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Titel: „Das Modell Elitendemokratie ist historisch verheerend gescheitert“

Datum: 3. Dezember 2018 um 8:39 Uhr
Rubrik: Aktuelles, Audio-Podcast, Erosion der Demokratie, Interviews, Medienkonzentration, Vermachtung der Medien
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Herrschaft und Macht zu verschleiern, darum geht es in den demokratischen Systemen unserer Zeit. Zu diesem Ergebnis kommt Rainer Mausfeld bei seiner Auseinandersetzung mit Politik und Medien. Die Geschichte habe immer wieder bewiesen, wie real eine unersättliche Gier nach Macht sei, eine Tatsache, die auch heute gelte. Deshalb, so Mausfeld, müsse man auch in unserer gegenwärtigen politischen Situation Macht genau betrachten. Von Marcus Klöckner.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Streng geht Mausfeld mit den Medien ins Gericht. Zwar existiere durchaus ein kritischer politischer Journalismus, allerdings finde dieser dort seine Grenzen, wo die große Weltpolitik stattfinde. „Wenn es um Themen geht, die die Stabilität der Machtzentren gefährden könnten, wird erkennbar, wie tief die Medien in ökonomische und politische Machtstrukturen eingebunden sind“, so Mausfeld. Ein Interview über Schein und Sein der politischen Verhältnisse.

Herr Mausfeld, bei der Auseinandersetzung mit Ihrem Buch fällt auf, dass immer wieder die Begriffe „Herrschaft“, „Herrschaftsstrukturen“ oder „Macht“ auftauchen. In den Medien finden sich diese Begriffe, wenn es um Deutschland geht, hingegen eher selten. Oder?

Das ist eine interessante Beobachtung. Die Kernkategorie alles Politischen, nämlich Macht, kommt in politischen Diskussionen der Leitmedien so gut wie gar nicht vor. Und wenn, dann nur auf eine ziemlich oberflächliche Weise. Über Herrschaft und Macht redet man im Zusammenhang mit unserer Demokratie bzw. unserem „Herrschaftssystem“ einfach nicht mehr. Es soll wohl der Eindruck entstehen, außerhalb des Volkes gäbe es keine Zentren politischer Macht. Also brauchen wir auch nicht darüber zu reden. Dabei ist es in unserer gegenwärtigen politischen Situation besonders wichtig, Macht genau zu betrachten.

Was bedeutet denn Macht?

Macht heißt, dass jemand die Möglichkeit hat, seine Interessen gegen andere durchsetzen zu können und Entscheidungen zu treffen, die ihm zu Gute kommen. Wer Macht hat, kann durchsetzen, was zu seinem Vorteil ist. Macht über andere zu haben bedeutet, andere dem eigenen Willen unterwerfen zu können. Noch einmal: Macht ist die Kernkategorie des Politischen. Und deswegen ist es eigenartig und bemerkenswert, wenn Medien nicht mehr über Macht und Herrschaft reden. Das wäre so, als würde man in einer Akademie für Fische nicht über Wasser reden.

Auf jeden Fall zeigt die Geschichte, dass das Streben nach Macht dazu neigt, unersättlich zu sein. Diese Gier führt uns zu den dunklen Seiten des Menschen, und sie hat im Laufe der Zivilisationsgeschichte gigantische Blutspuren hervorgebracht. In der Zivilisationsentwicklung ging es deshalb darum, Wege zu finden, wie man Macht einhegen kann. Die zentrale Frage lautete und lautet: Wie kann man verhindern, dass eine Gesellschaft so organisiert ist, dass der Stärkere den Schwächeren seinem Willen unterwirft?

Und dabei kommt die Demokratie ins Spiel.

Ja. Wir alle haben ein natürliches Freiheitsbedürfnis. Wir haben einen Widerwillen gegen Zwang. Wir wollen uns nicht dem Willen eines anderen unterwerfen. Dieses Bedürfnis ist die erste Quelle in der Zivilisationsgeschichte, aus der die Demokratie entstanden ist.

Die zweite Quelle ist das Bemühen, den Frieden zu sichern – und zwar den Frieden innerhalb der Nationen, also den sozialen Frieden, sowie den Frieden zwischen den Nationen. Innenpolitisch führt das zur Idee der Demokratie, außenpolitisch zur Idee eines Völkerrechts. Es ging bei diesen Bemühungen stets darum, unterschiedliche Meinungen und Interessen auf friedlichem Weg in Einklang zu bringen.

Das Problem ist, dass diejenigen, die Macht haben, kein Interesse daran haben, ihre Macht abzugeben oder mit jemandem zu teilen.

Das ist im Grunde genommen eine ziemlich banale Erkenntnis.

Das ist in der Tat eine ganz banale und offenkundige Einsicht in das Wesen von Macht – zumindest für diejenigen, die nicht ideologisch vernebelt sind.

Weiter mit Ihren Gedanken zur Demokratie.

Die Lehre aus den Blutspuren der Zivilisationsgeschichte war immer wieder, zu versuchen, Macht einzuhegen.

Nur: Warum sollten die Mächtigen sich überhaupt darauf einlassen, ihre Macht begrenzen zu lassen oder zu teilen? Sie können ja schließlich ihre Macht auch mit physischer Gewalt durchsetzen. Dies ist jedoch mit beträchtlichen Kosten verbunden, so dass man auf eine wirkungsvollere Idee kam. Angesichts unseres natürlichen Bedürfnisses nach Freiheit und Selbstbestimmung und dem daraus resultierenden Druck des Volkes gab man diesem schließlich die Demokratie. Genauer jedoch: Man gab ihm etwas, das oberflächlich und dem Namen nach so aussieht, jedoch so beschaffen ist, dass es den Status und die Interessen herrschender Gruppierungen nicht beeinträchtigt. Die so entstandene Form einer sogenannten Elitendemokratie hat den Vorteil, dass sie Macht und Herrschaft verschleiert und am Ende die Bürger glauben, ihre Wahlentscheidungen seien für die gegenwärtige gesellschaftliche Situation verantwortlich, schließlich haben sie die Regierenden ja selbst gewählt.

Wie gestaltet sich nun die Realität?

Unsere politischen Alltagserfahrungen zeigen zur Genüge, dass die Realität weit von der offiziellen Demokratierhetorik abweicht. Dieses subjektive Erleben hat auch ein solides objektives empirisches Fundament in Erhebungen der Politikwissenschaft – insbesondere die Princeton-Studie der Politologen Martin Gilens und Benjamin Page aus dem Jahr 2014.

Sie hat zum Vorschein gebracht, dass das durchschnittliche Stimmgewicht eines US-amerikanischen Wählers auf politische Entscheidungen praktisch bei null liegt. Das heißt: Es lässt sich in quantitativen empirischen Studien zeigen, wie illusionär in unseren kapitalistischen Elitendemokratien die Vorstellung von echter Demokratie ist. Aus diesem eindeutigen Befund müssen wir endlich angemessene Schlussfolgerungen ziehen, denn immer wieder wird behauptet, dass die Meinung der Bürger, im Einklang mit demokratischen Prinzipien, ein wesentliches Gewicht bei grundlegenden politischen Entscheidungen hätte.

Die Strukturen, mit denen wir es zu tun haben, sind jedoch so gebaut, dass die politischen Präferenzen normaler Bürger nicht in die tatsächlichen Entscheidungsprozesse eingehen. Auch bei uns lässt sich das bei einem Vergleich dieser Entscheidungen mit den in Umfragen erhobenen Präferenzen erkennen. Die politischen Präferenzen der Bürger liegen meist weit links von denen der Regierung. Auslandseinsatz der Bundeswehr? Beziehungen zu Russland? Krieg? Soziale Gerechtigkeit? In zentralen Fragen stellen Volksvertreter und Exekutive oft ganz anders die Weichen, als die Bürger es mehrheitlich wünschen. Faktisch haben also die Bürger, das war ja gerade die Leitidee einer Elitendemokratie, keinen Einfluss, sie sind politisch entmachtet. Wolfgang Schäuble sagte einmal, Wahlen dürften den wirtschaftspolitischen Kurs nicht ändern. Er bringt damit offen zum Ausdruck, wo die tatsächliche Grenze des Einflusses liegt, den Bürger haben.

Natürlich könnten die strukturellen demokratischen Elemente, die in unserem politischen System enthalten sind und in der Tat wichtige demokratische Elemente erkennen lassen, wie etwa Wahlen, durchaus zu einer Re-Demokratisierung genutzt werden. Aber: Derzeit werden diese Elemente neutralisiert und können sich nicht im Sinne einer Demokratisierung der Demokratie entfalten.

Welche Rolle spielen die Medien in diesem System?

Die Leitmedien spielen bei politisch relevanten Themen überwiegend die Rolle, die Herolde früher bei Hofe gespielt haben.

Das ist eine ziemlich harte Aussage.

Natürlich gibt es Ausnahmen, doch sind viele Journalisten so sehr mit den Machtstrukturen identifiziert, dass sie gleichsam als deren Boten agieren. Wenn wir auf die Medien blicken, ist die Situation ähnlich wie bei der Demokratie. Es gibt den Anschein, dass Medien die vierte Säule der Demokratie sind, aber dieser Anschein täuscht über die Realität hinweg. Tatsächlich sind sie in ökonomische und politische Machtstrukturen eingebunden und damit Teil der Kräfte, die demokratische Strukturen zu unterminieren suchen. Das alles ist seit langem bekannt und empirisch gut belegt.

Es gibt doch durchaus einen kritischen politischen Journalismus. Journalisten decken Missstände auf, Medien legen sich mit Politikern an.

Das ist überwiegend ein Trugbild. Man muss nur hartnäckig genug die Oberfläche durchdringen, um dieses Trugbild zu erkennen. Ich will natürlich nicht bestreiten, dass es einen kritischen Journalismus gibt und Journalisten Skandale, auch politische, aufdecken. Aber auch bei diesen journalistischen Glanzleistungen gilt es dennoch, genauer hinzuschauen. Bei allen Fragen, die nicht von hoher politischer Relevanz sind, dürfen Journalisten sich in der Regel austoben und kritisch sein, so viel sie wollen. Aber wenn es um Themen geht, die die Stabilität der Machtzentren gefährden könnten, wird erkennbar, wie tief die Medien in ökonomische und politische Machtstrukturen eingebunden sind. Ob es um die Ukraine, um Russland, um Syrien oder die NATO geht: das ist für Journalisten und Medien vermintes Terrain. Wer als Journalist bei einer großen Zeitung arbeitet und bei Themen wie diesen von der vorherrschenden Sicht – also der Sicht der Herrschenden – abweicht, wird große Probleme bekommen. Um ein Beispiel anzuführen: Die New York Times hat vor einiger Zeit einen großen Bericht darüber gebracht, an wie vielen Morden die US-Special Forces beteiligt waren und wie brutal sie vorgegangen sind. Der Bericht wurde oft als Musterbeispiel zelebriert, das deutlich mache, wie offen und schonungslos in der freiesten Presse der Welt Missstände aufgezeigt würden. Die Botschaft war klar: Für eine grundsätzliche Kritik an der Rolle unserer Medien gibt es eigentlich keinen Anlass.

Nur: Diese Verbrechen wurden von der New York Times in einer solchen Weise berichtet und in einen solchen Kontext eingebunden, dass sie die eigentlichen politischen Verantwortlichkeiten verdeckt haben.

Konkret, was wurde verdeckt? Wie meinen Sie das?

Es ging bei dem New-York-Times-Bericht konkret um die verdeckten Mord-Operationen der Special Forces, insbesondere des geheimnisumwobenen SEAL Team 5, das auch Osama bin Laden ermordete. Die US-Special Forces, die über einen Jahresetat von vielen Milliarden Dollar verfügen, führten, dem Bericht zufolge, überall auf der Welt verdeckte Operationen durch – auch undercover in Rollen als zivile Mitarbeiter. Mittlerweile seien sie zu einer „global manhunting machine“, einer Menschenjagd-Maschine, geworden. Nun ist natürlich verständlich, dass man im Kampf gegen das Böse nicht darauf verzichten kann, auch gelegentlich die zivilisatorischen Samthandschuhe auszuziehen. Leider hätten die Special Forces dabei jedoch etwas über die Stränge geschlagen und „Schlachtfeste an Zivilisten“ durchgeführt. Mit einer solchen interpretativen Einbettung derartig systematisch durchgeführter Morde verdeckt die New York Times nicht nur die politischen Verantwortlichkeiten, sondern sie verdeckt auch die historischen Kontinuitäten, indem sie die berichteten Morde als bedauerliche Einzelfälle erscheinen lässt.

Wie meinen Sie das?

Insgesamt wird der Eindruck erzeugt, dass die Medien ihrer kritischen Rolle als Kontrolleure der Macht gerecht geworden seien. Schließlich haben sie ja über diese schrecklichen Ausnahmeexzesse offen berichtet, doch dürfe man natürlich von solchen Ausnahmefällen nicht darauf schließen, dass die entsprechenden staatlichen Apparate nicht von noblen Absichten getragen seien. Kurz: Trotz solcher scheußlicher und bedauerlicher Einzelfälle stehe im Grund politisch alles bestens.

Das heißt: Das Blatt berichtet zwar journalistisch kritisch über einen großen Skandal, zeigt auf, legt dar, aber die Kritik bewegt sich nur an der Oberfläche, weil die politisch Verantwortlichen nicht in den Vordergrund gerückt werden?

Ja, das ist der Punkt. Eine solche Form der Kritik fördert die gedankliche Fragmentierung, weil sie die Vorgänge aus ihrem eigentlichen Sinnzusammenhang löst. Sie blockiert geradezu unsere Möglichkeiten, angemessene Schlussfolgerungen aus den berichteten Vorgängen zu ziehen. Nach einer kurzen öffentlichen Empörung ist dann auch alles schnell wieder vergessen. Bis zum nächsten bedauerlichen Einzelfall. Mit der Einzelfallrhetorik wird ein Interpretationsrahmen angeboten, der die eigentlich politisch Verantwortlichen gerade verbirgt.

Im Übrigen machte sich die New York Times auch das Argument zu eigen, dass ähnlich wie Drohnenmorde auch die verdeckten Operationen der Special Forces eine sehr effiziente Alternative zu kostspieligen Kriegen seien. Um wirksam zu sein, brauche man dazu nun einmal ein Bollwerk der Geheimhaltung um derartige Mordoperationen. Die New York Times bekräftigt damit die Kultur der Verantwortungslosigkeit, die bereits weite Bereiche der Staatsapparate durchzieht – und der Wirtschaft ohnehin. Die strukturell systematisch erzeugten Formen einer Verantwortungsdiffusion entziehen also weite Bereiche unserer Gesellschaft grundsätzlich jeder demokratischen Kontrolle.

Welche Möglichkeiten haben denn die Bürger, um die Demokratie zu stärken?

Das ist in der Tat eine entscheidende Frage, denn Demokratie muss von unten errungen und kontinuierlich erhalten werden. Eine konkrete Antwort auf diese Frage zu geben, ist schwierig und banal zugleich. Denn natürlich hat jeder von uns in seinem sozialen Lebensbereich eine Vielzahl von Möglichkeiten, einen Beitrag hierzu zu leisten. Zugleich wächst das Gefühl, dass unter den gegenwärtigen Organisationsformen der Macht Veränderungsenergien nicht mehr nach oben wirksam werden, es wächst also ein Gefühl der Aussichtslosigkeit. Dieses Gefühl gezielt zu fördern, war und ist bekanntlich seit jeher ein wichtiger Bestandteil eines Demokratiemanagements. Wir müssen uns also damit auseinandersetzen. Das wird gerade unter den Bedingungen der neoliberalen Globalisierung nicht einfach sein. Und es kann dafür keine allgemeinen einfachen Rezepte geben. Zwar könnte man hier auf Antonio Gramscis Bemerkung verweisen, dass uns auch bei einem Pessimismus des Intellekts der Optimismus des Willens bleibt. Leider hilft das jedoch auch nicht sonderlich, eine konkrete Antwort auf Ihre Frage zu geben. Es hilft jedoch, den Blick darauf zu lenken, dass so oder so die Zukunft unserer Gesellschaft von uns abhängt, von unserer Duldung und unserem Schweigen oder aber von unserem Veränderungswillen.

Ihr Buch zeigt ein Lamm auf dem Titel, das zusammengebunden ist. Warum dieses Bild?

Das Lamm symbolisierte schon in der alten jüdischen Tradition das Tier, das vor seinen Scherern verstummt. Allgemeiner symbolisierte es Unschuld und Ahnungslosigkeit gegenüber bösen Absichten. Im Bereich des politischen Denkens kam, vor allem in der griechischen Tradition, noch die Metapher von Herde und Hirte hinzu. Das Buchcover zeigt ein Bild des spanischen Barockmalers Francisco de Zurbarán. In einem politischen Kontext aktiviert das gefesselte Lamm beim Betrachter vermutlich weitverbreitete Gefühle einer politischen Ohnmacht und eines Ausgeliefertseins – Gefühle, die auch mir gegenüber immer wieder in Gesprächen und Diskussionen zu meinen Vorträgen artikuliert werden. Viele Menschen haben das Gefühl, dass die Politik der neoliberalen Alternativlosigkeit sie und nachfolgende Generationen um ihre Zukunftsplanung betrogen hat. Die neoliberale Transformation der Gesellschaft mit ihrer Ideologie des ‚flexiblen Menschen‘, der seine Fremdverwertbarkeit durch den Markt zu optimieren habe, hat eine tiefe Verunsicherung in der Gesellschaft hervorgebracht. Eine Verunsicherung und soziale Ängste, die – wie vielfach aufgezeigt wurde – gezielt und systematisch erzeugt wurden.

Die Planungssicherheit ist bei vielen Menschen unter dem Neoliberalismus verlorengegangen.

Absolut, nicht zu vergessen die Erhöhung beruflicher Unsicherheit, die Schaffung sozialer Verhältnisse, unter denen viele nicht mehr wissen, wie lange sie sich noch ihre Wohnung leisten können und vieles andere mehr hat natürlich eine massive Auswirkung auf das politische Verhalten und auf die Bereitschaft zu einer politischen Partizipation der Bürger. Soziale Ängste engen den Denkraum auf die Dinge ein, die zur Sicherung der eigenen Existenz notwendig sind.

Sie meinen also, dass unter den gegebenen Umständen viele Bürger einfach gar nicht mehr den Kopf haben, um sich politisch zu engagieren?

Für politische Fragen des Gemeinwohls und damit für Demokratie lässt für viele die gegenwärtige Realität keinen Platz. Im Gegenteil: Abstiegsängste, Gefühle eines sozialen Kontrollverlustes, Ängste, die mit Gefühlen eines Identitätsverlustes und ähnlichem verbunden sind, lassen die Bereitschaft wachsen, Gefühle der Ohnmacht in dunklen menschlichen Kanälen rassistischer und nationalistischer Ressentiments zu entladen. Das Aufblühen des Rechtspopulismus ist also eine direkte Folge der vorhergegangenen Jahrzehnte neoliberaler Politik und Alternativlosigkeit. Zugleich sucht nun die neoliberale ‚Mitte‘ den von ihr beförderten Rechtspopulismus für eine weitere Angsterzeugung zu nutzen, um sich durch eine solche Drohkulisse bei Wahlen zu stabilisieren.

Die systematische Erzeugung von Angst ist ja seit jeher ein wichtiges Herrschaftsinstrument.

Ihre Ausführungen lassen wohl keinen optimistischen Ausblick zu, oder?

Ein realitätsleerer Optimismus mag sich gut anfühlen, kann uns hier jedoch nicht helfen. Gesellschaftlicher Optimismus muss auf Einsicht in die politische Realität gegründet sein und mit einem ernsthaften Veränderungswillen einhergehen. Jedenfalls wird es nicht einfach, diesen Zirkel und die mit ihm verbundenen Ohnmachtsgefühle zu durchbrechen. Historisch waren es häufig gerade zivilisatorische Katastrophen, die die Bereitschaft erhöhten, Macht und ihre Exzesse einzuhegen und grundlegende Änderungen der Gesellschaftsorganisation durchzuführen. Diese Möglichkeit, zur Vernunft zu kommen, ist uns heute wohl versperrt, denn der nächste große Krieg wird vermutlich der letzte sein. Wir müssen uns also auf anderen Wegen zu der Einsicht durchringen, dass das ideologische Modell, auf dem unsere gesellschaftliche Macht- und Gewaltordnung basiert, mindestens genauso gescheitert ist wie das ideologische Modell der damaligen Sowjetunion. Wir haben jetzt seit über 50, ja 100 Jahren eine kapitalistische Elitendemokratie, deren zerstörerische Wirkungen in unserer Gesellschaft und auf dem Planeten mehr und mehr zutage treten. Immer mehr Bürger erkennen oder erahnen dies, andere können oder wollen es nicht sehen und suchen, apathisch oder trotzig, ihren Status quo zu retten, wie mancher Passagier auf der Titanic. Das Modell Elitendemokratie ist jedenfalls, daran kann bei nüchterner Betrachtung wohl kein Zweifel bestehen, in verheerendem Maße historisch gescheitert. Diese Einsicht wird interessanterweise offensichtlich auch von den gegenwärtigen politischen und ökonomischen Zentren der Macht geteilt. Nur dass sie daraus entgegengesetzte Konsequenzen ziehen: Sie verzichten nämlich zunehmend vollends auf eine Demokratierhetorik und bedienen sich lieber einer Sicherheits- und Stabilitätsrhetorik, mit dem Ziel, die Bürger zu einer weiteren Selbstentmündigung zu verleiten, sodass die Widerstände gegen die Errichtung eines autoritären Präventions- und Sicherheitsstaats möglichst gering sind.

Wir stehen also gegenwärtig, was die Gestaltung unserer Gesellschaft angeht und was unsere Zukunft allgemein betrifft, an mehrfachen Scheidewegen: gesellschaftlich, hinsichtlich einer Friedenssicherung sowie ökologisch. In solchen Situationen stellt auch ein Nichthandeln bereits eine Entscheidung dar. Für unser Nichthandeln tragen wir in gleicher Weise Verantwortung wie für unser Handeln. Wie die Zukunft aussehen wird, liegt also in unserer Hand. Möglichkeiten zum politischen Handeln gibt es genug. Wir müssen uns nur entschließen, sie zu ergreifen.


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