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Titel: „Und ich denke, genauso unentbehrlich ist es, die Frage der Kriegsschuld immer wieder anzugehen.“

Datum: 4. Juli 2019 um 8:50 Uhr
Rubrik: Leserbriefe, Militäreinsätze/Kriege, Wertedebatte
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So äußert sich der NachDenkSeiten-Leser Domschke in einem ausführlichen und interessanten Leserbrief. Er hält mein hier formuliertes Votum, sich nicht weiter mit der Kriegsschuldfrage zu beschäftigen, für nicht berechtigt. Wir geben seine Lesermail komplett wieder – genauso wie zwei weitere Leserbriefe. Die Äußerungen zeigen, dass man die Frage, ob es sinnvoll ist, die Kriegsschuldfrage in Bezug auf den Ersten Weltkrieg und Versailles weiter zu debattieren, verschieden beantworten kann. Albrecht Müller.

Leserbrief Nr. 1.

Lieber Albrecht Müller,

“Persönlich halte ich nicht allzu viel davon, sich 100 Jahre später über die Kriegsschuldfrage die Köpfe heiß zu reden. Was ist die Konsequenz, wenn wir heute feststellen, dass anders als in Versailles vereinbart die Deutschen nicht oder nicht allein die Schuldigen am Ersten Weltkrieg sind? Hilft uns das irgendetwas bei der Bewältigung der heutigen Konflikte? Lernen wir daraus für den Umgang mit Russland? Und mit den USA? Und mit Großbritannien? Wie auch immer – im Folgenden finden Sie ein paar Links auf Teile der Debatte von heute und von früher. Und dann auch noch eine kleine Nachbetrachtung anlässlich eines Besuches auf dem Friedhof und Soldatenfriedhof der kleinen französischen Stadt Tréguier in der Bretagne und in Oradour.”

Albrecht Müller.

So beginnen Sie einen kurzen Aufsatz mitsamt einer Schilderung ihrer Eindrücke von Tréguier und Oradour. Und ich stimme völlig mit ihnen überein, wenn sie meinen, dass es unentbehrlich ist, die Schrecken und Gräuel der Kriege in Erinnerung zu behalten.

Es ist unentbehrlich. Und ich wähle mit Bedacht diese absolute Kategorie. Es ist nicht wichtig. Es ist unentbehrlich. Wenn wir nicht wissen, was Krieg ist, warum sollten wir ihn dann vermeiden? Oder gar ganz grundsätzlich ablehnen? Und aus der Vergangenheit können wir das erinnern.

Darum ist es unentbehrlich. Nicht wichtig sondern unentbehrlich. Genauso unentbehrlich, wie die Augen aufzumachen, wenn unsere Soldaten, unsere Armeen, unsere militärischen Geräte (aber auch unsere Kapitalgesellschaften) Mord und Verderben in die Welt tragen. Zum Beispiel mit abgereichertem Uran, was man ganz klar als Terror bezeichnen muss, als Kriegsverbrechen, als Bruch der Genfer Konvention und der UN-Charta, als Verbrechen gegen die Menschlichkeit, und wenn wir so wollen gegen jeden gesunden Menschenverstand. Ganz nebenbei ist es mit Sicherheit illegal, nach völlig normalem deutschem Recht, sowohl mit Blick auf den Umweltschutz als auch auf den Strahlenschutz generell, dieses Materialien gegen Menschen, gegen Infrastruktur einzusetzen, oder auch nur einfach in den Wald zu werfen. Ich muss ihnen das natürlich nicht erklären, sie wissen das, sie haben auf den NDS darüber berichtet, immer wieder.

Es ist unentbehrlich. Denn wichtig könnte man gegeneinander aufrechnen. Wie Kriegsschuld.*

Und – ich mutmaße hier über ihre inneren vielleicht sogar unbewussten Motive – aus den selben Gründen, die dagegen sprechen Kriegsschuld gegeneinander aufzuwiegen, ist es auch abstruß gegeneinander aufzurechnen was wichtiger ist. Es ist einfach unentbehrlich das grauen vergangener Kriege in unserer Erinnerung zu bewahren, und es ist unentbehrlich das Grauen aktueller Kriege offenzulegen. In diesem Geist also ein kleines Dankeschön zwischendurch für ihre Eindrücke aus Frankreich, und für die Erwähnung und verlinkung verschiedener Ansichten zum Thema Versailles allein an dieser Stelle.

Und ich denke genauso unentbehrlich ist es, die Frage der Kriegsschuld immer wieder anzugehen. Auch und gerade als jemand, der explizit Kriegsschuld nicht aufrechnen möchte. Ich möchte ihnen das gerne nahelegen, indem ich versuche ihre Fragen zu beantworten. Denn obwohl diese Fragen in ihrer Einleitung wie rethorische Fragen aussehen, klingen sie für mich, als würden diese Fragen selbst um Antworten flehen. Als wären sie Gräser in der Wüste auf der Suche nach Wasser.

Aber zuerst möchte ich grundlegend auf die Bedeutung von Schuldfragen eingehen. Ihnen persönlich scheint es egal zu sein, wer Schuld hatte. Ich begrüße diese Einstellung sehr, und ich persönlich halte sie für ein starkes Indiz einer, nennen wir es mal vorsichtig ‘gefestigten Persönlichkeit’. Es scheint Charaktere zu geben, wir nennen sie zum Beispiel gefestigt, vielleicht auch integrierte Persönlichkeiten oder auch anders, genau weil sie zum Beispiel auf Schuldfragen nicht ansprechen. Wie der Schäferhund, den es nicht interessiert, ob der Chihuahua, der vorübergeht kläfft, ist es solchen Charakteren völlig einerlei, wer wem wofür die Schuld gibt. Es ist einfach unerheblich.

Dafür kann es verschiedene Gründe geben – manchmal liegt es auch gar nicht am Charakter sondern einfach daran, dass der Schäferhund größer ist. Einerlei warum jemandem das so geht, empfehle ich dankbar zu sein für die Gnade, die das mit sich bringt. Denn im Gegensatz dazu ist ein ‘autoritärer Charakter’ im Zweifel (also wenn sie auf ihn fällt) der Frage nach der Schuld völlig hilf- und schutzlos ausgeliefert. Das gilt aus meiner Sicht insbesondere für solche ‘autoritäre Charaktere’, wie sie Adorno oder Arno Gruen beschrieben haben, als sie sich mit den sozialen und psychologischen Ursachen des Nationalsozialismus auseinander gesetzt haben.

Eine sehr weitreichende Untersuchung dazu wagt David Graeber mit “Schulden – Die Ersten 5000 Jahre”. Auf dem Einband, direkt unter dem Titel prankt ein Zitat von Frank Schirrmacher:

“Jeder Umsturz, jede Revolution beginnt mit Schulden, welche die Gesellschaft nicht mehr bezahlen kann. [..]” – in diesem Fall Schulden, die die Weimaer Republik nicht mehr zahlen kann.

Die Auseinandersetzung die David Graeber wagt ist wirklich umfangreich. Ich möchte gerne eine Passage nahezu vollständig widergeben, weil sie unglaublich aufschlussreich ist, was die Psychologie des Schuldners anbelangt. Da ihre Länge hier aber völlig den Rahmen sprengt verweise ich auf den Anhang hinter die **.

Und wir fragen, oder werden gefragt: Wer ist Schuld am Nationalsozialismus? Und wir erinnern uns, der Nationalsozialismus war ein Umsturz – sogar einer der gewalttägigeren der Geschichte.

Im deutschen Sprachgebrauch ist schon an der Semantik der Wörter Schuld und Schulden ganz klar ersichtlich, wie eng diese beiden Themenkomplexe zusammen hängen. Sie sind einfach untrennbar. Und es reicht ein einziger Blick in die Bestimmungen von Versailles, die diesem Umsturz vorrausging, um zu wissen wie sehr: Es ging um Schuld (am Krieg) und es ging um Schulden (durch den Krieg).

Allein darum ist die Auseinandersetzung über die Schuldfrage ebenfalls unentbehrlich. Nicht einfach wichtig, sondern einfach unentbehrlich in gleicher Weise wie oben. Aus ihrer und meiner Sicht, das möchte ich nachreichen, ist es selbstverständlich die Auseinandersetzung um die Schuldfrage, und nicht ihre Klärung, die unentbehrlich ist. Darüber hinaus müssen wir sie unbedingt auch immer zur Schuldenfrage (jener Zeit) machen. Das ist eine wesentliche Aufgabe der ‘aufgeklärten’ Linken, denn die Autoritären links wie rechts können das einfach nicht. Ihnen ist dieser Ansatz weitgehend unzugänglich. Als Beleg möchte ich gerne das Verhalten aller Bundesregierungen mit Ausnahme der Regierung Brandt anführen, deren (immer wieder ambivalente) Handlungen (Schuld gegenüber Israel als Staatsräson – Merkel – zum Zwecke der Militarisierung des nahen Ostens ja, aber gegenüber KZ-Häftlingen und als Entschädigungen eher nicht) nur vor dem Hintergrund unermeßlicher moralischer Schulden verstanden werden kann. Schuld am ersten Weltkrieg, die sich wandelte in Schulden der Weimaer Republik, dann wieder in Schuld am zweiten Weltkrieg. Für jemanden, der für Schuld empfänglich ist, ist diese Frage einfach zentral.

Im Gegensatz dazu lässt Brandt’s Kniefall in Warschau erstaunlicherweise eine ganz andere Interpretation zu, die sich nicht auf Schuld gründet, sondern ganz wesentlich auf Mitgefühl und Empathie. Natürlich wurde Brandts Verhalten als Schuldeingeständis interpretiert. Von autoritär geprägten Menschen, die in Politik und Medien damals wie heute den Ton angeben. Das ist genau der Punkt – Menschen vom Schlage einer Margareth Thatcher ist Empathie und Mitgefühl schwer zugänglich, weil sie sich selbst gegenüber kein Mitgefühl kennen. Sie kennen ausschließlich die Sprache der Schuld. Das ist todtraurig.

Dies vorweg, bevor ich nun in umgekehrter Reihenfolge ihren Fragen jeweils eine mögliche Antwort gegenüberstellen möchte.

Lernen wir daraus, also aus der Frage nach der Schuld, etwas für den Umgang mit Großbritannien.

Nun, ich würde mit Griechenland beginnen. Immer wieder Griechenland. Den ‘Pleitegriechen’. Den ‘Steuerbetrügern’. Den ‘Korrupten’. Die angeblich selbst ‘schuld’ waren, an ihren ‘Schulden’. Nach einer Geschichte der Besatzung durch fremde europäische Mächte. Nach der Besatzung durch die Nazis – Entschädigung dafür, oder einfach Rückzahlung von Raubgut und Zwangsabgaben, gibt es bis heute nicht. Nach einem Militärputsch als NATO-Staat. Aber sie waren selbst ‘Schuld’. Vor allem die armen, die Rentner und die Jugend, die bis heute unter dem beschönigenden Begriff Jugendarbeitslosigkeit zu leiden hat – zeitweise bis 60%.

Also konnte man ihnen alles abverlangen, um ihre Schulden zu tilgen, oder noch nicht einmal das, weil eigentlich nur die Zinszahlungen aufrecht erhalten wurden. Man vergleiche dies mit dem von Graeber geschilderten Bericht von Kasimir und seinem Vater Friedrich. (siehe Anhang)

Für Großbritannien liegen die Dinge etwas besser. Die Briten sind Vetomacht und Atommacht. Aber es besteht die Gefahr, dass der Austritt aus der EU auf kriminelle Weise ‘von der EU bestimmt’ wird, mit der Begründung, dass die ‘Schuld’ ja bei den Briten läge. Die wollten ja den Austritt.

Nun die Schuld liegt nicht bei den ‘Briten’. Aber die ‘Briten’ werden die Zeche zahlen müssen. Die einfachen Briten wohlgemerkt. Die Armen. Die Arbeiter. Die Dienstleister. Die Lohnabhängig beschäftigten. Unvorstellbar, dass die ‘militärische Integration’ leidet – also die Kriegsindustrie dies- wie jenseits des Kanals und des Atlantiks. Das der Datenaustausch zur Überwachung beeinträchtigt wird. Das die globalen Konzerne verzichten müssen. Aber das könnten wir schon lernen, aus dem Umgang mit Griechenland, aus dem Umgang mit dem deutsch Reich und der Weimaer Republik. Wenn wir erkennen, dass die Schuldfrage ganz wesentlich ist, für autoritätsgläubige Menschen, also Menschen, die grundsätzlich gelernt haben, sich unterzuordnen, oder sich andere unterzuordnen, jenachdem wie die Schuldfrage ‘offenkundig’ liegt.

Für den Umgang mit den USA?

Ist es unerheblich zu wissen, dass die USA den Konflikt mit Russland, bzw. der damaligen Sowjetunion von Anfang an schürten? Dass entscheidende Geldgeber für die NSDAP aus dem amerikanischen Ausland kamen? Dass die USA das 3. Reich mit kriegswichtigen Gütern versorgte, ohne die die deutschen Panzer Stalingrad nie erreicht hätten – ihnen wäre einfach unterwegs der Sprit ausgegangen. Das US-Unternehmen maßgeblich zur Judenvernichtung beitrugen, weil sie unentbehrliche Teile Logistik stellten. Ist das, oder ist das nicht wichtig, für den Umgang mit den USA?

Ist es nicht ganz erheblich, wenn man argumentieren möchte, dass die USA sich ihrer eigenen Verantwortung an und in beiden Weltkriegen stets entzogen haben, unter anderem indem sie die ‘deutsche Alleinschuld’ vorgeschoben haben.

Und für den Umgang mit Russland?

Gerade hier sind die historischen Parallelen von Damals zu Heute so auffällig, dass sich die Frage eigentlich erübrigt. Ich habe oben schon die Geschäftsinteressen der USA erwähnt, hinzu kommen der Antikommunismus nach dem Krieg, und die beiden Atombomben. Sicher, getroffen haben die Atombomben Japan. Unter anderem, weil Deutschland zu früh kapituliert hat, und daher eine Atombombe auf Dresden nicht mehr opportun gewesen wäre. Also traf es zweimal Japan.

Aber gerichtet waren die Bomben niemals gegen Japan oder Deutschland. Sie richteten sich von Anfang an gegen die Sowjetunion, als Drohkulisse für die Nachkriegszeit. So funktioniert Terror immer.

All diese Erkenntnisse sind elementar, und zugänglich sind sie am einfachsten über die Schuldfrage, als Ausgangspunkt für ausführliche historische Betrachtungen. Ich denke damit erübrigt sich dann die Frage, “was ist die Konsequenz, wenn wir heute feststellen, dass anders als in Versailles vereinbart die Deutschen nicht oder nicht allein die Schuldigen am Ersten Weltkrieg sind” sein könnten.

Vielleicht ließe sich noch anmerken, dass Schulden – und damit eben wieder Schuld – das heutige globale Miteinander bestimmen. Und zwar nicht ganz wesentlich sondern völlig allein, als universaler Anspruch und Praxis. Das gesamte Wirtschaftssystem ist ein Schuld(en)system. Die Dominanz der USA basiert seit 1918 auf Schulden, Schuld und nochmals Schulden.***

Vor diesem Hintergrund finde ich es einigermaßen befremdlich, um nicht zu sagen bestürzend, dass sie als einer der Aufgeklärten, als im obigen Sinne ‘gefestigter’ Charakter, nichts davon halten sich mit der Schuldfrage auseinander zu setzen. Ich hoffe ich konnte ihnen einige Anstöße geben diese Haltung zu überdenken, ganz ohne ihre grundlegende Prämisse, dass man Schuld sowieso nicht gegeneinander aufwiegen sollte, in Frage zu stellen. Und auch ohne sie davon abhalten zu wollen, sich mit anderen Aspekten der Vergangenheit auseinanderzusetzen.

Es ist gut das zu tun, so wie sie es tun. Und womit sie sich heute oder morgen auseinandersetzen, bestimmen sie auch ganz allein. Das ist gut so. Aber es braucht auch die Auseinandersetzung um die Frage der Kriegsschuld durch sie oder mich, oder andere die so denken wie wir. Denn wenn wir diese Auseinandersetzung nicht mitgestalten, dann finden die Autoritären, links wie rechts ihre eigenen Antworten, und die führen uns seit 2000 Jahren immer in die selben menschlichen Abgründe:

Krieg gegen die anderen, die ‘wahren Schuldigen’.

heute wehmütig,
Sebastian Domschke

Fußnoten:

* offenbar im Gegensatz übrigens zu Kriegsschulden, die die USA nach dem ersten Weltkrieg nicht gegeneinander aufrechnen konnten/wollten. Was bemerkenswerte Konsequenzen hatte. Ich verweise dazu auf Krieg und Frieden von John Maynard Keynes.

** zitiert aus David Graeber 2012; Schulden – die ersten 5000 Jahre

“Man muss aber nicht so weit entfernt suchen. Da ist zum Beispiel die Geschichte eines weiteren bekannten Schuldners, des Markgrafen Kasimir von Brandenburg-Kulmbach* (1481-1527) aus dem Haus Hohenzollern.

Kasimir war der Sohn des Markgrafen Friedrich II. des Älteren (1460-1536), der als einer der >verrückten Fürsten< der deutschen Renaissance in die Geschichte einging. [..] Einigkeit besteht darin, dass Friedrich sein Geld nicht zusammenhalten könnte. Anfang des Jahres 1515 befand er sich in derart großen finanziellen Nöten - es heißt, er habe Schulden von 200 000 Gulden gehabt -, dass er seinen Gläubigern, die überwiegend Standesgenossen waren, ankündigte, er werde möglicherweise bald gezwungen sein, die Zinszahlungen zeitweise auszusetzen. Damit löste er offenbar eine Vertrauenskrise aus, und nach wenigen Wochen inszenierte sein Sohn Kasimir eine Palastrevolte: Während Friedrich mit den Faschingsbällen beschäftigt war, stürmte er in den frühen Morgenstunden des 26. Februar 1515 die Plassenburg und zwang seinen Vater, eine Abdankungsurkunde zu unterzeichnen. Als Grund wurde geistige Gebrechlickeit angegeben. [..] Kasimir versorgte die Gläubiger seines Vaters mit Vogteien und anderen begehrten Ämtern. Aber es fiel ihm überraschend schwer, seine Finanzen in Ordnung zu bringen. Die Begeisterung, mit der er die Reformen Luthers im Jahr 1521 begrüßte, hatte offenkundig nicht nur mit religiöser Insbrunst, sondern auch mit der Aussicht auf Kirchengüter und Klosterbesitz zu tun. Aber anfangs war die Veräußerung von Kircheneigentum nur eine theoretische Möglichkeit, und Kasimir vergrößerte seine Probleme, indem er selbst ebenfalls Spielschulden anhäufte, die sich angeblich auf fast 50 000 Gulden beliefen. Das er Verwaltungsposten mit seinen Gläubigern besetzte, hatte vorhersehbare Folgen: Die Abgabenlast stieg, und viele seiner Untertanen waren bald ebenfalls hoffnungslos überschuldet. So kann es kaum überraschen, dass Kasimirs Ländereien im fränkischen Taubertal zum Epizentrum der Bauernaufstände von 1525 wurden. Die Bewohner zahlreicher Dörfer bewaffneten sich und erklärten, sie würden keinem Gesetz mehr gehorchen, das >dem heiligen Wort Gottes< widerspreche. Der in den verstreuten Burgen isolierte Adel leistete anfangs kaum Widerstand. Die Rebellenführer, darunter viele Ladenbesitzer, Metzger und angesehene Gemeindemitglieder, begannen einen weitgehend geordneten Feldzug. Die Befestigungen der Herrensitze wurden geschleift; die adeligen Burgherren erhielten Sicherheitsgarantien, sofern sie kooperierten, auf ihre feudalen Privilegien verzichteten und einen Eid auf die Zwölf Artikel der aufständischen Bauern ablegten. Viele fügten sich. Die größte Wut der Aufständischen richtete sich gegen Kirchen und Klöster, die zu Dutzenden geplündert wurden. Kasimir wartete den geeigneten Zeitpunkt für ein Eingreifen ab. Er stellte eine Streitmacht von rund 2000 erfahrenen Söldnern zusammen, weigerte sich jedoch, gegen die Aufständischen vorzugehen, die nahe gelegene Klöster plünderten. Die Rebellenführer glaubten sogar, er wolle sich ihnen >als christlicher Bruder< anschließen. Doch nachdem die Ritter des Schwäbischen Bundes die Aufständischen der Christlichen Vereinigung im Süden besiegt hatten, schaltete sich Kasimir in den Konflikt ein. Seine Truppen rieben undisziplinierte Bauernhaufen auf und zogen wie eine Invasionsarmee plündernd und mordend durch seine eigenen Länder. Er hielt in jeder Ortschaft Strafgerichte ab und ließ sämtliche geplünderten Wertgegenstände beschlagnahmen, um sie selbst zu behalten, während seine Truppen alles Wertvolle, was noch in den Kirchen zu finden war, als >Notkredit< in Besitz nahmen, den er angeblich zur Bezahlung seiner Armee benötigte. Kasimir zögerte länger als alle anderen deutschen Fürsten, in den Konflikt einzugreifen, legte dann jedoch die größte Rachsucht an den Tag. Seine Truppen waren besonders gefürchtet, weil sie nicht nur Aufständische hinrichteten, sondern auch systematisch vermeintlichen Kollaborateuren die Finger abhackten - sein Scharfrichter führte eine grauenhafte Liste der amputierten Körperteile, um später mit seinem Herrn abrechnen zu können -, eine fleischliche Abwandlung jener Hauptbücher, die Kasimir das Leben so schwer gemacht hatten. Einmal befahl Kasimir, 58 Räubern in Kitzingen die Augen auszustechen, weil sie sich geweigert hatten, >ihn als ihren Herrn anzusehen<.[..] Die Repression veranlasste seinen Bruder Georg (der später als >der Fromme< bekannt wurde), Kasimir in einem Brief zu fragen, ob er beabsichtige, ein Handwerk aufzunehmen, und ihn höflich daran zu erinnern, er könne kaum ein Feudalherr bleiben, wenn all seine Bauern tot seien. Angesichts solcher Geschehnisse kann es kaum überraschen, dass Denker wie Thomas Hobbes glaubten, der Grundzustand der menschlichen Gesellschaft sei der Krieg aller gegen alle und nur die absolute Macht des Monarchen könne uns retten. Gleichzeitig verrät Kasimirs Vorgehen, in dem sich eine Grundeinstellung der gewissenlosen, kaltblütigen Berechnung mit Ausbrüchen von beinahe unerklärlicher Rachsucht und Grausamkeit zu vermengen scheint, genau wie das Verhalten von Cortés' wütenden Fußsoldaten, die im Aztekenreich von der Leine gelassen wurden, etwas Grundlegendes über die Psychologie der Verschuldung - oder, um genau zu sein, über den Schuldner, der das Gefühl hat, seine verzweifelte Lage nicht verdient zu haben: Er sieht sich gezwungen, fieberhaft alles, was ihn umgibt, in Geld zu verwandeln, uns ist wütend und empört darüber, dass er so tief gesunken ist."   *** Wie sie sehr genau wissen


Leserbrief Nr. 2

Sehr geehrter Herr Müller,

schon lange schätze ich Ihre Aufklärungsarbeit und möchte mich auch ganz herzlich dafür bedanken.

Zu dem Beitrag” vor 100 Jahren wurde der Versailler Vetrag unterzeichnet usw. ” möchte ich mich jedoch äussern.

Ich bin  nicht Ihrer Meinung, dass es wenig bringt nach100 Jahren darüber noch zu diskutieren. Wenn diese Lügen nicht aufgeklärt werden wird sich unsere Situation niemals ändern. Wir können auch kommende Generationen mit diesen Unwahrheiten nicht zurück lassen. Denn dieser Vertrag hat uns bis heute ins Elend gestürzt.

Außerdem wissen viele Nationen  von diesem Diktat in Versailles. Früher oder später wird man es uns ins Gesicht sagen wie es wirklich war. So kann man das deutsche Volk nicht auflaufen lassen. Allerdings muss man auch ehrlich erkennen, dass die meisten unserer Mitbürger eine Aufklärung nicht wirklich wünschen.!!

Für Ihre weitere Arbeit wünsche ich Ihnen viel Erfolg und uns allen das Durchhaltevermögen doch noch das Recht in Deutschland wieder herzustellen.

Herzliche Grüße

Gerda Keuter


Leserbrief Nr. 3.

Sehr geehrter Herr Müller,

die Frage ist unter welcher Prämisse und in welcher Form die Diskussion um den I. WK sowie den Frieden von Versailles geführt wird.

Wenn der Versailler Vertrag und seine Anlage ein Schlüsselelement im Machtgefüge Europas und der Welt ist sowie dieses Gefüge jetzt auseinanderfällt, dann muß man den I. WK wie den Versailler Vertrag jetzt auf jeden Fall diskutieren. Schuldfragen im Nachhinein zu diskutieren, ist stets ein schlechter Weg.

George Friedman schreibt (ursprünglich) 2011 in The Next Decade über den Zeitraum 2011 bis 2020:

„Während des 20. Jahrhunderts griffen die Vereinigten Staaten dreimal ein, um eine solche russisch-deutsche Entente zu verhindern, die Eurasien vereinen und fundamentale Amerikanische Interessen gefährden könnte. 1917 brachte der separate Frieden Rußlands mit Deutschland einen Umschwung gegenüber den Briten und Franzosen im Ersten Weltkrieg. Im Zweiten Weltkrieg intervenierten die USA, indem sie die Briten und insbesondere die Sowjets versorgten, die die Wehrmacht ausbluteten und die deutsche Übernahme der riesigen russischen Territorien verhinderten. 1944 marschierten die USA in Westeuropa ein; sie blockierten [damit] die Deutschen und genauso die Sowjets. Von 1945 bis 1991 wandten die Vereinigten Staaten enorme Ressourcen auf, um die Sowjets davon abzuhalten, Eurasien zu dominieren.

Die Antwort der Vereinigten Staaten auf eine russisch-deutsche Entente muß während der nächsten zehn Jahre dieselbe sein wie sie im 20. Jahrhundert war.“

Quelle: George Friedman: „The Next Decade”, Seite 132 (Paperback Edition, Anchor Books, January 2012), eigene Übersetzung

Ich faßte die Bedeutung so zusammen (Anhang): “Diese gemäß Friedman notwendige Antwort umfaßt, wie von ihm aufgezählt, siehe oben, massive kriegerische Akte. Das bedeutet, es ist eine sinnvolle Annahme, daß West- und Mittel-Europa, insbesondere Deutschland, sowie Rußland hoch akut auf einem Pulverfaß sitzen.”

Das Buch Friedmans enthält auch einen Angriffsplan gegen Rußland. (Abtrennung Südrußlands und des Nordkaukasus mit Abtrennung des russischen Wolga-Don-Wasserstraßensystems vom Schwarzen Meer und vom Kaspischen Meer, was ich im Anhang auch heraus gearbeitet habe.)

Das ist der Grund, warum es so wichtig ist, die Vorgänge vor 100 Jahren genau zu verstehen – bevor es knallt. Übrigens auch Herr Wimmer weist exakt darauf hin. Und nur ganz am Rande: Die Landkarte des Westbalkans sieht fast wieder genauso aus wie 1914. Nur daß im instabilsten Land des Balkans jetzt einer der größten europäischen US-Luftwaffenstützpunkte liegt. Für den Frieden?

Mit freundlichen Grüßen
Lars Kühl


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