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Titel: Dejà vu – Argentinien in einer wirtschaftlichen und politischen Sackgasse

Datum: 27. September 2018 um 13:55 Uhr
Rubrik: Finanzen und Währung, Länderberichte, Lobbyismus und politische Korruption, Wahlen
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Der Standby-Kredit an Argentinien von 50 Milliarden Dollar ist die größte Rettungsaktion in der Geschichte des IWF, des Internationalen Währungsfonds; und erst gestern erhielt der argentinische Präsident Mauricio Macri eine Zusage von Christine Lagarde über weitere 7 Mrd. Dollar. Ob diese ausreichen, darf bezweifelt werden. Die Inflation ist bei 40 % angelangt, der Peso verliert weiter an Wert, und die gravierendsten Sparmaßnahmen stehen jetzt auf der Tagesordnung: Kürzung von Subventionen, Entlassungen, Haushaltseinschnitte. Das ganze IWF-Programm eben, das bereits in den neunziger Jahren in Argentinien unter der peronistischen Menem-Regierung gescheitert war und danach weiter in Griechenland scheiterte. Von Gaby Weber [*]

Investoren machen einen großen Bogen um das Land, nicht nur weil die USA in dieser Woche erneut die Zinsen erhöht haben. Das Hauptproblem ist politisch. Sie trauen der Macri-Regierung nicht zu, die Lage im Land unter Kontrolle zu bekommen. Die Gewerkschaften mobilisieren und laut Meinungsumfragen hat die frühere Präsidentin und derzeitige Senatorin Cristina Kirchner gute Chancen, die kommenden Wahlen für sich zu entscheiden. Und die ist für die sogenannten „Märkte“ noch weniger vertrauenswürdig. Ein Richter hat Anklage gegen sie als Chefin eines Korruptionsnetzwerkes erhoben; ihre Immunität als Senatorin schützt sie vor Inhaftierung, aber nicht vor den Ermittlungen.

Kirchners wachsende Wahlchancen werden von ihren Parteigängern und Teilen der deutschen Presse als Zustimmung zu ihrer Politik interpretiert und die Korruptionsvorwürfe gegen sie als „politisch motiviert“ herabgespielt. Diese Interpretation ist falsch. In Argentinien zweifelt niemand daran, dass die Kirchners ein riesiges Korruptionsnetzwerk geleitet hatten. Dass heute breite Teile der Bevölkerung wieder die Peronisten wählen würden, hängt mit der Krise zusammen, die Leute sagen, unter Kirchner hatte ich wenigstens genug zu essen.

Ende 2015 hatten die Peronisten die Wahlen verloren, weniger aus wirtschaftlichen Gründen, sondern weil die Leute von der Arroganz und dem Autoritarismus von Cristina Kirchner genug hatten. 12 Jahre lang waren sie und ihr Mann Néstor an der Regierung gewesen. Ihr Wirtschaftsminister Roberto Lavagna hatte nach der großen Finanzkrise das Land wieder halbwegs auf die Beine gebracht. Dann trennte er sich von den Kirchners und kandidierte erfolglos gegen sie.

Kirchner konnte Erfolge vorweisen: die Eröffnung von Strafverfahren gegen Militärs und Polizisten wegen Menschenrechtsverletzungen während der Diktatur (allerdings nicht gegen die zivilen Täter aus der Wirtschaft), den Rausschmiss des IWF und die Rücknahme einiger Privatisierungen (obwohl die Kirchners in den 90er Jahren für die Privatisierungen gestimmt hatten). Am produktiven Modell änderten sie nichts, es entstanden weder eine neue Industrie, Krankenhäuser oder Infrastruktur. Aber sie ließen 20 Millionen Hektar Pampa mit gen-modifizierter Soja bepflanzen und mit Glyphosat überschwemmen. Und allen war klar, dass dieses Modell nur funktionierte, weil jeder, der dort wirtschaftlich tätig sein wollte, hohe Bestechungsgelder an die Kirchner-Struktur (also Familie, Partei und Regierung) abführen musste. Ihr Planungsminister Julio de Vido hieß im Volksmund “señor celular”, also Herr Handy, weil alle Handys in Argentinien mit 15 beginnen. 15 steht für die 15 %, die von einem geplanten Import “abgeführt” wurden. Auch von befreundeten Ländern wie Lulas Brasilien wurden – im Falle des Kaufs von Flugzeugen von Embraer – Schmiergelder gefordert, die über den erhöhten Kaufpreis wieder reingeholt worden. Die US-Börsenaufsicht SEC ermittelte und erließ hohe Bußzahlungen für US-Unternehmen.

Bereits während der Kirchner-Regierung wurde ermittelt, aber die Verfahren wurden regelmäßig eingestellt oder die Vorwürfe waren plötzlich verjährt; auch der Ex-Präsident Menem läuft bis heute, trotz Verurteilung, frei herum.
Vor zwei Jahren wurde José López, einst Nummer Zwei im Planungsministerium, dabei erwischt, als er Säcke voller Dollarscheine über eine Klostermauer warf. Doch der hielt dicht, zunächst. Und auch die von der brasilianischen Justiz übermittelten Unterlagen des brasilianischen Bauunternehmers Odebrecht führten nicht zu einer Verhaftungswelle.
Doch dann tauchten die Hefte von Óscar Centeno auf, von 2005 bis 2015 Fahrer des ehemaligen Staatssekretärs im Planungsministerium, dem Zentrum des Korruptionsnetzwerkes. Darin hielt er fein säuberlich fest, wann er wen mit welchem Schmiergeld wohin gefahren hatte. Die Auswertung dieser Hefte führte zu einer ganzen Reihe von Bauunternehmern, die angesichts der Beweislage vom „Reue-Gesetz“ Gebrauch machten, einer Art Kronzeugenregelung. Der inhaftierte López sagte aus und belastete die Familie Kirchner schwer. Zusätzlich wurden Belohnungen ausgelobt für konkrete Hinweise auf unterschlagene Finanzmittel – der Hinweisgeber erhält einen Teil der gestohlenen Gelder. Inzwischen liegen zahlreiche Zeugenaussagen vor, die beweisen, was alle schon lange wussten: dass man im Kirchner-Staat nur (bau-) unternehmerisch tätig sein konnte, weil man hohe Schmiergelder bezahlte – die am Ende auf den Kaufpreis draufgeschlagen wurden.

Die Macri-Regierung versucht, diese Korruptionsvorwürfe auszunutzen, doch das gelingt nicht wirklich. Auch Mitglieder seiner eigenen Familie haben diese Schmiergelder gezahlt. Und der Zentralbank-Präsident Luis Caputo, der diese Woche von seinem Amt zurückgetreten ist, hatte zweistellige Millionen-Beträge eingesetzt, um von einer der letzten Amtshandlungen Cristinas zu profitieren: dem Future-Geschäft. Kurz vor ihrem Amtsabtritt hatte sie über die Terminbörse in Rosario noch schnell Termin-Kontrakte zum Kauf von Dollars mit Pesos zu einem Kurs angeboten, der weit unter dem international gehandelten lag. Dieses Geschäft spielte dem Staat etwa 6 Milliarden Dollar Verluste ein, die großen Gewinner waren die Banken und, wie erwähnt, Leute wie Caputo. Gegen Cristina Kirchner wird in dieser Sache ermittelt, Caputo kam (bisher) ungeschoren davon.

Die argentinische Linke interessiert sich wenig für diese Korruptionsgeschichten. Zum einen, weil die derzeitige wirtschaftliche Krise zu groß ist. Und zum Anderen, weil für viele Bestechung zum Alltag gehört, man nennt es den “Preis, der an die Politik zu zahlen ist“. Für die normalen Menschen besteht der Unterschied zwischen dem Neoliberalen Macri und der peronistischen Kirchner nicht darin, dass die eine mehr oder der andere weniger korrupt ist. Für die normalen Leute besteht der Unterschied darin, dass bei den Peronisten erfahrungsgemäß ein bestimmter Prozentsatz der Korruption nach unten durchsickert.

[«*] Gaby Weber lebt seit 1986 in Südamerika, seit 2001 in Argentinien.


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