zu loben. Auch der „linke“ Sigmar Gabriel geißele zwar den sozialen Spaltungsprozess in einem Interview im SPIEGEL, dass die Dynamik der sozialen Spaltungen hierzulande zu einem „Neofeudalismus“ geführt habe, der „inzwischen Züge einer Klassengesellschaft trägt“, er vergesse dabei aber anscheinend, dass die SPD seit Jahren Regierungsverantwortung trage. Dass sich nun ausgerechnet die SPD, als Volkspartei, von ihren sozialen Werten verabschiedet und diesen Reformkurs vorangetrieben habe, bedeute letztendlich, dass die Agenda 2010 mit der Tradition Willy Brandts gebrochen habe, wonach „Reformen“ Maßnahmen zur Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen der arbeitenden Menschen sein sollten.

Schreiner belegt in seinem Buch die Ausweitung prekärer Beschäftigungsverhältnisse, mit Scheinselbständigkeit und (Zwangs-)Teilzeit. 1987 habe der damalige Partei- und Fraktionsvorsitzende der SPD, Hans Jochen Vogel, in einer Bundestagsrede noch angeprangert, dass so viele Menschen in einem so reichen Land arm seien und dies ein sozialer und moralischer Skandal sei, der nicht länger ignoriert werden könne. Vogel fügte damals noch die Worte hinzu: „Sie, meine Damen und Herren, können das offenbar. Ihnen bereitet das keine Mühe. Denn bei uns ist es doch um kein Haar besser als in den Vereinigten Staaten. Der Reichtum wächst, und auch die Armut wächst“. Ein paar Jahre später sei die prekäre Beschäftigung, durch die von der rot-grünen Bundesregierung verabschiedete Agenda 2010 hoffähig gemacht worden.

Unter der Überschrift „Der gespaltene Aufschwung“ geht Schreiner auf die Arbeitsmarktsituation ein. Die steigende (Konjunktur-)Flut habe keineswegs alle Boote angehoben, sondern es landeten immer mehr Menschen in Jobs, die miserabel bezahlt, zeitlich befristet und ohne berufliche Perspektive seien. Er zitiert den „Wirtschaftsweisen“ Peter Bofinger, der errechnet hat, dass es 2007 27,2 Millionen sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze gab und dies – trotz des angeblichen Aufschwungs – nicht mehr sind als im März 2003. Das durchschnittliche Wachstum in der Bundesrepublik liege seit der Agendapolitik von 2003 bis 2008 gerade mal bei 1,8 Prozent, und damit belege Deutschland den drittletzten Platz innerhalb der OECD-Länder. Schreiner stellt fest, dass die Gewinne der Unternehmen im Aufschwung geradezu explodiert seien, die realen Nettoeinkommen der Arbeitnehmer jedoch zurückgegangen seien. Beispielsweise lag die Gewinnquote, also das Einkommen aus Vermögen und unternehmerischer Tätigkeit, beim letzten Aufschwung (1998-2001) bei 29 Prozent. Es stieg zwischenzeitlich auf 32 Prozent und kletterte im letzten zaghaften Aufschwung auf stolze 36 Prozent. Spiegelbildlich ist die Lohnquote auf den historischen Tiefpunkt von über 72 auf 64 Prozent gesunken. Daraus ergebe sich, dass der Zuwachs an Wirtschaftsleistung in diesem Aufschwung nahezu ausschließlich den Beziehern von Gewinneinkommen und den Vermögenden zugute gekommen sei. Er kommt zu dem Ergebnis, dass Deutschlands Manager die bestbezahlten in Europa seien, während der Anteil der Niedriglöhne dramatisch auf gut 22 Prozent angestiegen sei. Jede/r Fünfte sei gering bezahlt.

Schreiner erläutert seine Sicht, warum jemand, der einmal abgestürzt sei, aus eigener Kraft kaum wieder hoch komme. Er beschreibt die Verhältnisse von Dauerarbeitslosen, die rasant wachsende Zahl von Kindern und Jugendlichen die in armen Familien lebten, denen ein Leben auf der Verliererstrasse vorgezeichnet sei. Er kritisiert das Bildungssystem, das armen Kindern weniger Chancen einräumt, und dass der Schulerfolg in keinem anderen Industriestaat derart abhängig ist vom Einkommen der Eltern. Somit lebten die Klassengrenzen fort und zwar zum Nachteil aller.

Die einstige Mitte schrumpfe kontinuierlich, denn temporäre und saisonale Beschäftigungsverhältnisse ersetzen zunehmend Normalarbeitsverhältnisse. Auch Akademiker seien heute ebenso von Existenzsorgen betroffen wie die „Generation Praktikum“. Das gültige Lebensmuster dieser Republik sei nicht mehr selbstverständlich: eine Lehre machen, Studium absolvieren, einen Arbeitsplatz finden und eine Familie gründen, einen Kredit aufnehmen und ein Haus bauen, den Kindern eine gute Ausbildung ermöglichen und für das Alter vorsorgen.

Menschen, die heute im Niedriglohnsektor arbeiteten, hätten keine Sicherung für das Alter mehr. Zwischen 1998 und 2003 sei der Anteil der Personen, die in mindestens zwei von drei Vorjahren in Armut lebten, von 6,8 auf 9,3 Prozent gestiegen, bei Frauen sogar von 8,0 auf 10,9 Prozent. Mittlerweile seien 8,1 Prozent aller Haushalte überschuldet. Von politischer Seite werde der Zusammenhang zwischen Armut und Niedriglöhnen kaum thematisiert. Erst recht fehle ein Hinweis, mit welchen politischen Instrumenten der Ausbreitung der „working poor“ entgegengetreten werden soll. Schreiner legt dar, wie der Staat bei den Ärmsten spare und unter anderem von den perspektivlosen 300.000 Ein-Euro-Jobs profitiere.

Auch die Berechnung der Regelsätze stellen einen interessanten Aspekt des Buches dar, ebenso wie die Ausführungen über die Auswirkungen der Einführung des Arbeitslosengeldes II, das korrekter Weise „Sozialhilfe II“ heißen müsse. So werde etwa ein Fahrrad im Regelsatz mit sage und schreibe 74 Cent im Monat ausgewiesen. Wie lange müsste also ein HartzIV-Empfänger für ein Fahrrad sparen? Schreiner hat in einem Kapitel diverse Bausteine für eine Re-Reform des Regelsatzes aufgeführt.

Entgegen vieler Stammtischparolen werde einem Sozialhilfeempfänger nicht immer alles bezahlt, sobald er einen Anspruch anmelde, es würden vielmehr nur einmalige Leistungen für die Erstausstattung von Wohnungen und Kleidung sowie etwa bei mehrtägigen Klassenfahrten. Ein defekter Kühlschrank müsse aus dem pauschalierten Sozialgeld bzw. Arbeitslosengeld II finanziert werden.
Schreiner erinnert, dass die Sozialhilfe 1962 für etwa 500 000 Personen als letztes Auffangnetz eingeführt worden war. Im Laufe der Jahre mutierte die Sozialhilfe (und das Alg II) immer mehr zu einer Minimalversorgung für Millionen.

Erhellend sind auch die Darstellungen zu den Vermögensverhältnissen, so hätten die 50 reichsten Deutschen ihr Vermögen im letzten Jahr um 50 Milliarden Euro vermehren können. Von dieser Summe könnten sich knapp zwei Millionen Kinder, die von HartzIV leben, bei einem Verpflegungssatz von täglich 2,29 über 30 Jahre lang ernähren. Das Nettovermögen der Bundesbürger liege bei 5,4 Billionen Euro. Die Verteilung sei jedoch extrem ungleich. So hätten die reichsten 10 Prozent ihren Anteil am Gesamtvermögen auf 60 Prozent steigern können. Auf der anderen Seite verfügten rund zwei Drittel der Bevölkerung über kein oder nur ein sehr geringes Nettovermögen. Knapp 30 Prozent seien vermögenslos oder gar verschuldet. Schreiner beschreibt wie die Politik mit Steuer-, Abgaben- und Sozialpolitik die Situation verschärft hat und stellt fest, dass die Politik nicht nur Triebfeder dieser Entwicklung sei, sie sei Nutznießer dieses Wandels der Arbeitswelt. So seien in unserem Land im Jahre 2007 ca. 180 000 Beschäftigte im öffentlichen Dienst und in angrenzenden Bereichen auf aufstockende HartzIV-Leistungen angewiesen gewesen, da ihr Lohn zum Lebe nicht ausreichte. Unter den Aufstockern waren sogar 33 000 Lehrer, Erzieher und Sozialarbeiter.

Niedriglohnland Deutschland

Unter der Überschrift „Die deutsche Lohnmisere“ werden Lohn- und Arbeitskosten analysiert und auf die Lohnzurückhaltung der letzten 20 Jahre eingegangen. Schreiner führt aus, dass die Umverteilung von Arbeits- und Kapitaleinkommen letztendlich dazu führt, dass die im Gefolge des Shareholder-Value-Prinzips deutlich höheren Renditevorgaben der Unternehmen auf Kosten der Arbeitnehmer gingen. Dass Deutschland seine Position als Exportweltmeister ausbauen konnte, sei vor allem auch darauf zurückzuführen, dass Deutschland mittlerweile ein Billiglohnland sei. Schreiner belegt das anhand von Vergleichen zwischen diversen EU-Mitgliedstaaten und den USA. Er geht darauf ein, warum die deutsche Lohnentwicklung nicht nur für die Importländer problematisch sei, sondern auch für die Binnenwirtschaft. Wer meinte, die Deutschen seien besser Verdienende, wird eines besseren belehrt. Inzwischen sind Löhne unter fünf Euro pro Stunde keine Seltenheit, die Zahl der Beschäftigten mit entsprechenden Hungerlöhnen sei von 1,5 Millionen im Jahr 2004 auf 1,9 Millionen im Jahr 2006 gestiegen. Mit Tabellen über Tarifbereiche, Bundesländer und Arbeiter/Angestellte, über Stundensätze und monatliches Einkommen liefert das Buch Belege für den sich immer mehr ausbreitenden Niedriglohnsektor. Auch warum Kombilöhne eine Dauersubvention seien und öffentliche Haushalte mit gewaltigen Kosten belasten würden, ist ein überaus informatives Kapitel. Schreiner geht eingehend auf den gesetzlichen Mindestlohn ein und stellt abschließend ein Kapitel „Reformbausteine für den Niedriglohnsektor“ vor. Anstatt den Niedriglohnsektor auf ein existenzsicherndes Einkommen anzuheben, müssten Vorkehrungen getroffen werden, damit auf dem Arbeitsmarkt ein faires Verhältnis zwischen Arbeit und Kapital wiederhergestellt werde. Schreiner begründet die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns und fordert die Umwandlung von Ein-Euro-Jobs in sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse, die mit Weiterbildungs- und Qualifizierungsmaßnahmen verbunden werden müssten. Leiharbeit spalte die Belegschaft, um dies zu verhindern müsse das Arbeitnehmerüberlassungsgesetz so geändert werden, dass Leiharbeiter nach einer Einarbeitungszeit, ohne Ausnahme, die gleiche Entlohnung, die gleichen Arbeitsbedingungen und die gleichen Sozialleistungen gelten wie Arbeitnehmer in Normalarbeitsverhältnissen.

Die Apartheidgesellschaft – die Bildung in Deutschland

Die Probleme und Ursachen des leidigen Themas, Bildung in Deutschland, werden unter der Überschrift „Deutschlands Bildungsapartheid“ reflektiert. Der Autor diagnostiziert, dass, wer Kinderarmut erfolgreich bekämpfen wolle, in erster Linie Kinder aus einkommensschwachen Haushalten mehr fördern und von unseren Bildungsinstitutionen mehr Gerechtigkeit fordern müsse. Es wird aus PISA-Studien zitiert, die offen legten, dass unser Bildungssystem von der Krippe bis zur Hochschule die Verliererposition von Kindern aus sozial schwachen Familien auf allen Ebenen fortschreibe. Die Einführung sog. Eliteuniversitäten gössen im Prinzip die Apartheidgesellschaft in Beton.

Schreiner bedauert, dass, obwohl die Missstände hinreichend bekannt sind, seit der Bildungsreformen der sozial-liberalen Koalition der 70er Jahre keine Anstrengungen mehr unternommen worden seien, unser Bildungssystem in der Breite leistungsfähiger und sozial gerechter zu gestalten. Aufgrund der frühen Aussonderung komme knapp die Hälfte der Hauptschüler aus dem unteren Viertel der Gesellschaft, die Hälfte der Gymnasiasten stammt aus dem oberen Viertel der Gesellschaft. Daraus folge, dass Hauptschulen zu „Restschulen“ geworden seien – zu einem Sammellager für diejenigen, die keiner haben will. Schreiner stellt am Ende des Kapitels Bausteine für eine Reform des Ausbildungssektors vor. Er plädiert unter anderem für mehr Durchlässigkeit an Schulen, für Ganztagsschulen und für die Förderung von Kindern aus Familien mit Migrationshintergrund. Darüber hinaus sollte die Weiterbildung durch ein Bundesrahmengesetz geregelt werden, mit dem Ziel eine systematische Strukturierung der Weiterbildung hinsichtlich der öffentlichen Verantwortung, der Organisation des Zugangs, der Finanzierung, der Qualitätssicherung und einer einheitlichen Zertifizierung von Abschlüssen sicherzustellen.

Es gibt keine Alternative zur umlagefinanzierten Rente

Der Autor schildert eingehend, wie der Abbau der gesetzlichen Rente vor allem auf zwei gebetsmühlenhaft wiederholten Behauptungen beruhe, nämlich den angeblich permanent steigenden Lohnnebenkosten und der demografischen Entwicklung. Er bestreitet die Behauptung, dass die kapitalgedeckte Rente eine sicherere Altersversorgung garantiere. Sie sei mindestens genauso so stark von der demographischen Entwicklung abhängig wie die umlagefinanzierte Rente.

Schreiner kommt zum Ergebnis, dass sich die Politik das pausenlose propagandistische Trommelfeuer der Arbeitgeber zueigen gemacht habe. Der Autor räumt auf mit dem Mythos, dass die viel zitierte demographische Überalterung ein neues Phänomen ist. Die aufgezeigten Zahlen belegten, dass es sich bei der zunehmenden Alterung der Gesellschaft um einen bereits seit langen Jahren anhaltenden Prozess handle, der bereits vor weit über 100 Jahren mit Beginn der Industrialisierung einsetzte. Schreiner geht auf die Kampagnen der Bildzeitung zur „Schrumpfrente“ ein. In der Bevölkerung sei zu wenig bekannt, wie die gesetzliche Rentenversicherung funktioniert. So sei heute immer noch die Annahme weit verbreitet, es handle sich hier um einen Topf, in welchen die Beitragszahler einzahlten und aus dem dann im Alter ihre Rentenansprüche bedient würden. Vor allem die Ausweitung der „working poor“ führe zu Altersarmut in nicht hinnehmbaren Ausmaß. Ein Drittel aller Vollzeitbeschäftigten verdienten weniger als 75 Prozent des durchschnittlichen Vollzeitverdienstes und nach Berechnungen des Sozialverbandes Deutschland müsse ein Versicherter 39,5 Jahre lang den Durchschnittsverdienst (im Jahr 2007: 27 161 Euro) erzielen, um eine Nettorente in Höhe der in Deutschland festgesetzten Armutsrisikogrenze von 938 Euro monatlich zu erzielen. Wer weniger verdient, müsse 52 Jahre lang Beitrage in die gesetzliche Rentenversicherung zu entrichten, um im Alter eine Nettorente in Höhe des Armutsrisikos zu erhalten. Dass die gesetzliche Rente mit Niedriglohnjobs, hoher Arbeitslosigkeit und HartzIV-Politik kontinuierlich kaputt gemacht werde, stützt Schreiner an vielen Stellen ausführlich mit Zahlen und Fakten.

Wie in den anderen Kapiteln, werden auch zur Rentenpolitik Bausteine zur Lösung aus der Misere beschrieben. Gut- und Spitzenverdiener jenseits der Beitragsbemessungsgrenze sollten künftig stärker an den sozialen Lasten beteiligt werden. Da viele Berufsgruppen, die körperlich hart gearbeitet haben, früher in Rente gehen, müssten die hohen Abschläge auf die ohnehin nicht üppigen Anwartschaften für diese Berufsgruppen abgeschafft werden. Ziel sollte eine Bürgerversicherung sein, die auch alle Selbständigen, die bislang keinem obligatorischen Alterssicherungssystem angehören, in die gesetzliche Rentenversicherung einbezogen würden.

Die Europäische Union – eine Liberalisierungsgemeinschaft?

Der letzte Abschnitt des Buches befasst sich mit der Globalisierung, deren Zwänge und der Möglichkeit einer gerechteren Gestaltung. In einer Phase, in welcher der Vertrag von Lissabon massiv vorangetrieben wird, ist der Abschnitt über die „Europäische Union – eine Liberalisierungsgemeinschaft“ sehr aufschlussreich. Wie sollte beispielsweise ein friedliches, soziales und gerechtes Europa entstehen, wenn der Kern der Dienstleistungsrichtlinie trotz der Proteste der EU-Bürger erhalten geblieben sei? Schreiner geht auf die katastrophale Steuerpolitik ein in der EU ein, die in Deutschland dazu benutzt werden konnte, die Besteuerung der Kapitaleinkommen immer weiter abzusenken.
Über eine Kritik der Liberalisierungspolitik der EU hinaus, verweist Schreiner aber auf das Versagen der deutschen Politik. Die Investitionen der öffentlichen Hand, die über den Zustand und Modernisierungsgrad der Infrastruktur entschieden, lägen in Deutschland bei 1,3 Prozent am BIP. damit liege Deutschland im EU-Vergleich auf Platz 25. Schweden setze trotz Globalisierung auf einen Wohlfahrtstaat und widerlege das neoliberale Credo, dass eine hohe Abgabenquote (in Schweden 51,2 Prozent) ein niedriges Wachstum, hohe Arbeitslosigkeit und Wohlstandsverluste zur Folgen hätten. Die schwedische Erfolgsbilanz zeige, dass es auch in einem globalen Kapitalismus immer noch mehr politische Gestaltungsspielräume für staatliches Handeln gäbe, als es die These von der gleichsam „objektiven“ Sachzwanglogik der internationalen Märkte unterstelle. Der Autor schließt mit dem Resümee, dass die EU, insbesondere Deutschland, im Falle einer Beibehaltung des bisherigen Kurses, die gesellschaftlichen Spaltungsprozesse vertiefen und die Handlungsfähigkeit der Staaten weiter untergrabe. Ein soziales Europa werde so nicht entstehen.

Das Buch „Die Gerechtigkeitslücke“ ist ein lesenswertes und informatives Buch. Schreiner rechnet mit der neoliberalen Politik, die von Schröder, Steinmeier, Müntefering und Clement ohne Rücksicht auf Verluste vorangetrieben wurde, ab. Selbst der Spiegel lobte Ottmar Schreiner als einen jener Politiker, die man die „Unbeugsamen“ nennen könnte.
Deutschland brauchte mehr solcher Politiker mit Rückgrat, die nicht wackeln, nicht wanken und lobbygetrieben in das neoliberale Horn blasen – Politiker, die sich mit den Ursachen und Auswirkungen des derzeitigen politischen Kurses auseinandersetzen und Alternativen aufzeigen. Damit möglichst viele Bürger wieder in die Mitte der Gesellschaft geholt werden können, Armut kein bedrückendes Thema mehr ist, soziale Sicherungen vor Not, Krankheit und Armut schützen, sich Standes- und Klassendenken nicht weiter ausbreitet, Bildung für jeden unabhängig vom Geldbeutel der Eltern zugänglich ist und gefördert wird und Menschen wieder von ihrer Arbeit leben können.

Anmerkung WL: Vieles was Ottmar Schreiner in seinem Buch geschrieben hat, können wir nur unterstreichen, und über Vieles haben wir auf den NachDenkSeiten über die Jahre selbst schon geschrieben. Die Antwort auf die Frage, wie er mit seiner Kritik und seinen Vorschlägen in der SPD wieder ein Gegengewicht aufbauen oder gar eine Richtungsänderung herbeiführen könnte, muss leider auch er schuldig bleiben.


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