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Titel: „Krise des Westens“ und „Weimar“ – was sollen diese grotesken Übertreibungen?

Datum: 21. November 2017 um 11:30 Uhr
Rubrik: Audio-Podcast, Bundesregierung, Bundestag, Medienkritik, Wahlen
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Jens Berger

Glaubt man Stefan Kornelius von der Süddeutschen, hat Christian Lindners Ausstieg aus den Sondierungsgesprächen eine „Krise des Westens“ ausgelöst. Sein Kollege Markus Schwering bemüht sogar den größten aller möglichen geschichtlichen Vergleiche, spricht von einer „historischen Instabilität“ und erinnert an „Weimar“. Geht es nicht etwas unaufgeregter und leiser? Die alte schwarz-rote Regierung ist geschäftsführend im Amt, verfügt über eine arbeitsfähige Mehrheit im Bundestag und Union und SPD werden aller Voraussicht auch die neue Regierung stellen. Staatskrisen sehen anders aus. Von Jens Berger.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Betrachten wir die Situation doch einmal ganz rational. Bis sich irgendwann einmal eine neue Regierung bildet, bleibt die alte schwarz-rote Regierung geschäftsführend im Amt. Wie es momentan aussieht, wird es im Frühjahr Neuwahlen geben und bis Mai oder Juni sollte sich eine neue Regierung gebildet haben. Kein Grund zur Panik, schließlich ist die geschäftsführende Regierung ja kein zahnloser Tiger. Sie hat die Mehrheit im Bundestag und verfügt sogar im Bundesrat über eine bequeme Mehrheit. Außenminister Gabriel ist in dieser Woche in Bangladesch und verspricht den Rohingya-Flüchtlingen im Namen Deutschlands mehr Hilfe, die Bundesumweltministerin Barbara Hendricks verhandelt im Namen der Bundesrepublik auf dem UN-Klimagipfel in Bonn und selbstverständlich geht auch Angela Merkel nach wie vor ihrem Amt als Bundeskanzlerin nach. Die Exekutive ist voll funktionsfähig und sollte ein amtierender Minister ausfallen, wird die Kanzlerin dem Bundespräsidenten einen Ersatz vorschlagen, den dieser sicher auch ernennen wird. Auch wenn geschäftsführende Bundesregierungen bis dato stets nur wenige Wochen im Einsatz waren und dann durch eine neue reguläre Regierung ersetzt wurden, heißt dies noch lange nicht, dass sie qua Verfassung keine „echten“ Regierungen wären, die in welcher Form auch immer nicht handlungsfähig wären. Die Verfassungsväter waren ja nicht dumm und haben ihre Lehren aus Weimar gezogen.

Nicht ganz so problemlos wäre die Situation freilich, wenn die geschäftsführende Regierung keine Mehrheit im Bundestag hätte. Aber dem ist ja nicht so. Union und SPD verfügen zusammen über 399 der 709 Sitze im Bundestag und damit über eine sehr satte Mehrheit. Der neu konstituierte Bundestag ist keine Behinderung für die Exekutive.

Aber wie sieht es mit der Legislative aus? Ist die nicht eingeschränkt? Nein. Rein theoretisch könnte Schwarz-Rot mit Einwilligung des Bundespräsidenten so weiterregieren, als hätte es gar keine Wahlen gegeben und auch neue Gesetze verabschieden. Wenn es Not tut, könnte nicht nur die geschäftsführende Regierung, sondern auch eine wie auch immer geartete Gruppe von Parlamentariern oder auch der Bundesrat einen Gesetzesentwurf einreichen, über den dann, dem ganz normalen Prozedere folgend, vom Bundestag abgestimmt wird. Der Bundestag als wichtigstes Organ der Legislative ist also alles andere als handlungsunfähig.

Und was für Berlin gilt, gilt unisono für „Europa“ und die „Welt“, um die ja vor allem unsere transatlantischen Kommentatoren auf einmal so viel Sorge haben. Die geschäftsführende Bundesregierung nimmt ihre Aufgaben in den Organen der EU, der Eurogruppe, der NATO, der UNO und allen anderen trans- und internationalen Organisationen selbstverständlich ganz normal weiterhin wahr. In den allermeisten Organisationen hätte es durch die Regierungsumbildung außer neuen Vorgaben aus Berlin ohnehin keine personellen oder strukturellen Änderungen gegeben. Ob Angela Merkel dem Europäischen Rat nun als alte, neue oder geschäftsführende Regierungschefin angehört, spielt überhaupt keine Rolle. Der oft gehörte Satz, Europa sei nun nicht handlungsfähig oder gar instabil, ist schlicht Unsinn.

Noch größerer Unsinn ist freilich der unselige Weimar-Vergleich. In ihrer Spätperiode waren die Organe der Weimarer Republik ja in der Tat faktisch blockiert – durch eine Partei, die die Verfassung samt deren Organe abschaffen wollte und dies ja später auch umgesetzt hat. Im Bundestag sitzt jedoch keine Partei, die ernsthaft das Grundgesetz, die freiheitliche demokratische Grundordnung oder die Organe der Bundesrepublik in Frage stellt oder gar abschaffen will. Frank Walter Steinmeier ist kein greiser Hindenburg und Angela Merkel kein machtloser Franz von Papen. Und vor allem – die Arbeit des Bundestags oder der Bundesregierung ist ja überhaupt nicht blockiert.

Unsere aktuelle „Krise light“ gründet vielmehr auf dem Unwillen einzelner Parteien aus der erweiterten politischen Mitte, die aus rein taktischen Gründen keine Koalitionsgespräche führen wollen. Diese Taktierereien mag man bewerten, wie man will – eine wie auch immer geartete Verfassungskrise stellen sie jedoch ganz sicher nicht dar.

Lesen Sie dazu bitte auch: Albrecht Müller – Gedanken zum Scheitern der Jamaika-Gespräche

Deutschland befindet sich nicht in einer „historischen Instabilität“, sondern in der grotesken Situation, in der einzelne Akteure offenbar das Volk so lange wählen lassen wollen, bis ihnen das Ergebnis passt. Die SPD hätte nach den Wahlen laut dem damaligen Fraktionschef Thomas Oppermann erst ab einem Ergebnis von 23% Koalitionsverhandlungen mit der Union aufgenommen. Man holte aber nur 20,5% und interpretierte diesen kleinen Unterschied noch am Wahlnachmittag vor Schließung der Wahllokale als „fehlenden Wählerauftrag“, der die SPD auf die Oppositionsbank zwingen würde. Nun ja. Verspricht sich die SPD nun etwa durch Neuwahlen mit dem gleichen Spitzenpersonal und ohne neues inhaltliches Konzept, aus der gefühlten Opposition heraus die magische Grenze von 23% zu überqueren? Und sich dann mit fünf oder sechs Abgeordneten mehr und mit stolzer Brust gestärkt als Juniorpartner an Merkels Seite zu positionieren? Derartige Egotrips wird der Wähler sicher nicht tolerieren und die SPD dafür womöglich erst richtig abstrafen.

Und dann? Jamaika dürfte erst einmal tot sein, Schwarz-Grün, Schwarz-Gelb und Rot-Rot-Grün wirken zur Zeit rechnerisch recht ambitioniert, während weitere Bündnisse á la Kongo (Grün-Gelb-Rot-Rot) oder Bahamas (Schwarz-Gelb-Blau) von den Beteiligten komplett ausgeschlossen werden und auch inhaltlich nur schwer vorstellbar sind. Für Minderheitsregierungen – die ja an sich eine interessante Sache wären, da sie die politischen Inhalte in den Mittelpunkt stellen – fehlt Deutschland die politische Kultur und wohl auch die politische Reife. Der beste Ausweg aus dieser neuen Situation besteht wohl darin, dass die SPD sich auch inhaltlich neu aufstellen würde und beispielsweise die neun Punkte beherzigt, die Albrecht Müller gestern vorgestellt hat. Darauf dürfte sich die Union zwar nicht einlassen, bei Neuwahlen gäbe es dann jedoch endlich mal eine echte inhaltliche Alternative, die unsere „Krise light“ schnell beenden dürfte.

Aber diesen Weg will die SPD ja offenbar (noch) nicht gehen. In Belgien hat es 2009 bis 2011 ganze 541 Tage gedauert, bis sich eine neue Regierung gebildet hat und man kann nicht sagen, dass dies die schlechtesten Tage für das Land waren. Aber so lange wird es in Deutschland sicherlich nicht dauern. Oder um es ironisch zu sagen: Freuen wir uns also auf weiteren inhaltsreichen und superspannenden Wahlkampf, aus dem dann Martin Schulz als gestärkter Vizekanzler hervorgeht. Und da wundern sich die „Experten“ über Demokratiemüdigkeit?


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