Nicaragua – Zwischen substanzarmem Sandinismus und Regime Change

Frederico Füllgraf
Ein Artikel von Frederico Füllgraf

Eine vom Internationalen Währungsfonds (IWF) empfohlene Rentenreform löste in den vergangenen Wochen im mittelamerikanischen Nicaragua Massenproteste aus, die während der Zusammenstöße zwischen gewalttätigen Aktivisten und der Polizei 40 bis 60 Todesopfer forderten. Die von der Breite der Proteste überraschte Regierung der Sandinistischen Befreiungsfront (FSLN) unter Präsident Daniel Ortega nahm Ende April den beabsichtigten Reformplan zurück, die Nationalversammlung berief eine Wahrheitskommission zur Untersuchung der Übergriffe und des massenhaften Totschlags ein. Parallel dazu appellierte Ortega an die katholische Kirchenführung im Lande, sie möge den Dialog zwischen Regierung und Protestbewegung leiten. Ein Bericht von Frederico Füllgraf.

Wie zu erwarten, beeilte sich die Mehrheit der westlichen Medien, über Ortega den bereits gegenüber Venezuelas Nicolás Maduro ausgeteilten politischen Fluch des „Diktators” zu verhängen und im selben Atemzug das „Ende des Sandinismus” zu prophezeien. Bekanntlich sind Prophezeiungen Wunsch-Projektionen, die nicht einkalkulierte Hindernisse verkennen, weshalb US-Vizepräsident Mike Pence vorschlug, lieber radikal reinen Tisch zu machen und zwar mit einem Schlag Nicaragua, Kuba und Venezuela zu „befreien” (Libertar Cuba, Nicarágua e Venezuela é prioridade para EUA, diz Pence – Jornal do Brasil, 02. Mai 2018).

Im Licht des internationalen Rechts und verbindlicher Demokratie-Klauseln im globalen Maßstab muss die von Pence angesteuerte „Befreiung” als unverfrorene Frechheit bezeichnet werden, insbesondere im Gedenken an die einhundertjährige Vorgeschichte der bilateralen Beziehungen mit Nicaragua. Zwischen 1854 und 1927 überfielen die USA mindestens viermal militärisch das kleine zentralamerikanische Land, das sie als einziges in Lateinamerika aus der Luft bombardierten und nach dem Sieg der FSLN, Anfang der 1980-er, mit Söldner-Terror zu destabilisieren versuchten, der im Iran-Contra-Skandal der Regierung Ronald Reagans gipfelte.

Gleichwohl werden Hintergründe und Merkmale der jüngsten Proteste in Nicaragua auf Seiten progressiver Autorinnen und Autoren unterschiedlich interpretiert. Zum einen ist gerade im Vergleich mit der politischen Umfunktionierung der 2013-er Proteste gegen Fahrpreiserhöhungen im brasilianischen São Paulo durch eingeschleuste Agenten rechtsradikaler Stiftungen und NGOs, auch in die Proteste gegen die Rentenreform in Nicaragua, die – wie in São Paulo – von linken Aktivisten begonnen wurden, sehr rasch die aufgesetzte Forderung nach einem Regime Change erkennbar.

Zum anderen werfen breitgestreute soziale Bewegungen wie “Resistencia social de izquierda en defensa de la vida” (Sozialer Widerstand der Linken zur Verteidigung des Lebens) und traditionelle Sandinisten Daniel Ortega mit unakzeptablen Konzessionen an eine neoliberale Wirtschafts- und Sozialpolitik sowie mit Machtbeharren die zunehmende Auszehrung des ursprünglichen sandinistischen Reformprogramms vor. Attraktivstes Spiegelbild einer Tausendschar progressiver Strömungen in Europa nach der kubanischen Revolution sei „Nicaragua nicht länger ein Symbol der Identifikation für die Linke”, erklärte Torge Löding – Vertreter der Rosa-Luxemburg-Stiftung für Mexiko, Mittelamerika und die Karibik – bereits in einem Interview von Anfang 2017 ((“Nicaragua ya no es un símbolo de identificación para la izquierda” – Deutsche Welle, 11.01.2017).

Es stimme zwar, dass es den Menschen unter dem Sandinismo besser gehe, doch der mehrmals amtierende und wiedergewählte Präsident betreibe „Theater”, erklärte Löding. Ortega verwende „antiimperialistische Rhetorik, während der private Sektor gleichzeitig 90 Prozent der Wirtschaft des Landes beherrsche. Der Präsident bietet kein theoretisches Modell, keinen politisch-ideologischen Vorschlag an. Deshalb ist er für die Linke in der Region keine Identifikationsfigur”.

Augusto César Sandinos “Barfuß-Armee” – ein Rückblick

Nachdem die Regierung Nicaraguas 1854 versucht hatte, dem vor Anker liegenden Schiff des US-Millionärs Cornelius Vanderbilt Zollgebühren abzuverlangen, bombardierte und zerstörte die US-Navy den nicaraguanischen Hafen San Juan del Norte. Im Anschluss an den ungeheuerlichen Angriff betrat der notorische US-Outlaw William Walker die nicaraguanische Szene.

Finanziert von den Bankern Morgan und Garrison, marschierte Walker 1855 in Nicaragua ein, ernannte sich selbst zum Präsidenten, kommandierte die Invasion der Nachbarländer El Salvador und Honduras und stellte in den Gebieten unter seiner Herrschaft die Sklaverei wieder her. Mit vereinzelten Rebellen-Gruppen riefen die empörten Nicaraguaner zum Widerstand gegen Walker auf, als die amerikanische Marine 1910 zum zweiten Mal in Nicaragua einmarschierte. Es war die Geburtsstunde der von Augusto César Sandino unter Nicaraguas armer Bauernschaft gegründeten “Barfuß-Armee”.

Mit zunehmendem und erfolgreichem Widerstand der Sandinistas marschierten Truppen der US-Navy 1912 ein drittes Mal in Nicaragua ein und begannen eine Okkupation, die mit größerer und kleinerer Truppenstärke bis 1933 andauerte und 1926 in der Entsendung von 16 Kriegsschiffen und 5.000 Marineinfanteristen zur Sicherung der Machtübernahme durch die Konservative Partei gipfelte. Die bäuerliche Volksarme erhob sich nun gleichermaßen gegen die US-Invasoren und das Regime der Konservativen Partei.

Um 1927 wird Sandino zur Kapitulation aufgerufen, worauf er mit dem Schwur reagiert haben soll: „Ich will die freie Heimat oder den Tod”. Der Widerstand wurde fortgesetzt, worauf die USA wiederum mit dem ersten Luftangriff auf ein lateinamerikanisches Land reagierte, der mehr als 300 Nicaraguaner in den Tod beförderte.

Sechs Jahre später überließen die USA Nicaragua der politischen Kontrolle Anastasio Somoza Garcías und seiner Nationalgarde. Im Jahr darauf, nachdem Augusto César Sandino sich zum Waffenstillstand bereit erklärt hatte, wird er 1934 mit der Komplizenschaft des US-Botschafters Arthur Bliss Lan von der Nationalgarde Somoza Garcías ermordet, die überdies unter den Sandinisten ein Blutbad anrichtet.

Mit wiederholtem Wahlschwindel amtierte Somoza García über zwanzig Jahre als korrupter Machthaber mit der Anhäufung eines beachtlichen Wirtschaftsimperiums, zu dem Teile der Handelsmarine, mehrere Textilfabriken, die Fluggesellschaft LANICA, der private Güterhafen Puerto Somoza an der Pazifikküste und millionenschwere Immobilien in den USA und Kanada gehörten. Somoza García erwartete jedoch das Schicksal der Tyrannen, als er 1956 von dem Dichter Rigoberto López Pérez erschossen wurde.

Sein Sohn, Anastasio Somoza Debayle, übernahm die Macht, von der er erst 1979 von der wiedererwachten und in den 1970-er Jahren von internationalen Freiwilligen-Brigaden unterstützten FSLN gestürzt und ein Jahr darauf im paraguayischem Exil von der argentinischen Guerilla ERP mit einer Panzerfaust und MG-Feuer als Vergeltungsanschlag für Jahrzehnte lange Repression umgebracht wurde.

Der „ausgelaugte” Sandinismus

Daniel Ortega gehört gewiss zu den Comandantes der zweiten Generation des Sandinismus. Doch über sein politisches Verhalten gibt es Kontroversen. Während des sandinistischen Aufstands von 1978 und 1979 gegen Somoza Debayle flüchtete Ortega nach Costa Rica. Als Mitglied der Regierungs-Junta für den Nationalen Wiederaufbau (JGRN) kehrte er 1979 aus Costa Rica in die provisorische Hauptstadt León zurück.

Mit 63 Prozent der Stimmen gewann Ortega die erste reguläre Präsidentschaftswahl nach dem Sturz des blutigen und korrupten Somoza-Regimes. Ortegas erste Amtszeit endete 1990, als die Sandinisten die Wahlen gegen den liberal-konservativen Block unter Führung Violeta Chamorros und ihr breites Bündnis verloren, dessen ideologische Bandbreite von rechten über Mitte-Rechts- bis zu Parteien der Linken reichte. Mit den Präsidentschaftswahlen von 2006 kehrte Ortega an die Macht zurück und übt nach zwei Wiederwahlen (2011 und 2016) sein viertes Regierungsmandat aus, was in den Augen auch linker Kritiker zu viel vom Selben sei.

Ortega treffen unterschiedliche Vorwürfe. Zum einen, dass er zwar Beachtliches für die Bekämpfung der Armut getan, doch gleichzeitig anderthalb Augen vor den Umtrieben der Privatwirtschaft zugedrückt habe. Das gerade 6 Millionen Einwohner zählende Nicaragua gilt mit Honduras seit jeher zu den Armenhäusern Zentralamerikas. Nach offiziellen Angaben sei die allgemeine Armut zwischen 2009 und 2014 von 42,5 Prozent auf 29,6 Prozent um 12,9 Punkte gesunken. Zwei Jahre später soll 2016 der Abbau der allgemeinen Armut auf 24,9 Prozent und die extreme Armut auf 6,9 Prozent gelungen sein; insbesondere mit einer 10-prozentigen Reduktion der ländlichen Armut.

Selbstverständlich gehören nach der Beseitigung des Analphabetismus die Förderung des sozialen Wohnungsbaus, des öffentlichen Bildungssystems sowie das von der brasilianischen Regierung Lula übernommene, ernährungspolitische Programm “Null Hunger” zu den lobenswerten Errungenschaften des Sandinismus. Jedoch die Linke Lateinamerikas verweist auf Kompromisse und Geschäfte der Regierung, die mit dem Geist des Sandinismus kaum noch zu vereinbaren wären.

„Inkubation eines gewissen nicaraguanischen Kapitalismus”

„Was wir meiner Meinung nach sehen, ist der Ausbruch einer während einem Jahrzehnt angesammelten, sehr tiefen sozialen Unzufriedenheit, die eine ganze Reihe von Widersprüchen zwischen der Regierung und den Menschen zur Grundlage hat und als Inkubation eines gewissen nicaraguanischen Kapitalismus verstanden werden kann”, kommentierte der honduranische Sozialforscher, Politiker und häufige Gastautor der venezolanischen Zeitschrift Aporrea, Tomás Andino Mencia (Que pasa en Nicaragua. Explicación desde un enfoque critico de izquierda – KaosenlaRed. 25. april 2018).

Mencia wirft Präsident Daniel Ortega und seiner Ehefrau Rosario Murillo unpopuläre Entscheidungen und autoritäres Auftreten vor und nennt erstaunliche, jedoch von Medien und selbst der kritischen Öffentlichkeit bisher nicht wahrgenommene Hintergründe der Proteste in Nicaragua. Zu den Gründen des zunehmenden Verdrusses gehöre die Baugenehmigung für den mit dem Panama-Kanal konkurrierenden interozeanischen Kanal Nicaraguas durch ein chinesisches Unternehmen. Das 50 Milliarden Dollar schwere Projekt stößt auf breite Unzufriedenheit, weil sich zahlreiche ländliche Gemeinden von Zerstörung und Vertreibung bedroht fühlen und die für die Dauer von 100 Jahren abgetretene Souveränität an das chinesische Unternehmen als Zumutung gewertet wird.

Ferner fühlen sich große Teile der Nicaraguaner von der Expansion des von der Regierung geförderten Bergbaus bedroht, dessen Ausbeutefläche in den jüngsten Jahren um 10 Prozent zugenommen und Konflikte in ländlichen Gebieten geschürt hat, die mit Gewalt unterdrückt worden seien. Dazu kommt der Druck industrieller Monokulturen wie die Ölpalmen-Verarbeitung und der Zuckeranbau sowie die starke Zunahme der Viehzucht, die in erneuter Vertreibung von Kleinbauern und dem gefährlichen Rückgang der Subsistenzwirtschaft gipfeln.

Für großes Unbehagen sorge außerdem die weitverbreitete Korruption von Beamten, die über Nacht zu Millionären mutierten, so zum Beispiel die Großunternehmer Arnoldo Aleman und Orlando Castillo Guerrero; Letztgenannter ein Flughafenmanager, der für Unterschlagungen in Millionenhöhe verantwortlich gemacht wird, jedoch straffrei seine Geschäfte fortsetzt, warnt der Honduraner.

Und hier die entscheidende Erklärung Mencias für den geräuschvollen Widerhall der Proteste in den Medien: „Nach vielen Jahren guter Beziehungen zur Regierung haben plötzlich einflussreiche Unternehmer (vor allem im mächtigen Verband COSEP) Zweifel an der Zweckmäßigkeit der Fortführung der ´Ehe´ mit Ortega-Murillo angemeldet, von der sie über ein Jahrzehnt auf der ganzen Linie profitiert haben, deren Pfründe sie aber zu verlieren befürchten. Den Hintergrund für ihre Zweifel bildet Donald Trumps Nica-Act, der hohe Beamte Nicaraguas mit Sanktionen bestrafen will”. So kam es zum willkommenen Protest gegen die Rentenreform.

Die Rentenreform als fauler Anlass

Rechtspopulisten und Wirtschaftskreise argumentierten, Ortegas Rentenreform werde die Beitragszahler mit 7 Prozent ihres Gehalts und die Rentner mit einer 5-prozentigen Rentenreduzierung bestrafen. In Wirklichkeit sieht die Reform vor, dass die Beiträge zum nicaraguanischen Institut für soziale Sicherheit (INSS) von 6,25 Prozent auf 7,0 Prozent geringfügig anpasst werden sollen. Der Staat, der 0,25 Prozent beisteuert, zahlt seinerseits 1,25 Prozent zum Versicherten-Lohn.

Der Punkt, der den Plan zum Konflikt hochstilisierte, ist der vorgesehene Anstieg des Arbeitgeber-Beitrags von 19 Prozent auf 22,5 Prozent bis 2019. Die von internationalen Medien kolportierte Version von der angeblichen „Kürzung der Renten” war eine vulgäre Lüge, doch somit wurden die naiven Proteste der Studenten zum Rennpferd des opportunen Regime Change umgesattelt.

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