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Titel: Die Pervertierung des „europäischen Gedanken“

Datum: 27. März 2018 um 12:25 Uhr
Rubrik: Audio-Podcast, Erosion der Demokratie, Europapolitik, Wertedebatte
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Jens Berger

Deutschland hat den abgesetzten katalanischen Präsidenten Carles Puigdemont festgenommen und wird ihn womöglich sogar nach Spanien ausweisen. Die Zusammenarbeit der europäischen Behörden ist für die deutsche Regierung offenbar ein höheres Gut als der Schutz vor politischer Verfolgung. Wenige Stunden später wies Deutschland vier russische Diplomaten aus. Europa müsse sich nun solidarisch hinter Großbritannien stellen, so die Bundesregierung. Gerade so, als gehöre Russland nicht zu Europa. Wer oder was ist dieses ominöse „Europa“ eigentlich, das von der deutschen Politik immer dann aus dem Hut gekramt wird, wenn man wieder einmal an der Eskalationsschraube dreht? Mit dem Europa, das wir kennen und lieben, hat dieses Europa jedenfalls nichts zu tun. Es ist vielmehr eine Pervertierung des europäischen Gedankens. Von Jens Berger.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Als Deutscher hat man qua Geburt ein differenziertes Verhältnis zu Europa. Die Sünden und Verbrechen der Väter- und Großvätergeneration lasten nun einmal schwer auf uns. Umso erleichterter war ich, als ich als Jugendlicher zum ersten Mal mit einem Interrail-Ticket durch Europa reiste und feststellen konnte, dass die Wunden, die unsere Vorfahren gerissen haben, größtenteils verheilt sind und ich als Deutscher in fast allen Ländern Europas als Freund aufgenommen wurde. Würde mein Sohn heute nach Barcelona, Athen oder Moskau reisen, wäre ihm ein ausnahmslos freundschaftlicher Empfang wohl nicht zu garantieren. Und es ist meine Generation, die verheilt geglaubte Wunden wieder aufreißt. Rücksichtslos trampelt der deutsche Elefant durch den Porzellanladen der Diplomatie und es ist vollkommen klar, dass es unsere Kinder sind, die irgendwann die Scherben wieder aufkehren müssen. Wer soll es denn sonst tun? Wir sind ja mittlerweile kollektiv vermerkelt und merken gar nicht mehr, was wir anrichten.

Europa – das war einmal ein schöner Gedanke. Nach dem mörderischen Jahrhundert der zwei Weltkriege und dem Auflösen eines Gleichgewichts des Schreckens, das Europa durch einen eisernen Vorhang in zwei Teile geteilt hat, standen die Chancen, dass dieser schöne Gedanke einmal Wirklichkeit werden kann, so gut wie nie zuvor. Man hätte nur nationale Egoismen beiseite legen müssen, dann anfangen sollen, zusammen statt stets nur gegeneinander zu arbeiten und – das wird heute klarer denn je – sich nicht von transatlantischen Interessengruppen in einen Konflikt ziehen lassen sollen, der in keinem Punkt die Interessen der Europäer befördert. Diese Chancen wurden vertan. Anstatt zusammenzuwachsen, hat man sich wieder bis an die Zähne bewaffnet, die man wieder einmal in aggressiver Pose bleckt. Wir sind wieder wer und wenn der Russe das nicht von sich aus versteht, müssen wir halt nachhelfen. 75 Jahre nachdem die Rote Armee unserer Überheblichkeit in Stalingrad und im Kursker Bogen einen entscheidenden Dämpfer verpasst hat.

Wirtschaftlich waren wir schon immer die Musterschüler – zumindest in unserem Selbstbild. Aber stimmt das überhaupt? Der europäische Binnenmarkt böte ja die einmalige Gelegenheit, gemeinsamen Wohlstand zu schaffen, der den Völkern Europas ein sorgloses Leben ermöglicht – frei von Ängsten, sei es vor der Zukunft oder vor dem Nachbarn. Unsere Eliten haben sich dagegen entschieden. Anstatt miteinander, streiten wir lieber gegeneinander. Und so konkurriert jeder mit dem anderen. Griechen, Italiener, Deutsche, Finnen und Polen sind heute Konkurrenten und nur wer am konkurrenzfähigsten, also am produktivsten ist, überlebt am Ende. Vorbei der Gedanke des gemeinsamen Wohlstands; die Löhne müssen sinken, der Sozialstaat ist keine Errungenschaft mehr, sondern ein Hindernis. Und Deutschland gibt den Takt vor. Wer nicht mitkommt, bleibt halt auf der Strecke. Der Furor teutonicus kennt keine Gnade. Man spricht deutsch!

Wir sind eben kein Volk der guten Nachbarn, haben aber das Kunststück vollbracht, uns dennoch selbst auf der Seite der „Guten“ zu verorten. Wir begründen jede kleine und große Schweinerei mit „Europa“ und treten dabei die europäische Idee mit Füßen. War der Begriff „Europa“ früher noch klar positiv besetzt, verschwimmt die Bedeutung heute wegen der fortgesetzten Instrumentalisierung „Europas“ für Taten, die so ganz und gar nicht mit dem „europäischen Gedanken“ in Einklang zu bringen sind, immer mehr. Und sogar dieser Bedeutungswandel wird bereits missbraucht. Wer sich heute nämlich gegen den Missbrauch des Begriffs „Europa“ für egoistische, imperiale und aggressive Zwecke zu Wehr setzt, läuft schnell Gefahr, als „antieuropäisch“ verunglimpft zu werden. Und spätestens an dieser Stelle wird die Farce zur Tragödie. Wer sich für das friedliche Zusammenleben der europäischen Völker und den gemeinsamen Wohlstand einsetzt, ist nicht antieuropäisch! Antieuropäisch ist, wer den Namen Europas für eine konfrontative Außen- und Sicherheitspolitik und einen marktliberalen Merkantilismus auf den Bannern führt, der aus Kollegen Wettbewerber und aus Freunden Konkurrenten macht.


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