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Titel: Die Flensburger Kandidatin zum Parteivorsitz der SPD will sich für die Agenda 2010 entschuldigen. Allein das ist ein mutiger und notwendiger Pluspunkt.

Datum: 7. März 2018 um 15:28 Uhr
Rubrik: Agenda 2010, Audio-Podcast, Soziale Gerechtigkeit, SPD
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Albrecht Müller

Jetzt wurde bekannt, Simone Lange wolle sich für „Agenda 2010“ entschuldigen. „Die Agenda habe vielen Menschen geschadet. Sollte sie gewählt werden, will Lange einen Kurswechsel herbeiführen“, berichtet shz.de. Es ist klar, dass dieses Thema alleine einen Parteivorsitz nicht ausmacht. Aber was hat dagegen Andrea Nahles zu bieten? Und außerdem ist die Korrektur der Agenda 2010 eine zentrale Angelegenheit. Sie ist auch die Voraussetzung dafür, Bündnispartner im linken Spektrum des politischen Geschehens zu finden. Hinzu kommt, dass die heute in der SPD führenden Personen im Umgang mit der Agenda 2010 nicht frei sind. Sie sind in vieler Weise damit verfilzt. Auch deshalb ist der Vorstoß von Simone Lange zu begrüßen. Albrecht Müller.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Bevor ich darauf eingehe, hier noch die einschlägigen zehn Zeilen zu den Äußerungen von Frau Lange – die aus meiner Sicht wichtige Äußerung ist von mir gefettet:

„Flensburg | Im Fall ihrer Wahl zur SPD-Bundesvorsitzenden will Simone Lange einen sozialpolitischen Kurswechsel der Partei und eine Reform der Sozialgesetzgebung anstoßen. Massiv kritisierte die Flensburger Oberbürgermeisterin am Montag die zwischen 2003 und 2005 vom damaligen Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) durchgesetzte „Agenda 2010“, die statt des geplanten „Förderns und Forderns“ zu einem System des „Forderns und Sanktionierens“ geworden sei. Die Agenda haben vielen Menschen geschadet. „Als Parteivorsitzende werde ich daher für die hier gemachten Fehler bei den Menschen um Entschuldigung bitten“, sagte Lange.“

Die Verflechtung mit der Agenda 2010

Es gab im Laufe der Debatte über die Agenda 2010 in den vergangenen Jahren gelegentlich die Einsicht, dass diese ein schrecklicher Irrweg war und dass die vielen Niederlagen der SPD wesentlich davon bestimmt waren, dass viele Wählerinnen und Wähler, gerade traditionelle ehrliche Anhänger der SPD, ihre Partei nicht mehr wiedererkannten.

Gegen diese Zweifel sind die Vertreter der Agenda 2010 in der Parteiführung in der Regel mit dem Argument angetreten, die Agenda 2010 habe den wirtschaftlichen Erfolg und den Abbau der Arbeitslosigkeit bewirkt. Das war ein Betrug und Selbstbetrug zugleich. Es war ein Betrug, weil die Arbeitslosigkeit bei weitem nicht so abgebaut wurde, wie behauptet wurde; sie wurde zum Teil durch Änderungen der Statistik und durch sonstige arbeitsmarktpolitische Versteck-Maßnahmen entsorgt.

Es war ein Selbstbetrug, weil darin die Annahme enthalten war, der wirtschaftliche Aufschwung sei auf die Agenda 2010 zurückzuführen. Die SPD-Führung hat wie die Union, die Grünen und die FDP auch weggedrückt und vergessen gemacht, dass der Zuwachs an Wachstum und die Reduzierung der Arbeitslosigkeit zu einem beachtlichen Maße auf extremen Exportüberschüssen und damit auf dem Export von Arbeitslosigkeit beruhte. Statt also in alter und berechtigter SPD-Tradition die Ressourcen in den Ausbau der Infrastruktur zu stecken und damit mehr Menschen zu beschäftigen, hat man diese verlottern lassen und gleichzeitig den europäischen Partnern die Arbeitslosigkeit vor die Tür gekippt. Das war zugleich eine antieuropäische Aktion und ist mitverantwortlich für die schlimmen politischen Entwicklungen in den Ländern des Südens.

Die SPD-Führung hat bei alledem nicht gemerkt, dass die Verknüpfung von wachsendem Wohlstand eines Teils des Volkes und der Agenda 2010 nicht ihr gutgeschrieben wurde, sondern Frau Merkel. Das liegt in der Natur der Sache, weil die der SPD bis dahin nahestehende Wählerschaft in ihrem Bereich ja den ökonomischen Fortschritt nicht so positiv zu spüren bekommen hat wie das Wählerpotenzial von CDU, CSU und FDP. Eine Ausnahme bildet vielleicht die gut ausgebildete und in sicheren Arbeitsverhältnissen verankerte Arbeiterschicht. Aber selbst diese hat den Druck des wachsenden Niedriglohnsektors zu spüren bekommen – spätestens dann, wenn diese Menschen in die fünfziger Jahre kamen.

Wenn die SPD-Führung ihre Partei vor dem totalen Niedergang bewahren will, dann muss sie auf ein personelles Angebot sinnen, das mehr programmatische Breite sichtbar macht und zumindest die Entsorgung der Agenda 2010 mit enthält.

Es ist eine der großen üblichen Täuschungen der SPD-Führungen seit längerer Zeit, nicht zu sehen, dass Volksparteien, wie es die Sozialdemokratie bisher war (und bald nicht mehr sein wird), wenn sich nichts ändert, ein plurales programmatisches Angebot haben müssen, also verschiedene Gruppen ansprechen müssen. Dazu gehören auch jene Menschen, denen es nicht gut geht, jene, die unter der Agenda 2010 bitter zu leiden haben und hatten, und jene, die unter den unsäglichen Rentenreformen von Riester zu leiden haben. Und dann gäbe es weitere Felder, die total unbesetzt sind, die Friedenspolitik zum Beispiel. Also wenn der jetzt amtierende Parteivorstand und der zwischenzeitliche Vorsitzende Scholz ihrer Verantwortung auch nur einigermaßen gerecht werden wollten, dann müssten sie Frau Nahles überzeugen, sozusagen beknien, auf das Amt der Parteivorsitzenden neben dem Amt der Fraktionsvorsitzenden zu verzichten, und dann müssten sie gemeinsam auf die Suche gehen. Vielleicht würden sie mit Simone Lange zumindest eine vernünftige Zwischenlösung finden, wenn ihnen nichts anderes einfällt.


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