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Titel: Nicaragua – Es gibt keine Unschuldigen

Datum: 22. Juni 2018 um 9:21 Uhr
Rubrik: Innere Sicherheit, Länderberichte, Strategien der Meinungsmache
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Die seit vergangenem April anhaltenden Konfrontationen in Nicaragua toben weiter – 100 Tote und kein Ende. Ein regelrechtes Massaker im kaum 6,1 Millionen Menschen zählenden Land zwischen Atlantik und Pazifik, das in kürzester Zeit mehr Opfer forderte als vergleichsweise die Unruhen von 2016 und 2017 in Venezuela mit seinen 31,5 Millionen Einwohnern. Ein Bericht von Frederico Füllgraf.


Apropos “Venezuela”: Findet in Nicaragua eine “Venezolanisierung” der Zustände statt? Der Vergleich ist zulässig:

  • Regierung und Opposition wählten die Gewalt als Mittel der politischen Auseinandersetzung
  • der Ende Mai von der nicaraguanischen Bischofskonferenz moderierte politische Dialog ist, wie in Venezuela, gescheitert
  • beide Lager setzen weiterhin auf Eskalierung
  • der Widerstand gegen Präsident Ortega wird von der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) zur Potenzierung des Konflikts mit Venezuela benutzt
  • der internationale mediale Mainstream hat Partei ergriffen – „Ortega ist schuldig!” – und heizt die Atmosphäre mit Desinformation an

Über die Ursachen des Konflikts gibt es allerdings mindestens zwei Narrative. Zum einen stimmt es bis zu gewissem Grad, dass auch in Nicaragua politische Akteure des Regime Change die angemessene Massenprotestbewegung für lang erprobte Destabilisierungszwecke umzulenken versuchen. Auffällig sind jedenfalls nach den Interventionen der US-Regierung Ronald Reagan – der Iran-Contra-Skandal, ferner der Versuch, die Wahlen von 1984 durch einen parlamentarischen Putsch zu vereiteln und die Finanzierung der anti-sandinistischen Wahlsiegerin von 1989, Violeta Chamorro – seit Beginn des neuen Millenniums die Auftritte der Liberalen Internationalen (dem internationalen Dachverband sogenannter liberaler Parteien) in Honduras und Nicaragua, in denen die Friedrich-Naumann-Stiftung der deutschen FDP eine führende und umstrittene Rolle hat, weshalb ihr Zentralamerika-Beauftragter, Christian Lüth, in Medien als „intruso liberal” („liberaler Eindringling”) geschmäht wurde.

Zum anderen ist die Regierung Ortega auch im Lager traditioneller Sandinisten – darunter renommierter Guerilla-Führerinnen wie Mónica Baltodano – aus vielfältigen Gründen nicht mehr zumutbar. „Hier leisten nicht nur junge Menschen Widerstand, sondern auch Erwachsene, die Alten, die Veteranen der Sandinistischen Revolution. Alle vereint uns ein Ziel. Wir fordern ein Minimum an Möglichkeiten, um angesichts dieser Schande, die seit mehr als 11 Jahren herrscht, Scham und Würde zurückzugewinnen. Zweifeln Sie nicht, mein Herr, dies ist der Kampf für eine genuine Revolution – die Revolution, die Ortega und seine Diener verraten haben, um eine neue Diktatur zu errichten“, schrieb die heutige linke Sozialdemokratin und sandinistische Historikerin Baltodano in ihrer Replik auf einen Artikel des Schweden Achim Rödner (Dos miradas sobre la crisis en Nicaragua – Nodal, 05. Juni 2018).

Gescheiterter Dialog, Eskalierung der Repression und schwere Vorwürfe

Am vergangenen 23. Mai hatte die katholische Bischofskonferenz Nicaraguas angesichts der verhärteten Fronten auf Seiten von Regierung und Opposition, unter Führung der Anwaltsgruppe Alianza Democratica Nicaraguasense (ADN), die Moderierung des politischen Dialogs ausgesetzt. Dreh- und Angelpunkt der Verhandlungen war die von der Regierung geforderte Räumung der “Tranques” (Straßensperren mit Barrikaden), die mit Gewaltanwendung (siehe vermummte und bewaffnete Aktivisten) den landesweiten Verkehr teilweise lahmgelegt und die Güterversorgung blockiert haben und die hauptverantwortlich gemacht wurden für gewalttätiges, bewaffnetes Vorgehen gegen Regierungsanhänger.

Gleichwohl verließ die Kirche während der Verhandlungen mehrmals das vorgeschriebene Skript der neutralen Moderation und schlug sich auf die Seite der Opposition. Dass Kirchenhierarchien bei der Bekräftigung des Demonstrationsrechts tatsächlich den Mut hätten, damit auch das Anrecht auf randalierende und bewaffnete Barrikaden einzufordern, ist ein Auftreten, über das man nur staunen darf.

Umgekehrt machten ADN und Kirche außer der Polizei insbesondere paramilitärische Banden der Regierung, genannt Turbas Sandinistas, für das brutale Vorgehen gegen die Protestbewegung verantwortlich, das nach dem Friedensschwur der Regierung Ortega bereits eine Woche später während eines Aufmarsches der Mütter gefallener Aktivisten mindestens 15 Todesopfer forderte (Al menos 15 muertos en la marcha de las madres en Nicaragua – El País, 31. Mai).

Diese Zwischenfälle zwischen Protestbewegung, Polizei und Turbas zählen zu den gewalttätigsten in der Hauptstadt Managua und erhöhten seit Beginn der Proteste am 18. April die Zahl der Toten auf 98. Während der Vorfälle wurden u.a. Einrichtungen des Radiosenders Radio Ya und einer ländlichen Kreditgenossenschaft verbrannt und die Fassade des nationalen Baseballstadions zerstört. Auch der Oppositionskanal 100% Noticias und die Sendeanlagen des oppositionellen Radiokanals Darío in León wurden angegriffen, berichteten ihre Besitzer.

Die Regierung bestritt ihre Verantwortung für die Gewalttaten. Gesundheitsministerin Sonia Castro bestätigte indes den Tod von 15 Menschen und 199 Verletzten. Mit der Begründung, dass „Menschen weiterhin unterdrückt und getötet werden”, erklärte die katholische Kirche Nicaraguas daraufhin den Dialog zwischen Regierung und Opposition ein für alle Mal für beendet.

Erika Guevara, Amnesty-International-Sprecherin für den amerikanischen Kontinent, erklärte, es gäbe Gründe zu der Annahme, dass die nicaraguanischen Behörden, selbst auf höchster Stufe, eine „oft absichtlich tödliche” Repressionsstrategie umgesetzt und beibehalten haben, die die Zahl der Toten – Stand Ende Mai – auf 83 Opfer erhöht habe. Laut dem am 30. Mai vorgelegten Amnesty-Bericht „wurden Leben nicht nur willkürlich im Kontext von Protest und übermäßiger Gewaltanwendung beraubt …, sondern aufgrund eines beobachteten, sich wiederholenden Musters müsse ferner „eine große Anzahl von Fällen als außergerichtliche Hinrichtungen angesehen werden”.

Dem Bericht zufolge – der mit mindestens 30 Interviews, Fotos und Videos erhärtet wurde – deuteten die Todesursachen darauf hin, „dass die Behörden durch unangemessenen Einsatz von Waffen ungebührliche Gewalt angewendet hätten”. Amnesty International glaubt, so der Bericht, dass die Bürgerwehren, die Nationalpolizei und die Bereitschaftspolizei in einer beträchtlichen Anzahl von Fällen absichtlich getötet haben”. Zu den von der Organisation angeblich gefundenen Beweisen gehören Kopfschüsse, Schüsse in Hals und Brust, ferner mangelnde Behandlung noch lebender Opfer und gar die Behinderung forensischer Untersuchungen.

Zwei Narrative

„Die Studentenproteste in Nicaragua werden in den westlichen Medien als legitime Proteste von jungen Nicaraguanern bezeichnet, die sich spontan zusammengeschlossen haben, um die vermeintliche Diktatur zu bekämpfen. Sicherlich gibt es viele junge Leute, die sich dem Kampf mit diesen Ideen angeschlossen haben. Sicherlich pflichten viele Menschen hier in Schweden diesem Kampf bei. Aber vieles deutet darauf hin, dass es sich nicht nur um spontane Proteste handelt. Es gibt mehrere Anzeichen dafür, dass die von den Vereinigten Staaten geführten Organisationen auf den richtigen Moment gewartet haben, um Chaos zu schaffen und die Widersprüche zu verschärfen, um die demokratisch gewählte Regierung Nicaraguas zu destabilisieren”, kommentierte Achim Rödner auf der Online-Seite des venezolanischen Staatssenders Telesur (Rebellion or Counter-Revolution: Made In US In Nicaragua? – 30. Mai 2018).

Als Beweis für seine These führt Rödner die Aktivitäten des von der ehemaligen US-Außenministerin Madeleine Albright geführten und von einer Phalanx von US-Millionären und transnationalen Konzernen gesponserten National Democratic Institutes und die von CIA und State Department als trojanisches Pferd des Regime Change genutzte staatliche Stiftung National Endowment for Democracy (NED) an. Ab 2015, so Rödner, hätten die USA ihre Aktivitäten in Nicaragua ausgeweitet, insbesondere mit der Förderung von Leadership-Kursen und Geld für junge Aktivisten in Universitäten, Schulen, NGOs und politischen Parteien. Frauen- und feministischen Organisationen, ferner Menschenrechts- und Umweltgruppen wurde Priorität eingeräumt.

Das NDI bestätigt die Angaben auf seiner Website: Um sicherzustellen, dass die nächste Generation von Führern demokratisch und transparent regieren kann, arbeitet das NDI seit 2010 mit nicaraguanischen Universitäten und zivilgesellschaftlichen Organisationen für die Leitung eines Jugendführungsprogramms zusammen, mit dem mehr als 2.000 Jugendleiter vorbereitet wurden … Das NDI hat auch zu Nicaraguas Bemühungen beigetragen, die politische Partizipation von Frauen und Initiativen zum Abbau von Diskriminierung gegen LGBT-Personen zu erhöhen sowie bewährte Verfahren zur Überwachung von Wahlprozessen zu verbessern”.

„Die Situation in Nicaragua ist ernst und ein Dialog für den Frieden ist notwendig. Die Verantwortlichen für die Gewalt, die kriminellen Brandanschläge, die Ausschreitungen, die Zerstörung und die Plünderung müssen sowohl auf Seiten der Demonstranten wie auch auf der Seite der kritischen Elemente, der politischen Gruppen der Jugendlichen und der verantwortlichen Politiker gerichtlich geahndet werden“, schrieb Rödner.

Die Alt-Sandinistin Mónica Baltodano wollte Rödners Narrativ so nicht stehenlassen und konterkarierte. „Herr Rödner scheint nicht sehen zu wollen, dass diese soziale Explosion zunächst gegen eine neoliberale Reform der sozialen Sicherheit und gegen eine Regierung entflammte, die während dieser 11 Jahre vom IWF und der Weltbank sowie von der Regierung der USA längst als ´Vorbild` für seine wirtschaftlichen Erfolge, für sein Bündnis mit dem Großkapital, für seine Erleichterungen – man lese: den Ausverkauf des Landes – an transnationale Konzerne, für die Nicaragua ein Paradies ist, empfohlen worden war. Auch wegen seiner billigen Arbeitskräfte und weil das Großkapital hier nicht für den Rücktransfer seiner Profite besteuert wird. Schließlich auch für den ´tadellosen Dialog´ einer unterdrückerischen Regierung mit seinen Arbeitern. Dies ist ein Land, in dem Streiks verboten oder einfach für illegal erklärt werden, und Arbeiter, die rebellieren, werden ins Gefängnis gesteckt, wie es 7 von ihnen widerfuhr, die immer noch statt in Freiheit im Gefängnis sitzen“ (Rebelión en Nicaragua y las entelequias de Achim Rödner – Nodal, 05. Juni 2018).

„Daniel Ortega war für die USA bisher ein Partner, der von Zeit zu Zeit gerne antiimperialistische Töne anschlägt, der sich in der Praxis jedoch als Verfechter der Politik des Imperiums erwies. Er unterschrieb sowohl die Deregulierung des Handels als auch die Freihandelsabkommen und erwies sich als verlässlicher Anhänger der Einwanderungs- und Sicherheitspolitik der Vereinigten Staaten. In keinem anderen zentralamerikanischen Land hat eine Regierung es gewagt, Migranten zu töten, deren Reiseziel jene Nation des Nordens war. Keine andere Regierung ließ rücksichtslos Tausende von Kubanern, Afrikanern und Südamerikanern an der Grenze zu Costa Rica festnehmen, um sich damit dem Norden anzubiedern, doch Daniel Ortega hatte es getan“, klagt Baltodano an.

„Ich bezweifle nicht, dass der amerikanische Imperialismus in Nicaragua heute wie immer in allen Ländern der Welt operiert, nämlich mit dem Einsatz seiner Agenten zu versuchen, Vorteile aus der Lage zu ziehen, allein auf seine Interessen und auf das Ziel konzentriert, seine Macht zu stärken“, warnt Baltodano. „In all den Jahren war immerhin die Präsenz und das Verhältnis der USA gegenüber der Ortega-Regierung, der sie zahlreiche Projekte finanziert hat, ausgesprochen harmonisch. Projekte der Exekutivmacht und erstaunlicherweise mit der Armee und der Polizei Nicaraguas. Unter dem Vorwand der Drogenbekämpfung hat die Regierung niemals zuvor so viel Geld für die Ausbildung von Offizieren, für den Kauf von Schiffen und Waffen erhalten. Herr Rödner scheint offenbar keine Ahnung zu haben von dem, was in Nicaragua wirklich los ist“, betont die alternde, ehemalige Sandinisten-Guerillera zum Schluss ihrer Abrechnung mit der Ortega-Regierung und ihren Verstehern.


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