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Titel: Willkommen in der Oberschicht!

Datum: 13. August 2019 um 12:39 Uhr
Rubrik: Audio-Podcast, Lobbyorganisationen und interessengebundene Wissenschaft, Strategien der Meinungsmache, Ungleichheit, Armut, Reichtum
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Wenn man einer aktuellen Studie des wirtschaftsnahen iW und den Begleitartikeln auf zeit.de und SPIEGEL Online Glauben schenkt, muss man tradierte Vorstellungen zur Klassenzugehörigkeit wohl über Bord werfen. Doch wenn Singles ab 3.440 Euro netto und Paare, deren Kinder bereits ausgezogen sind, ab 5.160 Euro netto bereits zur Oberschicht gehören sollen, führt dies eher den Begriff „Oberschicht“ ad absurdum. Sinn und Zweck dieser fragwürdigen Studie ist es wohl eher, der Mittelschicht mit Rechentricks einen sozialen Aufstieg vorzugaukeln, um den ohnehin bereits vorhandenen Abgrenzungsimpuls nach „unten“ zu verstärken. Absurd – die Mittelschicht soll sich also gegen sich selbst abgrenzen. Das freut vor allem die „echte“ Oberschicht. Von Jens Berger.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Keine Frage. Mit 3.440 Euro netto kann man als Single in Deutschland sehr gut leben und 5.160 Euro netto ermöglichen einem Paar, dessen Kinder das Haus bereits verlassen haben, zumindest im ökonomischen Sinn ein sorgenfreies Leben. Sehr viele Menschen träumen von solchen Einkommen. Aber gehört man mit diesem Gehalt bereits zur Oberschicht? Auf 3.508 Euro netto kommt beispielsweise eine alleinstehende bayerische Gymnasiallehrerin (Besoldungsstufe A13 mit 11 Jahren Berufserfahrung, Steuerklasse 1). Ein Hamburger Ingenieur in der Metall- oder Elektroindustrie (EG 10 Flächentarif, Zusatzstufe 1, Steuerklasse 1) kommt ebenfalls mit 3.400 Euro netto in diese Kategorie. Bei Doppelverdienern reicht die „Oberschicht“ nach Definition des iW noch weiter runter. Hier zählt dann schon ein Polizistenpaar im mittleren Dienst (Polizeiobermeister, Besoldungsstufe A8 mit 11 Jahren Berufserfahrung, Steuerklasse 4) mit einem Haushaltsnettoeinkommen von 5.212 Euro zur „Oberschicht“. Spätestens an dieser Stelle sollte klar sein, dass die Statistik samt Definition in den großen Mülleimer mit der Aufschrift „sinnlose Auftragsstudien“ gehört. Aber wie kommt das iW eigentlich auf die Zahlen?

Methodisch gehen die Kölner Ökonomen sogar korrekt vor. Der Datenpool ist das qualitativ gute SOEP des DIW und man geht streng mathematisch vor und setzt die Grenze bei den obersten 10% einer bestimmten sozioökonomischen Gruppe und rechnet dies dann nach der bedarfsgewichteten Äquivalenzskala um. Das hört sich kompliziert an, ist aber korrekt. Problematisch sind jedoch die Schlüsse, die aus diesen Zahlen gezogen werden.

Einkommen ist nicht gleich Einkommen

Wenn Sie zur „Oberschicht“ gemäß der Definition des iW gehören und sich fragen, woher eigentlich die ganzen Porsches und Luxus-SUVs kommen, die man ja eigentlich mit der Oberschicht assoziiert, die aber ihr Budget bei weitem übersteigen würden, sind Sie schon auf den ersten Rechentrick gestoßen. Fast keine dieser „Oberschicht-Karossen“ befindet sich im Eigentum der Privatperson, die sie fährt. Dank des Dienstwagenprivilegs können vor allem Selbstständige ihre Autos dem Betriebsvermögen zuordnen und sämtliche Kosten (Leasing, Reparaturen, Kraftstoff, Versicherung etc.) als Betriebsabgaben verbuchen. Das hat den Vorteil, dass dadurch der zu versteuernde Gewinn sinkt. Und in die Statistik des iW geht nun einmal nur das monetäre Einkommen ein – und dazu zählt in diesem Beispiel der dicke Porsche nun einmal nicht. Solange aber nicht unabhängig von den ohnehin fragwürdigen Regelungen der Steuergesetzgebung alle „geldwerten Vorteile“ berücksichtigt werden, ist es ziemlich sinnlos, hier Vergleiche aufzustellen, wer angeblich wie viel „verdient“.

Denn das Polizistenehepaar hat in der Regel nun einmal keine Möglichkeiten, sein Einkommen kreativ und steueroptimiert kleinzurechnen. Bei der „echten“ Oberschicht sieht dies schon anders aus. Wenn ein „Privatier“ beispielsweise zehn Mehrfamilienhäuser besitzt und nach Abzug der eigentlichen Betriebsausgaben 800.000 Euro Jahresüberschuss hat, von denen er aber 750.000 Euro in die Sanierung seiner Häuser und/oder den Erwerb weiterer Immobilien steckt, beträgt sein Gewinn nur noch 50.000 Euro. Rein rechnerisch ist er also ärmer als das Polizistenehepaar. Betriebswirtschaftlich und steuerlich „optimiert“ könnte er mit der richtigen Beratung übrigens auch mühelos ein „Negativeinkommen“ aus seinen Immobilien generieren, das er dann steuerlich mit anderen Einkünften – z.B. Dividenden aus dem Aktienbesitz – verrechnen kann. So mancher waschechte Angehörige der Oberschicht wird so dank kreativer Buchführung rechnerisch zum „Niedriglöhner“.

Die Datenbasis ist problematisch

Ein weiteres Problem der Studie ist die Datenbasis. Das SOEP des DIW ist zwar qualitativ hochwertig, hat jedoch gerade am oberen Ende der Einkommens- und Vermögensskala riesige Lücken. Das DIW erhebt diese Daten von freiwillig teilnehmenden Haushalten, die an einer Befragung teilnehmen. Eine unabhängige Qualitätssicherung ist nicht möglich und gerade bei „atypischen“ Einkommen gibt es keinen Schutz vor vorsätzlichen oder fahrlässigen Falschangaben. Wer würde einem vom DIW beauftragten Interviewer schon freiwillig Angaben zu Schwarzgeldern oder Einkünften machen, die man beim Finanzamt nicht 100% korrekt angegeben hat?

Das DIW gibt übrigens selbst zu, dass „besonders wohlhabende Personen“ in der Stichprobe des SOEP „faktisch nicht vorkommen“. Bei Vergleichspools wie der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS) werden „statistische Ausreißer“ erst gar nicht ausgewertet. Als Ausreißer gelten übrigens Monatseinkommen ab 18.000 Euro netto. Das mag statistisch ja valide sein. Aber wenn man die Spitzeneinkommen abschneidet, kann man auch keine Aussagen zu einer „Oberschicht“ anhand des Datenrumpfs mehr machen.

Vermögen vs. Einkommen vs. Ausgaben

Es ist ohnehin methodisch fragwürdig, ob man die Zugehörigkeit zur „Oberschicht“ einzig und allein auf das Einkommen beziehen kann. Viel wichtiger ist eigentlich das Vermögen. Wenn ein ehemaliger Lehramtsstudent das Glück hat, verbeamtet zu werden und nach ein paar Jahren Berufserfahrung in der Besoldungsstufe A13 tatsächlich in die „rechnerische Oberschicht“ vorstößt, ist dies isoliert betrachtet wenig aussagekräftig. Dieser Lehrer könnte beispielsweise in München leben und dort einen gehörigen Teil seines Nettoeinkommens für die Miete ausgeben und zusätzlich noch seinen Studienkredit abtragen müssen. Auch dann würde er sicher gut über die Runden kommen, aber ihn zur „Oberschicht“ zu zählen, wäre schon absurd. Gleichzeitig könnte ein anderer Lehrer mit gleichem Einkommen dank einer Erbschaft miet- und schuldenfrei leben und sich einen gehobenen Lebensstandard leisten, wenn sein gesamtes Nettoeinkommen wirklich frei verfügbar ist.

Diese Differenzierung gilt freilich auch für andere Unterschiede in der Lebensplanung. Wenn das vom iW genannte Pärchen sein Häuschen abbezahlt hat, und seine Kinder oder Großkinder nicht unterstützen muss, wird es mit 5.160 Euro netto natürlich sehr gut über die Runden kommen. Wie sieht es aber aus, wenn dieses Pärchen im Speckgürtel von München oder Hamburg gebaut hat, jeden Monat 2.500 Euro Hypothekendarlehen tilgen muss und seine studierenden Kinder finanziell unterstützt? Gehört es dann mit einem real frei verfügbaren Haushaltseinkommen von beispielsweise 1.500 Euro immer noch zur „Oberschicht“? Das Einkommen ist isoliert betrachtet nun einmal kein tauglicher Indikator für eine Zuordnung zur Mittel- oder Oberschicht.

Dank Niedriglohn rutscht die Mittelschicht nach oben

Wie absurd diese Zahlen sind, zeigt ein Blick auf unser Nachbarland Dänemark. Dort beträgt das Nettoeinkommen von Alleinstehenden 2.881 Euro und Paare ohne Kinder kommen im Median sogar auf stolze 6.118 Euro netto pro Monat. Zugespitzt könnte man also sagen, dass jeder zweite Däne in Deutschland zur „Oberschicht“ gehören würde. Das ist natürlich Unfug, zeigt aber vortrefflich, wie schnell diese Zahlen absurd werden, wenn man sie nicht auf Deutschland, sondern auf ein Land mit normaler Lohnentwicklung überträgt.

Das WSI der gewerkschaftsnahen Hans Böckler Stiftung definiert die „Reichtumsgrenze“ bei 200% des bedarfsgewichteten mittleren Nettoeinkommens. Das mag auf den ersten Blick ja sinnvoll klingen, ist es aber nicht. Denn in der Praxis heißt dies, dass die „Reichtumsgrenze“ sich nach unten verschiebt, wenn das mittlere Nettoeinkommen sinkt. Und hier wird es dann vollends paradox, da die Niedriglohnpolitik der letzten Bundesregierungen und die dauerhafte Lohnzurückhaltung der Gewerkschaften somit gleichzeitig immer mehr Haushalte aus der Mittelschicht rechnerisch in die „Oberschicht“ katapultiert hat. Diese Haushalte sind natürlich keinen einzigen Cent reicher geworden. Der Median ist nur so weit gesunken, dass die Abweichung dieser Haushalte vom Mittelwert nun groß genug ist, um sie als „reich“ gelten zu lassen. Das ist absurd und auch das WSI sollte hier einmal die Begrifflichkeiten neu ordnen, will es sich nicht lächerlich machen.

Die Oberschicht weiß gar nichts von ihrem Glück?

Besonders amüsant ist bei der iW-Studie, das sowohl das Institut als auch die gewohnt dümmliche Berichterstattung zur Studie auf zeit.de und SPIEGEL Online sich einen ganz besonderen Spin ausgedacht hat. Die „armen“ Angehörigen der Oberschicht wissen demnach gar nicht, dass sie zur Oberschicht gehören. So schreibt die ZEIT:

„Die Mehrheit der Wohlhabenden sortiert sich selbst eher zur Mittelschicht, allenfalls zur oberen Mittelschicht. Aber kaum jemand sieht sich selbst zur Oberschicht zugehörig. Woran das liegt, darauf findet die Studie keine Antworten. 
Möglicherweise hat das etwas mit den Stereotypen und Vorurteilen von Oberschicht und Reichtum zu tun.“

Auf die Idee, dass „möglicherweise“ auch die Selbsteinschätzung der Menschen richtig und die Zuordnung des iW unsinnig ist, kommen weder ZEIT noch SPIEGEL. Es ist wirklich zum Mäusemelken. Ist es denn wirklich zu viel verlangt, einmal das Gehirn einzuschalten und darüber nachzudenken, was man da schreibt? Wer ein Polizistenpärchen des mittleren Dienstes zur „Oberschicht“ erklärt und sich dann fragt, warum die beiden Beamten sich selbst gar nicht zur Oberschicht zugehörig fühlen, hat schlicht seinen Job verfehlt.

Wozu das Ganze?

Sicherlich haben wir es hier nicht „nur“ mit einer weiteren wirtschaftswissenschaftlichen Nonsense-Studie aus dem Elfenbeinturm zu tun. Der Spin, der Mittelschicht einzureden, sie selbst sei die eigentliche „Oberschicht“, hat durchaus einen Zweck. Denn wer sich selbst zur Oberschicht zählt, hat kein Interesse an einer Umverteilung von oben nach unten und wird sich im Zweifel sogar eher nach unten abgrenzen wollen. Gemäß iW und Co. müssten sich dann also Lehrer, Ingenieure und Polizisten als vermeintliche „Oberschicht“ von einer Politik angesprochen fühlen, die sich an die echte Oberschicht und gegen die Interessen der Mittelschicht richtet, zu der Lehrer, Ingenieure und Polizisten ja eigentlich selbst gehören.

Das ist jedoch nach drei Jahrzehnten neoliberaler Politik und „Lohnzurückhaltung“ so absurd, dass es offenbar noch nicht einmal die Zielgruppe selbst glaubt. Man darf also mit Fug und Recht davon ausgehen, dass wir künftig noch häufiger Zeugen von derart krummen Versuchen werden, eine de facto so nicht vorhandene Oberschicht in der Mitte der Gesellschaft zu verorten.

Aber vielleicht sollten iW, ZEIT und SPIEGEL auch einfach mal einen echten „Experten“ zum Thema befragen. Wie wäre es beispielsweise mit Friedrich Merz? Der zählt sich ja bekanntlich trotz seiner Millioneneinkünfte auch nicht zur Oberschicht, sondern zur „oberen Mittelschicht“. Das führt zur Erkenntnis, dass wir von einer klassenlosen Gesellschaft doch gar nicht mehr so weit entfernt sein können, wenn nun schon Polizisten, Lehrer, Investmentbanker und Wirtschaftsanwälte einer gemeinsamen Schicht angehören. Der Neoliberalismus wirkt. Zumindest in seinem eigenen Märchen.

Titelbild: OPOLJA/shutterstock.com


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