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Titel: Warum der Populismus-Vorwurf ins Leere geht. Eine Rezension

Datum: 8. Februar 2017 um 9:30 Uhr
Rubrik: Audio-Podcast, Erosion der Demokratie, Kampagnen/Tarnworte/Neusprech, Rezensionen
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Udo Brandes hat für die Nachdenkseiten ein neues und hochaktuelles Buch über Populismus gelesen. Autor ist der Soziologe und Dramaturg Bernd Stegemann. Er ist Professor für Dramaturgie an der Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“ in Berlin und seit 2017 auch als Dramaturg für das Berliner Ensemble tätig. Udo Brandes kommt zu dem Ergebnis: Es lohnt sich, dieses Buch zu lesen. Albrecht Müller

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Der Populismus der Angela Merkel

Wie die Neoliberalen die Demokratie zerstören und rechte Parteien und Ideologien fördern

Von Udo Brandes

Populismus – das ist ein politischer Kampfbegriff, der vom Establishment gerne genutzt wird, um unerwünschte politische Meinungen zu diskreditieren und zu stigmatisieren. Man kann diesen Begriff aber auch nutzen, um die neoliberale Ideologie und Strategie zu sezieren. Und genau dies tut Bernd Stegemann in seinem Essay „Das Gespenst des Populismus. Ein Essay zur politischen Dramaturgie“. Stegemann schien

„das Nachdenken über die Eigenartigkeiten des Populismus in den immer gleichen drei Definitionen festzustecken: Er gibt einfache Antworten auf komplexe Probleme, betreibt eine Spaltung von Volk und Elite und behauptet einen direkten Draht zum Volk und zur Wahrheit zu haben.“ (S. 171)

Zugleich sei aber auffällig, wie gut sich der Begriff dazu eigne, im politischen Streit instrumentalisiert zu werden. Sobald die eine Seite z. B. Gefühle von Wut und Enttäuschung aktiviere, töne es von der anderen Seite „Populismus“. Und Stegemann fragt sich:

„Wenn damit das Phänomen erschöpfend beschrieben werden kann, bleibt die Frage, warum er von der liberalen Mitte wie ein Schreckgespenst gefürchtet wird. Denn das alles gehört doch seit jeher zum Handwerk demokratischer Politiker, die für ihre Partei die Mehrheit erringen wollen.“ (S. 171)

In der Tat! Und deshalb nutzt Stegemann für seine Analyse die Begriffsdefinition des Politologen Jan-Werner Müller. Dieser definiert Populismus weder vom Inhalt noch von der Form her, sondern durch die Art und Weise der Begründung. Demnach ist eine Aussage dann populistisch, wenn sie für sich eine Wahrheit beansprucht, die weder demokratisch noch wissenschaftlich begründet ist, sondern die sich aus einem Volkswillen ableitet, der weder überprüft noch bewiesen werden kann.

„Da diese Wahrheit nicht durch Mehrheiten oder wissenschaftliche Methoden bewiesen wird, ist sie auch nicht durch Argumente oder Fakten zu widerlegen. Sie gilt absolut, solange man an einen Volkswillen glaubt, der vom Einzelnen erkannt und verkörpert werden kann.“ (S. 64)

Mit so einer methodischen Begriffsdefinition lassen sich, so Stegemann, politische Aussagen neutraler auf ihren populistischen Gehalt hin untersuchen. Und tatsächlich arbeitet Stegemann prägnant heraus, dass Angela Merkel genauso populistisch agiert wie die von den Liberalen kritisierten rechtsnationalen Politiker. Der Kern ihres (neo)liberalen Populismus besteht darin, dass sie die Parteilichkeit und Interessengebundenheit ihrer Politik erfolgreich verschleiert:

„Schaut man mit dieser Methode etwa auf die Eurorettungspolitik der Bundesregierung seit 2009, so ist sie eindeutig populistisch, da die Bundeskanzlerin ihre Austeritätspolitik als alternativlos bezeichnet hat. Die Folgen dieser Politik sind drastisch und dauern bis heute an: Verarmung der südlichen Euroländer, hohe Arbeitslosigkeit, Altersarmut, zusammenbrechende Gesundheitssysteme, Erstarken radikaler, rechtsnationaler Parteien etc. Dennoch hat die deutsche Regierung sich gegen den ausdrücklichen Willen und gegen die Interessen der anderen Länder durchgesetzt. Begründet wurde sie mit einer höheren Vernunft als der von demokratischen Mehrheiten. Die höhere Vernunft heißt in diesem Fall nicht Volkswille, sondern Marktlogik, und die ist ebenso unerbittlich in ihren Ansprüchen und mindestens so launisch in ihren Forderungen.“ (S. 65)

Regieren wird so zu einem entpolitisierten, administrativen Akt, zu einem Ausführen der Logik des Marktes. In Abwandlung eines berühmten Propaganda-Satzes von Kaiser Wilhelm II. zur Mobilmachung für den 1. Weltkrieg („Ich kenne keine Parteien mehr, sondern nur noch Deutsche“) könnte Angela Merkel auch sagen „Ich kenne keine gegensätzlichen politischen Interessen und Parteien mehr, sondern nur noch Märkte“.

Deshalb halte ich den berühmten kurzen Nebensatz, der ihr bei einem Pressestatement quasi zwischen Tür und Angel herausgerutscht ist, es müsse doch möglich sein, die Demokratie marktkonform zu gestalten, keineswegs nur für einen zufällig unglücklich formulierten Satz. Die Panne bei diesem Satz war nicht der Satz selber, sondern dass sie ihn ausgesprochen hat. Denn damit offenbarte sie, dass sie ein Problem mit Demokratie hat. Griechenland lässt grüßen.

Der neoliberale Populismus von Angela Merkel hat massive Folgen für das politische Klima: Er zerstört den Kern dessen, was demokratische Politik ausmacht. Denn wenn Sachzwänge regieren, ist es nicht mehr möglich demokratisch auszuhandeln, welche Ansprüche und politischen Forderungen legitim sind. Wer gegen die Marktlogik, die präziser mit der Logik des Kapitals bezeichnet ist, politische Forderungen stellt, der wird von den Neoliberalen ob seiner „Unvernunft“ belehrt. Der immer mitschwingende Subtext der „vernünftigen“ und „sachlichen“ neoliberalen Argumentation lautet etwa so:

„Wie egoistisch ihr doch seid! Ihr müsstet doch verstehen, dass wir wettbewerbsfähig sein müssen und dass deshalb schmerzhafte Einschnitte notwendig sind. Wie könnt ihr nur so unvernünftig sein!“

Ein besonders anschauliches Beispiel für diese vermeintlich sachorientierte und unideologische Politik ist etwas älteren Datums, nämlich Gerhard Schröders berühmter Satz im Wahlkampf von 1998: „Es gibt keine linke oder rechte Wirtschaftspolitik, sondern nur eine gute oder schlechte Wirtschaftspolitik.“

Mit dieser Sachzwang-Ideologie wird den Opfern neoliberaler Politik auch noch die Legitimität ihrer Wut über die Verhältnisse abgesprochen. Zumal die neoliberale Ideologie es hervorragend verstanden hat, die politischen Ursachen des Leids der gesellschaftlichen Verlierer als individuelles Problem darzustellen.

Wenn eine Regierung nun auch noch plötzlich die Fürsorge für Flüchtende als politischen Auftrag entdeckt, nachdem sie über Jahrzehnte Entsolidarisierung gepredigt hat, ist es dann verwunderlich, dass eine Partei wie die AFD, die sich nachdrücklich gegen den Dünkel und die moralische Bevormundung durch die liberalen Eliten wendet, massenhaft Zulauf findet?

Stegemann hält die gängigen Antworten des Liberalismus auf ressentimentgeladene rechte Proteste für allzu bequem:

„Die falsche Reaktion besonders kämpferisch gestimmter Eliten greift darum gerne zum forschen Auftreten, das jeden Kontakt vermeiden will, um die Grenzen des Sagbaren nicht zu verschieben oder das Böse salonfähig zu machen. Eine solche Haltung zeugt aber weder von politischem Instinkt noch von humaner Gesinnung, da mit ihr der moralische Anspruch zum Dünkel wird und die anderen zu Menschen zweiter Klasse degradiert werden.“ (S. 68)

Dieser Dünkel Linksliberaler sei auch in der Linkspartei zu finden:

„Wenn Sahra Wagenknecht darauf hinweist, dass mit den Flüchtlingen auch eine Reservearmee auf den Arbeitsmarkt drängt, die gerade die unteren Schichten besonders belastet, wird sie als Populistin ausgegrenzt, was im aktuellen Wortgebrauch immer auch meint: Rechtspopulistin.“ (69)

Linksliberale, die so reagierten und kritische Äußerungen zur Flüchtlingspolitik von Angela Merkel tabuisierten, würden sich letztlich vor den Karren des neoliberalen Kapitalismus spannen lassen und seien quasi der linke Flügel des Neoliberalismus, ohne dies zu bemerken.

Als Beispiel dafür fällt mir die Schriftstellerin Julie Zeh ein, die sich selbst als Linksliberale einordnet, aber bei dieser Bundestagswahl laut einem Bericht von stern.de CDU wählen will, damit Angela Merkel Kanzlerin bleiben kann:

„Lasst uns dieses Mutti-Bollwerk aufrecht erhalten“,

wurde sie vom Stern zitiert.

Um nicht in eine solche Falle zu geraten, müssten Linke die Doppelmoral der Neoliberalen verstehen. Den Neoliberalen bzw. den großen Konzernen gehe es nicht um die Freiheit von Menschen, sondern um einen globalisierten Arbeitsmarkt und möglichst gut qualifizierte, billige Arbeitskräfte. Und hier gebe es deshalb objektiv einen Interessenkonflikt zwischen Einheimischen und Einwanderern. Diesen Konflikt löse man nicht, indem man ihn ignoriere.

Angela Merkel gelang das Kunststück, trotz ihrer antisozialen Politik für links gehalten zu werden (siehe die Reaktion von Julie Zeh). Wie war das möglich? Durch ein Doppelspiel aus linksliberaler Rhetorik und antisozialer Politik meint Stegemann:

„Man sagt europäische Einheit und betreibt eine europäische Austeritätspolitik, die die meisten Mitgliedsländer in eine Schuldenkolonie der deutschen Wirtschaft verwandeln. Man sagt Willkommenskultur und verschiebt das Problem der Migration an die Grenzen Europas, von wo die hässlichen Bilder die moralischen Deutschen weniger erreichen. Man sagt Modernisierung der Gesellschaft und kann dann Streikrechte beschneiden und die Erbschaftssteuer reichenfreundlicher gestalten. Man sagt europäische Solidarität und kann die letzten Schritte der neoliberalen Schockstrategie gegen die griechische Gesellschaft vollziehen. Man zeigt sich als guter Mensch und lässt andere dafür leiden oder die Drecksarbeit machen.“ (S. 91)

Stegemann resümiert, dass die neoliberalen Eliten zu recht in Panik geraten sind (man denke nur an das politische Fakenews-Theater), weil ihre eigene populistische Selbstinszenierung als interessen- und selbstlose Stimme der Vernunft zunehmend nicht mehr funktioniert und ihnen die Macht zu entgleiten droht. Beispiele dafür sind Brexit-Entscheidung der Briten und die Trump-Wahl in den USA.

Welche Konsequenzen lassen sich aus all dem für eine linke Politik ziehen? Linke Politik, so Stegemann, müsse zunächst einmal die Scheu vor Populismus ablegen.

„Nicht jeder wirkungsvolle Antagonismus ist faschistisch und nicht jede einfache Antwort ist falsch.“ (S. 132)

Eine linke Politik müsse die liberalen Eliten und deren Populismus an ihrer empfindlichsten Stelle treffen und deren Doppelmoral entlarven. Dies sei möglich, wenn die so gerne zur Schau gestellte Moral endlich etwas kosten würde. Ein Beispiel dafür sei der Aufstand der reichen Wohlstandsbürger im vornehmen Hamburger Stadtteil Blankenese. Als die Bezirksverwaltung dort ein Flüchtlingswohnheim bauen wollte, war dort plötzlich Schluss mit der Willkommenskultur für Flüchtlinge. Es gab einen regelrechten Aufstand des reichen Besitzbürgertums gegen ein Flüchtlingswohnheim in ihrem Bezirk.

Stegemann empfiehlt weiter:

„Was eine linke Politik hingegen endlich sein lassen sollte, ist das noch lautere Tuten mit der Moraltrompete. Man möchte allen Linken gerne zurufen: Ändert die materiellen Lebensbedingungen, schafft sichere Arbeitsplätze und eine solidarische Gesellschaft, dann beruhigen sich Wut und Verzweiflung. Und hört damit auf, die Armen zu belehren, dass sie sich ebenso moralisch verhalten sollen, wie die Privilegierten. Mit einem Wort: Kämpft für die Armen, indem ihr endlich den Kampf gegen die Reichen und gegen die moralische Propaganda der Liberalen für das Kapital aufnehmt.“ (S. 123)

Was hier besprochen wurde, ist nur ein kleiner Ausschnitt aus einer Fülle interessanter und anregender Gedanken, Beobachtungen und Ideen. Stegemann hat einen sehr klugen Essay geschrieben, mit dem ich mich immer wieder beschäftigen werde. Was mir besonders gefallen hat: Stegemann nimmt kein Blatt vor den Mund. Würde in den Medien so radikal kritisch und ohne Scheuklappen politisch diskutiert, wäre die Demokratie eine höchst spannende und lebendige Angelegenheit und keiner bräuchte sich um sie Sorgen zu machen. Ich kann dieses Buch nur von ganzem Herzen empfehlen. Eines allerdings möchte ich kritisch anmerken: Etwas weniger Intellektuellenjargon (Dispositiv, Postmoderne, Biopolitik etc.) hätte dem Buch gut getan.

Bernd Stegemann: Das Gespenst des Populismus. Ein Essay zur politischen Dramaturgie, Verlag Theater der Zeit 2017, 178 Seiten. Preis: 14,00 Euro.


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