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Titel: Aggressives außenpolitisches Handeln erfolgt oft auf erpresserischen Druck

Datum: 11. Juni 2018 um 8:44 Uhr
Rubrik: Außen- und Sicherheitspolitik, Interviews, Strategien der Meinungsmache, Wirtschaftspolitik und Konjunktur
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Henrik Paulitz

„Es ist schlimm, dass die Öffentlichkeit in Europa offenkundig wieder an den Gedanken eines Krieges gewöhnt werden soll“, sagt Henrik Paulitz im Interview mit den NachDenkSeiten. Der Friedens- und Konfliktforscher warnt davor, das angespannte Verhältnis zwischen Russland und den USA durch die Brille des Ost-West-Konflikts zu betrachten, wie es zur Zeit des Kalten Krieges der Fall war. Paulitz, der Leiter der „Akademie Bergstraße für Ressourcen-, Demokratie- und Friedensforschung“ ist, erläutert, dass es vielmehr darum geht, sich auf die vielschichtigen Interessen aller Beteiligten zu konzentrieren. Die Erwartungen anderer Staaten, wonach Deutschland wieder zu einer militärischen Führungsmacht werden solle, müssten „ins Zentrum der friedenspolitischen Diskussion gerückt“ werden, so Paulitz. Das Interview führte Marcus Klöckner.

„Wenn eine Krise oder Krieg kommt“, lautet der Titel einer Info-Broschüre, die die schwedische Regierung vor kurzem herausgegeben hat. Im vergangenen Jahr wurde auch in Deutschland ein neues „Zivilschutzkonzept“ vorgestellt und der Bevölkerung geraten, dass Haushalte pro Person zwei Liter Wasser für fünf Tage vorrätig haben sollten.
Wie schätzen Sie diese Maßnahmen ein?

Es ist schlimm, dass die Öffentlichkeit in Europa offenkundig wieder an den Gedanken eines Krieges gewöhnt werden soll. In Kriege schlittern Länder nicht hinein, sie werden von langer Hand unter anderem auch ideologisch-propagandistisch vorbereitet.

Wie sehen Sie als Friedensforscher die aktuellen Entwicklungen zwischen West und Ost? Liegt hier tatsächlich Potenzial für einen neuen großen Krieg oder geht der Gedanke zu weit?

Ich wundere mich insbesondere darüber, dass man die Welt nach zwei Jahrzehnten enger Kooperation mit Russland, erinnert sei nur an die lange Phase der G8-Gipfel, urplötzlich wieder durch die alte Kamera einer Ost-West-Konfrontation präsentiert bekommt. Warum akzeptiert man diese Betrachtungsweise so leichtfertig, die ein angebliches Hineinschlittern in einen Krieg plausibel erscheinen lassen würde? Die ganze Debatte bereitet ideologisch den Boden dafür, dass sich am Ende niemand wundern müsste, wenn es zum Äußersten kommt. Auch bietet diese Sichtweise eines Ost-West-Konflikts die Möglichkeit, die tatsächlichen Hintergründe der Kriege im Nahen Osten und in Afrika zu verschleiern. Verantwortung für den Frieden in Europa und in der Welt zu übernehmen, bedeutet daher in erster Linie, die Einordnung der aktuellen Geschehnisse in das Schema eines Ost-West-Konflikts zu überdenken.

Was heißt das? Wie sollte man dann auf den Konflikt zwischen Ost und West blicken?

Der maßgebliche Vorgang, mit dem eine Ost-West-Konfrontation begründet wird, war die Angliederung der Krim an Russland, der Ostukrainekrieg und die offiziell damit begründeten Russland-Sanktionen des Westens. Dazu muss man wissen, dass die Ukraine geplant hatte, eigenes Erdgas zu fördern statt überteuertes Erdgas von Gazprom zu importieren. Mit der Krimkrise und dem Ostukrainekrieg wurde aber genau diese „Energieautonomie-Strategie“ der Ukraine treffsicher vereitelt. Davon profitieren Gazprom bzw. seine Großaktionäre, der russische Staat und die Bank of New York Mellon, also eine Großbank mit Sitz in den USA. Die anschließend verhängten Russland-Sanktionen darf man sich ebenfalls nicht ganz so einfach als „Bestrafung“ Russlands vorstellen: Bei näherer Betrachtung entpuppen sich diese Sanktionen als hoch-selektives Instrument der Ressourcenkontrolle, da sehr spezielle Teilsegmente der Ölförderung sanktioniert wurden. Dieses Knapphalten des Ölangebots wiederum stabilisiert die Öl- und indirekt die Gaspreise, was den Ölmultis und dem russischen Staatshaushalt zugutekommt.

Was wollen Sie damit sagen? Dass die USA und Russland irgendwie doch miteinander klarkommen?

Ich will damit sagen, dass die Situation ziemlich komplex ist. Ein Denken, das sich in einem „Ost-West-Schema“ bewegt, kann diese Situation nicht erfassen. Zwischen den USA und Russland gibt es ja auch eine offene Zusammenarbeit, beispielsweise im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen. Zwar werden medial gerne Szenen präsentiert, wo man sich im Sicherheitsrat gegenseitig blockiert. Jenseits dessen arbeitet man aber im Sicherheitsrat eng zusammen. Ich erinnere beispielhaft an die im vergangenen Jahr einstimmig beschlossenen Sanktionen gegen Nordkorea. Oder daran, dass der russische Präsident Vladimir Putin 2015 in der UNO-Vollversammlung „eine wirklich umfassende Anti-Terror-Koalition“ im Nahen Osten vorgeschlagen hatte, die „ganz verschiedene Kräfte vereinigen“ könne. Die USA und Russland haben 2015 ein Flug-Abkommen unterzeichnet. Auf dieser Grundlage haben amerikanische und russische Kampfjets die Energie-Infrastruktur in Syrien bombardiert. Rex Tillerson, langjähriger ExxonMobil-Chef, sagte als US-Außenminister 2017 unmissverständlich: „Russland ist natürlich Teil unseres Engagements in Syrien.“

Sollte man sich also bei dem Konflikt zwischen Russland und dem Westen eher auf die Interessen der Beteiligten konzentrieren?

Auf jeden Fall. Anstelle der leidenschaftlich geführten Debatte über „gute und böse Staaten“ müssen wir in erster Linie die wirtschaftlichen Interessen von Staaten in den Blick und auch sehr ernst nehmen. Die deutsche Volkswirtschaft würde mit einer Abwanderung der Automobilindustrie massiv getroffen werden. Die russische Volkswirtschaft wiederum ist existenziell abhängig von Energielieferungen unter anderem nach Westeuropa. Der Export von Erdgas und Erdöl macht zwei Drittel aller Ausfuhren des Landes aus. Das sind die Aspekte, die wir betrachten müssen. Durch die aktuellen Debatten über die Automobilindustrie steht die deutsche Politik unter Druck. Russland steht unter Druck, weil für den westeuropäischen Markt seit Jahren konkurrierende Erdgaslieferanten unter anderem aus Nahost und aus Afrika ins Spiel gebracht werden. Solche Szenarien, beispielsweise auch der vor Jahren geplante Ausbau Syriens zu einer „Energiedrehscheibe“ zur Belieferung Westeuropas mit iranischem Erdgas war unter anderem für Russland existenzbedrohend. Staaten, die wirtschaftlich unter Druck gesetzt werden, werden erpressbar. Man kann sie zu einer aggressiven Außenpolitik und nicht zuletzt auch zu militärischen Schritten nötigen.

Gibt es für die Nötigung oder gar Erpressung von Staaten konkrete Hinweise?

Ja. Der russische Außenminister Sergei Lawrow sagte 2012, Russland sei erpresst worden, um im Sicherheitsrat Sanktionen gegen Syrien zu unterstützen. Auch die deutsche Bundesregierung wird seit Jahren massiv unter Druck gesetzt, außenpolitisch eine aggressive Führungsrolle einzunehmen. Die exportabhängige deutsche Wirtschaft sei auf freie Handelswege und Absatzmärkte in aller Welt angewiesen, daher müsse sich Deutschland als militärische Ordnungsmacht in Europa, im Nahen Osten und in Afrika engagieren. Andernfalls seien Wohlstand, Sicherheit und Frieden bedroht. Diese wirtschaftliche Erpressung Deutschlands ist nachlesbar, zum Beispiel in der Studie „Neue Macht Neue Verantwortung“. Rex Tillerson hatte in einer außenpolitischen Grundsatzrede 2017 ganz offen gesagt, man setze andere Staaten unter Druck. Der Direktor des Londoner „Royal Institute of International Affairs“, ein mächtiger Think Tank, der auch unter der Bezeichnung Chatham House bekannt ist, schrieb Anfang 2018: „In aller Welt geraten Regierungschefs unter Druck, oft wider Willen, außenpolitisch aktiver zu werden ..“. Dass Staaten Getriebene sind und aggressives außenpolitisches Handeln vielfach auf erpresserischen Druck hin erfolgt, ist eine Schlüsselerkenntnis, mit der die Debatte über Krieg und Frieden vom Kopf auf die Füße gestellt werden kann.

Wie bewerten Sie das Agieren der Bundesregierung?

Politologen jeglicher Couleur attestieren der Bundesrepublik Deutschland traditionell einen Kurs der „militärischen Zurückhaltung“. Für den Regensburger Professor Stephan Bierling ist Deutschland eine „Vormacht wider Willen“, die militärische Interventionen, wenn überhaupt, dann nur widerwillig mitgetragen habe. Regierung und Parlament hätten bewusst nur wenig unternommen, um die Bundeswehr konzeptionell und materiell für Kampfeinsätze im Ausland auszurüsten. Doch in den vergangenen Jahren hat der Militarisierungs-Druck auf die Bundesregierung enorm zugenommen. Chatham-House-Direktor Robin Niblett trug 2015 entsprechende „internationale Erwartungen“ an die deutsche Bundesregierung heran und betonte, die deutsche Bevölkerung müsse wissen, dass sie keine Wahl habe, als der Weltwirtschaft zu dienen. Von Deutschland werde unter anderem erwartet, dass die Streitkräfte „professionalisiert“ werden.

Seit geraumer Zeit ist immer wieder davon die Rede, dass Deutschland endlich seinen Verteidigungshaushalt erhöhen müsse. Wie nehmen Sie diese Diskussion auf?

Das ist eine der so genannten internationalen Erwartungen an Deutschland. Der Verteidigungshaushalt soll perspektivisch auf 2 Prozent des Bruttoinlandproduktes (BIP) erhöht werden und 20 Prozent davon sollen in die Rüstung fließen. Die deutschen Steuerzahlerinnen und Steuerzahler sollen aber nicht nur eine Aufrüstung in Deutschland bezahlen, sondern sich darüber hinaus auch noch an der Aufrüstung in anderen EU-Staaten beteiligen. Die EU-Kommission legte hierfür den Entwurf eines „Europäischen Verteidigungsfonds“ vor. Die neue deutsche Außenpolitik werde „enorm teuer“, heißt es in Expertenkreisen. Es ist also zu befürchten, dass es zu massiven Aufrüstungen in Europa kommen wird, was den Frieden nicht zuletzt auch auf unserem Kontinent bedroht.

Wie müsste konkret die Politik aussehen, um im Sinnes des Friedens unter den Nationen zu wirken?

Von der Politik muss erwartet werden, dass sie den Kurs der militärischen Zurückhaltung beibehält. An die Gesellschaft geht die Empfehlung, nicht primär nur Regierungen zu kritisieren, sondern vielmehr den erpresserischen Druck, mit dem Regierungen in Ost und West, in Nord und Süd in eine aggressive Außenpolitik und in Kriege getrieben werden. Zudem sollten die internationalen Erwartungen an Deutschland, eine militärische Führungsmacht werden zu sollen, ins Zentrum der friedenspolitischen Diskussion gerückt werden. Dies zu thematisieren, könnte ein Schlüssel dafür sein, den Frieden in Europa zu bewahren.

Lesetipp: Paulitz, Henrik: Anleitung gegen den Krieg – Analysen und Friedenspolitische Übungen. Akademie Bergstraße. Taschenbuch. 2016. 2. Aufl. 2017; Paulitz, Henrik: Kriegsmacht Deutschland? Farbdruck, DIN A4, 102 Seiten. Akademie Bergstraße, 2018


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