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Titel: „Putins WM“ bei Anne Will: 4:1 gegen Rebecca Harms

Datum: 4. Juni 2018 um 14:12 Uhr
Rubrik: Außen- und Sicherheitspolitik, Kampagnen/Tarnworte/Neusprech, Medien und Medienanalyse
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Bei Anne Wills jüngster Talkshow zur Frage eines politischen Boykotts der Fußball-WM hatte die Regie eigentlich die Weichen für eine Verdammung Russlands gelegt. Doch diesmal ging die Strategie nicht ganz auf – sogar der mutmaßliche US-Lobbyist Norbert Röttgen rückte von Boykott-Forderungen ab und Edmund Stoiber lief zu unerwarteter Form auf. Am Ende stand die Stürmerin Rebecca Harms ziemlich alleine auf dem Propaganda-Spielfeld. Von Tobias Riegel.

Bereits die Gäste-Auswahl der Anne-Will-Sendung vom Sonntag zum Thema „Putins WM“ haben viele Menschen als Provokation empfunden, wie auch Leser der NachDenkSeiten im Vorfeld angemerkt hatten. Und tatsächlich hätte man noch vor einigen Monaten grob voraussagen können, welchen politischen Drall eine Talkshow erhält, in der Rebecca Harms (Grüne), Norbert Röttgen (CDU), Edmund Stoiber (CSU), Arne Friedrich (Ex-Fußballer) und Gregor Gysi (Linkspartei) über das Verhältnis zu Russland debattieren. Man hätte zu Recht ein munteres Hauen und Stechen der transatlantischen Falken im Verbund mit der Moderatorin gegen Gysi als dem einzigen Opponenten erwartet. Doch dieses Mal stand am Ende der Sendung Rebecca Harms, trotz der treuen Unterstützung durch Anne Will, auf einem ziemlich verlorenen Posten.

Dabei hatte sich die Regie alle Mühe gegeben, einen anti-russischen Tenor zu setzen, gegen den sich Andersdenkende (zusätzlich zu den gegnerischen Diskutanten) erst einmal durchsetzen mussten. Das betraf den Titel („Putins WM – die Welt zu Gast bei Ex-Freunden“), alle Einspiel-Filme und eben die Gästeauswahl, die sich dann jedoch als Bumerang erwies. Trotz dieser gewohnt unfairen Vorbedingungen und obwohl Harms und ihre Extremposition den Rückenwind der Sendungsmacher und die gefühlt längste Redezeit erhielten, haben die Gegner eines politischen WM-Boykotts den Kampf munter aufgenommen – und konnten sich am Ende durchsetzen.

Sogar Norbert Röttgen geht (teilweise) von der anti-russischen Fahne

Die Talkshow offenbarte somit zweierlei: Zum einen die noch starken und hochmotivierten transatlantischen Strukturen, die etwa über Titel, Regie und Gästeauswahl einer TV-Sendung versuchen, ihre Deutungen der Dinge aufrechtzuerhalten. Zum anderen zeigte die Sendung aber auch eine zunehmende Vergeblichkeit, die in Jahren aufgebaute anti-russische Dominanz in der Meinungsmache zu verteidigen. Man konnte am Sonntag förmlich zusehen, wie sich die Risse in der öffentlichen anti-russischen Front vergrößern – mittlerweile auch bei Politikern wie Stoiber oder Prominenten wie dem Ex-Fußballer Friedrich – weil sie keine Angst mehr vor dem Etikett „Putin-Versteher“ zeigen.

Dazu passt auch, dass der transatlantische Hardliner Röttgen sehr überraschend Kreide gefressen hatte und in (relativ) sanften Worten gegen einen politischen Boykott argumentierte. Hier wurde man Zeuge einer erstaunlichen öffentlichen Absetzbewegung eines der härtesten mutmaßlichen US-Lobbyisten von seinen eigenen Positionen. Röttgen kleidete diesen Rückzug zwar in allerlei allgemeines antirussisches Gepolter, doch in der zentralen Frage – Boykott oder nicht – fiel er seiner bisherigen Verbündeten Harms eindeutig in den Rücken. In einem kaum noch nachvollziehbaren Manöver wollte Röttgen den Nicht-Boykott als anti-russische Strategie verkaufen, während er die russische Außenpolitik als gewalttätiger als die der NATO bezeichnete.

Unwidersprochene Propaganda und Hoffnung auf die Rückkehr zur Vernunft

Man kann die (Über-)Betonung eines mutmaßlichen Aufbrechens der anti-russischen Meinungsdominanz, wie es auch hier und hier für manche Leser vielleicht zu hoffnungsvoll beschrieben wird, einerseits als verfrüht oder naiv abtun. Die Entwicklung befindet sich tatsächlich in einer unklaren Phase, in der die Beurteilung des Stands der Erosion der transatlantischen Strukturen weitgehend Mutmaßung ist. Die hier geäußerte „Hoffnung“ bezieht sich übrigens ausschließlich auf ein Ende der über-scharfen anti-russischen Kampagnen. Ein Ende dieser Kampagnen soll keine Ära der Kritiklosigkeit gegenüber Russland einläuten, sondern die gegenseitige Betrachtung Deutschlands und Russlands zurück auf eine rationale Grundlage unter Abzug einer giftigen geopolitischen Propaganda stellen.

Eine zaghafte Entwicklung in der öffentlichen Beurteilung Russlands soll keineswegs kaschieren, dass auch am Sonntag bei Anne Will noch zahlreiche grobe Propaganda-Konstrukte unwidersprochen in den Raum gestellt wurden. So unterstellte Harms, die einen infamen Boykottaufruf gegen die WM gestartet hat, dass angesichts des Falls Skripal und der „Besetzung der Krim“ doch auch die deutsche Mannschaft „verstehen würde“, wenn sie von der deutschen Politik nicht bei ihrem Kampf um die Titelverteidigung unterstützt würde. Dass in der Talk-Runde angesichts solcher teils unbelegter, teils falscher Behauptungen niemand einschritt, kann zweierlei Bedeuten: Gysi und andere, die es besser als Harms wissen, sind sich zum einen bewusst, dass Harms mit dem Anführen des Falls Skripal nur die eigene Glaubwürdigkeit beschmutzt. Zum anderen kennen sie die Gesetze der Talkshow und die Gefahren, die drohen, wenn man in kürzester Zeit und vor laufender Kamera aufwendig installierte Propaganda-Konstrukte zertrümmern soll – und sie verzichteten deshalb aus strategischen Gründen auf den Widerspruch gegen Harms’ Aussagen.

Edmund Stoiber huldigt Willy Brandt

Die größte Überraschung neben Röttgens opportunistischer Sanftheit war die Entschiedenheit Edmund Stoibers: Der bayerische Ex-Ministerpräsident ließ gleich mehrere unerhörte Aussagen verlauten. So bezeichnete er die WM als „das größte Lagerfeuer der Welt“, dessen ausgleichendes Potenzial nicht verschenkt werden dürfe. Er verwies auf die Annäherung der Koreas unter anderem durch die Olympiade von Sotschi. Er zeigte Größe, indem er Willy Brandts Entspannungspolitik als Bedingung für die Wiedervereinigung würdigte: „Diese Politik habe ich heftig bekämpft – das war ein Fehler.“ Es war auch nicht Gregor Gysi, der die historische Dimension und die 27 Millionen russischer Weltkriegstoten ins Spiel brachte, sondern Stoiber. Und er war es, der die durch einen Boykott verursachte Kränkung der russischen Bevölkerung ansprach. Es ist ungewohnt, einen CSU-Politiker so zu loben – vielleicht sehen wir hier aber das Phänomen der Altersmilde, das z.B. auch Heiner Geißler einst teilweise läuterte.

Wer Gregor Gysi schon in Talkshows erlebt hat, kann sich vorstellen, dass die Sendung eine Steilvorlage für ihn war. Gysi bekommt immer wenig Redezeit, aber die nutzte er am Sonntag: Er dekonstruierte in zwei Minuten mit seiner ganzen rhetorischen Klasse die Heuchelei der westlichen Meinungsmache. Und selbst der Fußballer Friedrich bewies nicht nur rhetorisches Talent, sondern auch den Mut, innerhalb seines „unpolitisch-neutralen“ Weltbilds eine Reise der Politiker nach Russland immerhin nicht zu verdammen.

Rebecca Harms in der Defensive

Und so stand es beim Spiel um den WM-Boykott am Ende 4:1 gegen Rebecca Harms, die dadurch einmal mehr die zunehmende Isolation der Grünen in der Russland-Frage symbolisierte. Wenn man noch die jüngsten Äußerungen von Fraktions-Chefin Katrin Göring-Eckardt zur WM hinzuzieht, scheint die Partei momentan nicht aus dieser Sackgasse herausfinden zu wollen.

Zukünftig sollen übrigens „Menschenrechte“ Kriterien der WM-Vergabe sein – und bei diesem Aspekt war sich die Runde einig, dass es unerhört sei, dass das erst jetzt eingeführt wird. Doch die Europäer sollten sich nicht zu früh freuen: Zählen dazu dann auch die Menschenrechte der von westlichen Armeen überfallenen Länder? Würden z.B. bei einer Kandidatur Frankreichs neben der heimischen „freien Presse“ auch die 2011 von der französischen Armee ermordeten Libyer in die Waagschale geworfen?

Der erstaunlichste Aspekt des Abends wurde überhaupt nicht thematisiert, er sagt aber einiges über die strategische Blindheit einer ehemaligen Volkspartei: Eine „wichtige“ Talkshow debattiert das Verhältnis zu Russland – und die SPD hat keinen Vertreter in der Runde.


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