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Titel: Alle Räder stehen still…

Datum: 9. Dezember 2019 um 9:00 Uhr
Rubrik: Audio-Podcast, Gewerkschaften, Länderberichte, Rente, Soziale Gerechtigkeit
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wenn dein starker Arm es will. Schon jetzt kann man die Streikaktionen der französischen Gewerkschaften als Erfolg bezeichnen. Fast alle machen mit. Manche Organisationen mussten zwar fast zum Streik getragen werden, aber wegen der allgemeinen Unzufriedenheit unter der Bevölkerung und der massiven Streikbereitschaft ihrer Mitglieder konnten die Gewerkschaftsführer sich dem Druck nicht entziehen. Am 16. Oktober unterzeichneten fast alle Gewerkschaftsorganisationen, außer der regierungsnahen CFDT, einen Aufruf zum interberuflichen Streik am 5. Dezember. Manche Gewerkschaftsführer werden das wohl eher widerwillig getan haben und hätten lieber auf den „Sozialdialog“ gesetzt. Aber angesichts der Arroganz von Präsident Macron und seiner Entschlossenheit, die angekündigten „Reformen“ gegen allen Widerstand durchzusetzen, was gab es da noch viel zu verhandeln? Von Marco Wenzel

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Die Streikbeteiligung und ihre Akzeptanz

Die Beteiligung an den Streiks und an den Demonstrationen ist massiv. Bereits am ersten Tag nahmen an den Demonstrationen nach Angaben des Innenministeriums 806.000 Menschen teil. Die CGT sprach von 2,5 Millionen, davon 250.000 in Paris. Am Freitag und am Wochenende fuhren nur ein Bruchteil der Züge, Nah- und Fernverkehr waren nahezu ganz lahmgelegt, die Streikbeteiligung lag bei etwa 90%, Lkw-Fahrer sperrten zusätzlich mehrere Autobahnen. Die Schulen blieben am Freitag geschlossen, die Streikbeteiligung bei den Lehrkräften betrug 70%, die Metro in Paris fuhr nur noch auf wenigen Strecken, die mit führerlosen Wagen betrieben werden. Die Pariser RATP kündigte „extreme Störungen“ im öffentlichen Verkehr auch am Sonntag und Montag an. Streiks gab es auch in den Krankenhäusern und in der Chemie- und der petrochemischen Industrie, wo 7 der 8 Ölraffinerien Frankreichs stillstanden.

Lehrer, Notärzte, Krankenschwestern, Anwälte, Eisenbahner, Busfahrer, LKW-Fahrer, Feuerwehrleute, Studenten, Jugendliche für das Klima, Arbeiter, Arbeitslose, Hausfrauen, Flugpersonal, Gewerkschaftler und Gelbwesten, alle zusammen auf der Straße, „das ist etwas, das weit über die Renten und deren Sonderregelungen hinausgeht“, so einer der streikenden Gewerkschaftler. Es ist diesmal ein Streik, der nicht nur auf ökonomischen Forderungen beruht. Und so kommen auch regelmäßig unter den StreikteilnehmerInnen schnell Diskussionen darüber auf, welche Gesellschaftsform man denn nun will. Einig ist man sich zumindest schnell darüber, dass es jedenfalls nicht die bestehenden Verhältnisse sind, die man weiterführen möchte.

Die drohende Umweltkatastrophe, Selbstmorde im Erziehungswesen, bei der SNCF und bei der Post, unerträgliche Arbeitsbedingungen in den Krankenhäusern, bei der Feuerwehr und bei den Rettungssanitätern, Outsourcing von Mitarbeitern, prekäre Arbeitsverträge, dazu die Ausbeutung der Migranten. Die Liste der gesellschaftlichen Probleme ist ellenlang und ebenso lang sind die Probleme der Menschen, die in diesem System leben. Und ebenso groß ist auch die Wut auf die Regierung, die sich inzwischen aufgestaut und teilweise bereits in Protesten entladen hat.

Siehe dazu: Generalstreik in Frankreich

Die Antwort der Regierung auf die Proteste war bis jetzt immer dieselbe: Unterdrückung durch Gewalt und massiver Polizeieinsatz. Für die Forderungen der Demonstranten fand Macron bestenfalls nur leere Worte und Versprechungen.

Und auch dieses Mal haben das Innenministerium und die Polizeipräfektur wieder, nur in Paris allein, 6.000 schwerbewaffnete und gepanzerte Polizisten der Spezialeinheit CRS, 180 mit jeweils zwei Uniformierten besetzte Motorräder zusammengezogen, um die Demonstrationen in Schach zu halten. Mit Kameras bestückte Drohnen beobachten das Geschehen von oben. Und so kam es dann auch schon, wie nicht anders erwartet, zu ersten Auseinandersetzungen zwischen Polizei und Demonstranten.

Die Gewerkschaften kündigten bereits weitere massive Proteste an – auch zum Beginn der neuen Woche. Ob und wie lange der Streik weitergeführt wird, wird täglich von Generalversammlungen in den betroffenen Betrieben abgestimmt. Die Gewerkschaften riefen am Samstag zu einer Ausweitung der Proteste auf. „Wir fordern, dass die Bewegung an diesem Wochenende fortgesetzt und ab Montag verstärkt wird“, sagte Laurent Brun von der Gewerkschaft CGT.

Viele, die nicht mitmachen bei den Streiks, meist aus finanziellen Gründen, unterstützen sie trotzdem. Die Zustimmung in der Bevölkerung liegt bei mehr als zwei Drittel. Und auch wenn es vordergründig um die geplante Rentenreform geht, so war diese doch nur der sprichwörtliche Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Es ist “eine allgemeine Müdigkeit gegenüber der Macron-Regierung“, so einer der Streikenden, „die sich in Frankreich breit gemacht hat“. Es ist die neoliberale Welt des „Monsieur Macron“, von der die Franzosen die Nase voll haben, eine Welt, die meilenweit von der Lebenswirklichkeit der Bevölkerung entfernt ist, ja, mehr noch, die dafür verantwortlich ist, dass die Welt der Arbeiterschaft, in der es zunehmend nur noch darum geht, mit seinem Lohn bis ans Monatsende zu kommen, langsam aber sicher zusammenbricht. Und es geht diesmal auch um die Arroganz der Wohlhabenden und ihres Präsidenten gegenüber den Nöten der Bevölkerung. Vereinfacht könnte man auch sagen, es ist der Neoliberalismus, von dem die Franzosen die Schnauze voll haben.

Macron hatte seit dem Streikaufruf 7 Wochen Zeit, zu reagieren. Er hat diese Zeit verstreichen lassen, ohne irgendwelche Anstalten zum Einlenken zu machen. Er ist in dem ganzen Jahr, in dem die Gelbwesten jeden Samstag auf die Straße gingen, keinen Millimeter auf sie zu gegangen.

Übers ganze Wochenende, auch am Samstag und Sonntag, trafen sich jetzt Macron, Philippe und mehrere Minister und Regierungsbeamte im Matignon, dem Sitz des Ministerpräsidenten Philippe und im Elysée, dem Amtssitz von Präsident Macron, zu verschiedenen Krisensitzungen.

Die Rentenreform, worum geht es?

Auslöser für den Generalstreik war die geplante Rentenreform der Regierung Macron. Zwar ist noch nicht genau bekannt, wie diese Reform aussehen soll, die Regierung hat das Projekt noch nicht der Öffentlichkeit vorgestellt. Angesichts der Streiks, die am 5. Dezember begonnen haben, wollte Premierminister Philippe das Projekt am kommenden Mittwoch vorstellen, jetzt wurde der Termin aber auf kommenden Freitag verschoben. Will die Regierung erst einmal abwarten, wie sich der Widerstand bis dahin entwickelt, um das Projekt dementsprechend in letzter Minute anzupassen? Wenig Widerstand: große Kürzungen, starker Widerstand: kleine Kürzungen, im neoliberalen Neusprech „Reformen“ genannt?

Angesichts der Rentendebatten in allen europäischen Ländern, wo überall versucht wird, die Renten zu kürzen und das Renteneintrittsalter anzuheben, angesichts der Tatsache, dass die Rentenkürzungen überall als „Rentenreform“ verkauft werden, sowie angesichts der Tatsache, dass alle erfolgreich durchgeboxten Rentenreformen überall Verschlechterungen für die Rentner gebracht haben, kann man sich auch in Frankreich ausrechnen, wohin die Reise gehen soll. Zudem ist Macron bekannt als neoliberaler Freund des Finanzkapitals, da bleibt bei Reformen aus solcher Hand für den „kleinen Mann“ nur so viel übrig wie unbedingt nötig zum Überleben. Alles für uns und nichts für die Anderen.

Macron bezeichnet das bestehende Rentensystem als „ungerecht“ und hat bereits erklärt, er wolle trotz der Massenproteste an der geplanten Rentenreform festhalten. Sein Premier meinte dazu, die Franzosen müssten „mehr arbeiten“. Die Einführung eines einheitlichen Systems soll Privilegien für bestimmte Berufsgruppen auf lange Sicht beenden, so Philippe weiter. Einig ist die Regierung sich auch darin, dass das Rentensystem zu teuer sei und die Rentenkassen entlastet werden müssten. Alle Franzosen sollen gleichgestellt werden, anvisiert wird ein einheitliches Rentensystem und eine Anpassung an das System in der Privatwirtschaft, also an das schlechteste aller 42 Rentensysteme. Zudem soll das neue System den Menschen “Anreize” geben, länger zu arbeiten, das Renteneintrittsalter soll auf 64 Jahre angehoben werden. Aber die Regierung ist angesichts der allgemeinen Ablehnung ihrer Pläne bereits vorsichtig geworden und übt sich im Taktieren. Die neuen Maßnahmen sollen „schrittweise“ und „ohne Härte“ eingeführt werden, so der Premierminister am Freitag.

In der Tat ist das bestehende französische Rentensystem mit einer Unzahl von Sonderregelungen ziemlich unübersichtlich. Richtig kompliziert wird es, wenn jemand in seinem Berufsleben ein oder mehrmals das Rentensystem wechselt, was in heutigen Zeiten oft vorkommt. Kaum jemand kann dann noch vorher berechnen, was er bei Renteneintritt tatsächlich erhalten wird. Früher war das weniger ein Problem, weil die Menschen oft in dem Betrieb in Rente gegangen sind, in dem sie nach Beendigung ihrer Schulzeit angefangen haben oder dort, wo sie schon in die Lehre gingen.

Und so besteht auch kaum Dissens in der Bevölkerung darüber, dass eine Reform des Rentensystems notwendig ist. Aber muss es gleich eine Nivellierung nach unten sein? Gerechtigkeit kann man auch schaffen, indem die unteren Renten angehoben werden und die, die jetzt weniger erhalten, ebenso viel bekommen, ein Anpassung nach oben also. Frankreich steuert zwar jährlich 8 Milliarden € aus dem Staatshaushalt zur Finanzierung der Rentenkassen bei. Wie in Deutschland wäre aber auch in Frankreich, bei einem Staatshaushalt von derzeit 1320 Milliarden €, genug Geld für eine angemessene Rente für jeden vorhanden, wenn… ja wenn man die Vermögensteuer wieder erheben würde, den Höchststeuersatz für Großverdiener erhöhen würde, die Steuervergünstigungen für die Superreichen aufheben und die Steuerschlupflöcher schließen würde, wenn man die Steuerhinterziehung bekämpfen würde und wenn man den Rüstungsetat von derzeit etwa 36 Milliarden € senken, statt wie beschlossen auf 44 Milliarden erhöhen würde. Macron braucht sich also das Geld nur dort zu holen, wo auch etwas zu holen ist.

Man bedenke auch, dass die bestehenden, 42 verschiedenen Rentensysteme für die verschiedenen Berufsgruppen historisch gewachsen sind und viele Vergünstigungen in vergangenen Arbeitskämpfen errungen worden sind. Viele Menschen haben sich am Anfang ihrer Berufslaufbahn bewusst für einen bestimmten Beruf entschieden, wo sie in den ersten Jahren oder Jahrzehnten weniger Geld verdienten, dafür aber die Gewissheit hatten, dass sie langsam aufsteigen würden, früh in Rente gehen könnten und bei Renteneintritt eine gute Rente bekommen würden. Bahnbedienstete z.B. verdienen in den ersten Berufsjahren deutlich weniger als KollegInnen in der Privatwirtschaft. Die Gehaltstabelle mit den jährlichen Lohnsteigerungen und die bessere Rente zum Schluss waren oft ausschlaggebend für die Berufswahl. Diesen Vertrag will die Regierung Macron jetzt einseitig kündigen. Am meisten aber würden wohl die Lehrer verlieren, deren Rente sich nach dem Gehalt der letzten 6 Monate berechnet und die 75% davon beträgt. Wird nun, wie geplant, die ganze Berufslaufbahn für die Berechnung herangezogen, so würden die Lehrer nach ihren eigenen Berechnungen bis zu 900 € monatlich verlieren. Kein Wunder also, wenn die Lehrer mit in der vordersten Reihe bei den Protesten stehen.

Unter solchen Umständen kann es kein gerechtes einheitliches System geben, zumindest keines, das nur „Privilegien“ abschaffen will, ohne die Vereinbarungen zu berücksichtigen, auf die die Menschen sich bei ihrer Berufswahl eingelassen haben und im Vertrauen auf deren Einhaltung von Arbeitgeberseite sie ihr bisheriges Leben aufgebaut haben. Wenn Macron beklagt, dass das bestehende System ungerecht sei und dass jeder Euro, der eingezahlt wird, je nach System eine unterschiedliche Rente ergibt, so hat er im Prinzip recht.

Wahre Gerechtigkeit könnte man aber vor allem dadurch schaffen, dass man die Anzahl der Berufsjahre stärker berücksichtigt und die eingezahlten Beträge nur noch eine untergeordnete Rolle spielen, dafür aber für jedes Jahr einen festen einheitlichen Sockelbetrag für alle Berufe zahlt und, vor allem wichtig für die Frauen, auch die unbezahlte Hausarbeit und Kindererziehung in der Rente eins zu eins anrechnet. So wären Großverdiener und Niedriglohnarbeiter wenigstens später als Rentner gleichgestellt.

Macron aber möchte stattdessen eine Universalrente, basierend auf einem Punktesystem für die Rentenberechnung, einführen. Die Beitragszahler sollen in ihrem Berufsleben, auf Grund der eingezahlten Beträge, Rentenpunkte ansammeln, die dann später in einen Geldwert umgerechnet und als Rentenbetrag ausbezahlt würden. Der Punktwert soll jedes Jahr neu von einer Expertenkommission festgelegt werden, der schlussendlich tatsächlich ausgezahlte Rentenbetrag hängt also immer in der Schwebe.

Die Angst der Regierung

Die Gelbwesten haben mit ihren wöchentlichen Demonstrationen seit Ende letzten Jahres eine neue Atmosphäre in Frankreich geschaffen. Viele haben mit den Gelbwesten ihre ersten Demonstrationen mitgemacht und ihre ersten politischen Erfahrungen gesammelt. Und auch einen bleibenden Eindruck von der Repressionsgewalt des Staates bekommen. Ein Jahr nach Beginn der Bewegung der Gelbwesten und nachdem die Bewegung schon fast tot war, tut sich nun eine neue Etappe der Proteste und des Kampfes auf: Die Vereinigung der gesamten Bevölkerung, aller Schichten der Benachteiligten, ob im Arbeitsverhältnis oder nicht, ob gewerkschaftlich organisiert oder nicht, Arbeitslose und Arbeiter, alle zusammen gegen die Regierung. Wie weit wird es gehen? Gelingt es der Regierung, die Bevölkerung erneut zu spalten oder wird eine neue Etappe des Klassenkampfes gerade eingeläutet? Gemeinsam sind wir stark, war immer die Parole der Arbeiterbewegung. Erstmals seit Langem scheinen sie nun in Frankreich wieder vereint und in Kampfbereitschaft.

Zu den Protesten der Gelbwesten kam der Kampf der Krankenhausnotdienste hinzu, der seit über neun Monaten andauert und große Sympathie in der Bevölkerung findet, dazu Proteste im Bildungswesen, die Selbstverbrennung eines Studenten, Proteste der Frauenbewegung, die Klimabewegung usw.

Neu für die Gewerkschaften ist, dass die Proteste weitgehend von der Basis vorangetrieben werden. Es ist die Basis, die Aktionen fordert. Die Gewerkschaftsführung läuft hinter ihren Mitgliedern hinterher, sie hat nicht mehr die volle Kontrolle darüber, was geschieht. Die Gewerkschaften haben mehr als 1.000 Aufrufe zum Streik im privaten Sektor erhalten, in sehr unterschiedlichen Bereichen. Auch hier waren es, oft in kleinen mittelständischen Betrieben, die Arbeiter und nicht die dort präsenten Gewerkschaftler, die zum Mitmachen drängten und die um Informationen darüber baten, wie man im privaten Sektor streiken soll. Gerade also in Betrieben, wo die Gewerkschaften wenig präsent sind und die Hierarchie stark ausgeprägt ist. Da, wo ein Streik für die Beschäftigten besonders riskant ist.

Es ist eine Dynamik entstanden, die der jetzige Generalstreik noch verschärfen kann. Denn Kampferfahrung stärkt das politische Bewusstsein, gemeinsame Aktionen geben den Menschen das Gefühl, nicht allein zu sein mit ihrer Wut und ihren Ängsten.

Zudem lernt die Bevölkerung in der Aktion schnell, politische Diskussionen zu führen, sich selber neue Organisationsstrukturen zu geben und Entscheidungen zu treffen. Der Generalstreik beherrscht in Frankreich zurzeit zweifellos die öffentliche Debatte. Keine Familien, keine Kneipe, kein Verein, in dem nicht schnell das Thema aufkommt und die Diskussionen darüber, wie es weitergehen soll und wo man hinwill.

“Das ist nur der Anfang, es wird über die Renten hinausgehen, mit oder ohne Parteien oder Gewerkschaften. Wir werden die Arbeitslosigkeit und die Kaufkraft nicht aufgeben. Wir werden weitermachen. Der 5. Dezember markiert eine Rückkehr zur Hoffnung. Für uns ist das vielleicht der zweite Akt.” So ein Vertreter der Gelbwesten.

Darüber hinaus beteiligen sich die Menschen nicht mehr an den Wahlen und glauben den Parteien und Gewerkschaften nicht mehr. Die Gelbwesten und ihre Protestaktionen geben hierfür ein beredtes Beispiel ab. Man verlässt sich nur noch auf seine eigenen Strukturen und verlegt den Protest auf die Straße.

Sie herzu: Ein Jahr Protest der gelben Westen in Frankreich. Was nun?

Das kann für die herrschende Elite schnell gefährlich werden.

Die Angst der Aktivisten

Die Regierung werde mit den Gewerkschaften zusammenarbeiten, um ein für alle Branchen geltendes, „gerechteres“ Rentensystem einzuführen, sagte Premierminister Philippe. Die Regierung setzt auf Verhandlungen mit den Gewerkschaften, um ihr Projekt doch noch durchsetzen zu können. Und genau das ist es, was manche Aktivisten befürchten.

Der fortgesetzte Generalstreik lähmt unweigerlich nicht nur die Wirtschaft, sondern auch die Regierung. Und die wird alles unternehmen, um den Streik zu beenden und die Arbeiter wieder in die Fabriken zu treiben. Das kann sowohl über Verhandlungen geschehen als auch mit Gewalt. Wenn Verhandlungen zu nichts führen, wird die Regierung verstärkt Polizei und Militär einsetzen, um „die Ordnung wieder herzustellen“. Denn so lange der Streik andauert, hängt die Staatsmacht in der Luft. Früher oder später wird sich konkret die Frage stellen: Wer ist der Herr im Hause Frankreich?

Wir haben vorher schon erwähnt, dass der Streik längst über die Rentenfrage hinausgeht und dass viele Streikteilnehmer das auch bereits erkannt haben. Trotzdem haben die Gewerkschaftsführer bis jetzt noch nicht den unbefristeten Generalstreik ausgerufen, sondern überlassen die Verantwortung und die Wahl der Fortsetzung des Streiks von Fall zu Fall und vor Ort den Arbeitnehmern. Damit halten sie sich die Hände frei für Verhandlungen mit der Regierung, obwohl die Arbeitnehmer in ihrer Mehrzahl diese Reform insgesamt ablehnen.

Viele der Streikenden befürchten, einige Gewerkschaftsführer, denen sie schon lange nicht mehr trauen, könnten Verhandlungen auf der Grundlage falscher Zugeständnisse von Macron führen, zu denen die bedrängte Regierung, um den Großteil ihrer Reform zu retten, zur Zeit durchaus bereit wäre, einen faulen Kompromiss schließen und damit alles wieder vergeigen. Dies wäre ein Dolchstoß in den Rücken für die Dynamik der Mobilisierung. Und auch heute, am 9. Dezember, sind wieder Verhandlungen zwischen Regierung und Gewerkschaften angesagt, obwohl es aus Sicht der Streikenden nichts mehr zu verhandeln gibt.

Aussichten:

Der Streik ist im Begriff, zu einer echten Volksbewegung zu werden. Es wäre jetzt ein guter Zeitpunkt für die Gewerkschaftsführer, den Streik auf die gesamte Wirtschaft auszudehnen, die Forderungen auch auf die Arbeitslosigkeit und die Kaufkraft auszudehnen, so wie die Basis es will, und den Rücktritt von Macron und seiner Regierung zu fordern.

Spannend darüber, wie es weitergehen wird, wird es ab dieser Woche werden. Dann wird das wahre Kräftemessen beginnen, dann wird sich zeigen, ob die Streikenden die nötige Ausdauer haben werden. Denn Streikgeld gibt es in Frankreich nicht. Aber der Streik war schon lange angekündigt und viele haben in den letzten 2 Monaten bereits gespart und Geld zur Überbrückung des zu erwartenden Lohnausfalles zurückgelegt. Um die Rentenpolitik der Regierung zu ändern, reicht ein einziger Streiktag nicht aus. Das ist jedem Streikenden klar. Nur die Fortsetzung des Streiks wird ihn auch zum Erfolg führen.

Eine Frau, bekleidet mit einer gelben Weste, meinte: Es wird nicht mit dem Protest gegen die Rentenreform aufhören. Es wird weitergehen, bis Macron weg ist, wir werden an diesem Punkt nicht aufhören. Die Umstehenden nickten und pflichteten ihr bei. Viele Franzosen und Französinnen sind inzwischen dieser Meinung. „Arbeiter, gelbe Westen, Anwohner, Arbeitslose … es ist eine allgemeine Bewegung und ein Generalstreik, bis der Rückzug der Reform eingeleitet werden muss”, so ein weiterer Demonstrant. « Grève ou crève », Streike oder stirb, so war auf vielen Schildern in den Demonstrationszügen zu lesen.

“Wir werden bis zum Rückzug” der Rentenreform weitermachen, warnte der Generalsekretär der CGT, Philippe Martinez, gestern in einem Interview im „Journal du dimanche“.

Die französischen Gewerkschaften haben bereits für diesen Dienstag zu neuen Streiks und Massenprotesten und für Mittwoch zu einem weiteren Aktionstag aufgerufen. Das teilte eine Sprecherin nach einem Treffen von vier großen Gewerkschaften und vier Jugendorganisationen in Paris mit.

Weiter angekündigt sind bereits folgende Streiks:

  • Am 16. Dezember: Landesweiter Streik im Transportsektor
  • Am 3. Februar 2020: Landesweiter Streik der Ärzte, Anwälte und Piloten

Die NachDenkSeiten werden über die weitere Entwicklung der Streikbewegung in Frankreich und deren Verlauf berichten.

Titelbild: Alexandros Michailidis/shutterstock.com


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