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Titel: Argentinien – Von der “verbrannten Erde” zum Wiederaufbau-Programm von Alberto Fernández

Datum: 15. Dezember 2019 um 11:45 Uhr
Rubrik: Audio-Podcast, Länderberichte, Medien und Medienanalyse, Wirtschaftspolitik und Konjunktur
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Buenos Aires, den 10. Dezember. Nach der Regierungserklärung des neuen Präsidenten und der Vizepräsidentin vor dem Parlament folgten Kolonnen zigtausender Transparente und Fahnen schwingender Menschen dem Weg Alberto Fernández‘ und Cristina Fernández de Kirchners zur Vereidigung im Regierungspalast Casa Rosada. Ein Bericht von Frederico Füllgraf.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Trotz der extremen Sommertemperaturen, die die 12-Millionen-Metropole am La Plata peinigten, breitete sich sodann ein Menschenmeer von der Plaza de Mayo in Richtung der nahegelegenen City aus. Männer und Frauen, Junge und Alte sangen in Chören und tanzten zum Klang der karibischen Cumbia. Nicht wenige weinten und umarmten Familienangehörige und Freunde. Mit politischen Ansprachen, feurigen Reden und Ermutigungen dauerte der Siegestaumel bis in die frühen Nachtstunden; der Himmel immer wieder aufgehellt durch Kanonaden von buntem Feuerwerk. In den vergossenen Tränen bahnten sich gemischte Gefühle den Weg zur Befreiung. Es war die Freude über die Wende, gepaart mit der Erleichterung über „Macris Ende“; über das Ende der inkompetentesten und rabiatesten argentinischen Regierung der vergangenen zwei Jahrzehnte.

Fernández‘ sozialdemokratische Neugründung Argentiniens

Alberto Fernández‘ Regierungserklärung vor dem komplett besetzten Parlament und ausländischen Gästen – zu denen Kubas Präsident Miguel Díaz-Canel, die ehemaligen Präsidenten Uruguays und Ecuadors, José Pepe Mujica und Rafael Correa, jedoch auch der brasilianische Vizepräsident, General Hamilton Mourão, zählten – dauerte eine volle Stunde und vier Minuten. Mit akribischer Diagnose des kranken Argentinien verwies der zum neuen Staatschef gewählte, 60-jährige Jura-Professor auf Macris “Erbe”: ein Scherbenhaufen mit 4,5 Millionen neuen Armen, mehr als 20.000 zerstörten kleinen bis mittleren Industriebetrieben, eine Auslandsverschuldung von über 200 Milliarden US-Dollar und eine 53-prozentige Inflation.

Hierauf präsentierte er eine Art einheimischen Marshallplan mit nahezu obligatorischer Teil-Neugründung von Staat und Rechtssystem sowie einer kühnen wirtschaftlichen Wiederaufbau-Strategie, die mit einem sozialen Notstandsprogramm zur Sofortbedienung des Millionenheeres verarmter Rentner, Arbeitsloser, Frauen und unterernährter Kinder startet. Außer den in Brasilien bewährten, 2008 von Präsident Luis Inácio Lula da Silva beschlossenen antizyklischen Maßnahmen, wie der Belebung des Binnenmarktes, sprach Fernández zum ersten Mal auch die Dringlichkeit einer einheimischen wissensbasierten Ökonomie an, womit das Land seinen technologischen Rückstand überwinden soll, aber sich auch als Anbieter fortgeschrittener Technologie künftig als Weltmarkt-Akteur profilieren kann.

Mit seinem wiederholten Aufruf zur Beendigung der Hassfehden in der ideologischen Auseinandersetzung setzte Fernández Zeichen für eine landesweite Versöhnung als Voraussetzung für ein demokratisches Zusammenleben und die Stärkung der nationalen Souveränität.

Doch der Aufruf enthielt gleichsam zwei relevante Ermahnungen. Zum einen, dass die Krise der Demokratie allein mit mehr und vertiefter, und nicht mit Beschneidung der Demokratie überwunden werden muss. Zum anderen sandte der neue Präsident eine klare und scharfe Botschaft an die politischen Operateure und ausländischen Hintermänner der seit mehreren Jahren in südamerikanischen Schlüsselländern um sich greifenden, rechtsradikalen Politisierung der Justiz, mit ihrer als Lawfare bekannten juristischen Kriegsführung gegen renommierte Staatschefs wie Luis Inácio Lula da Silva, Cristina F. de Kirchner und Rafael Correa. „Nie wieder eine Justiz, die von Geheimdiensten und Polizei durchsetzt und durch obskure Verfahren und mediale Lynchmorde vergiftet ist – NIE WIEDER!”, betonte Fernández die Forderung mit erhobenem Blick auf das hundertfache Publikum und fügte entschlossen hinzu: „Nie wieder heißt: Schluss damit! Als eine unserer ersten Regulierungsmaßnahmen werde ich deshalb eine komplette Reform des Justizsystems und einen Eingriff in den Geheimdienst anordnen“; eine Ankündigung, die tosenden Applaus unter dem versammelten Publikum auslöste.

Der Kampfansage an die Feinde des demokratischen Rechtsstaates folgte eine außenpolitische Ermahnung Großbritanniens. Vor knapp 200 Jahren haben die Briten 1833 die genuin argentinischen, von Spanien geerbten Malvinen-Inseln überfallen und halten sie seitdem unter dem Namen “Falkland-Islands” mit einigen hundert dahin beförderten Islanders besetzt. Im Jahr 1982 versuchte die argentinische Militärdiktatur von ihrer innenpolitischen Isolierung mit einem amateurhaften Feldzug zur Rückeroberung des Archipels abzulenken, der in einer dramatischen Niederlage mit hunderten von Toten gipfelte und das rasche Ende der Diktatur selbst im Jahr 1983 einläutete. Diktatur hin, militärisches Abenteuer her, den Briten ist bekannt, dass die Malvinen-Frage 45 Millionen Argentinier von extrem rechts bis extrem links nationalistisch vereint und Verhandlungen erfordert, die von den Tory-Administrationen abgelehnt wurden, jedoch von einer künftigen Labour-Regierung nicht mehr arrogant verkannt werden können. „Es gibt im 21. Jahrhundert keinen Platz mehr für Kolonialismus!”, verkündete Fernández über den großen Teich. Es ist anzunehmen, Jeremy Corbyn hat die Botschaft empfangen.

Verbrannte Erde

Fernández‘ Hinweis auf die „medialen Lynchmorde” hat Folgen. Zum neuen Kulturminister ernannte der Präsident den auf internationalen Filmfestivals mehrfach preisgekrönten Filmemacher Tristán Bauer. Wie das konservative Nachrichtenportal Infobae richtig bemerkte, ist Bauer ein Mann des Kinos, jedoch auch des Staates. Er diente als hoher Beamter in der Regierung Nestor Kirchner und in der seiner Ehefrau und Nachfolgerin Cristina Kirchner als Direktor des öffentlichen Mediensystems und anschließend als Intendant des staatlichen Radio- und Fernsehsystems.

Bauers Name steht für den ersten Versuch der Demokratisierung des von einem halben Dutzend privater Betreiber monopolisierten Medienmarktes. Im Juli 2009 unterzeichnete Präsidentin Cristina F. de Kirchner das von Bauer vorgeschlagene Dekret 943/09, mit dem Radio y Televisión Argentina (RTA) zum Betrieb eines landesweiten Satellitenfernsehsystems ermächtigt wurde. Im Prinzip zielte das Projekt darauf ab, mit dem privaten Medienbetrieb Konkurrenz aufzunehmen, ländlichen Schulen und einkommensschwachen Haushalten ein Basispaket von Bildungs-, Kultur-, Informations- und Kinderprogrammen zur Verfügung zu stellen, das gegen Entrichtung von 15,40 US-Dollar für den Erwerb der entsprechenden Antenne kostenlos über Satellit empfangen werden konnte.

Dem folgte das 2013 von der Regierung dem Parlament zur Abstimmung überreichte Mediengesetz, das auf erbitterten Widerstand, vor allem der landesgrößten Mediengruppe Clarin, stieß und mit einer virulenten Medienkampagne der Regierung Cristina Kirchner erhebliche Popularitätseinbußen einbrachte.

Bauers neuer Amtsantritt wird von der Uraufführung seines jüngsten Werkes begleitet: dem Dokumentarfilm “Verbrannte Erde” (Trailer des Films) – eine Chronik der katastrophalen sozialen Folgen der vierjährigen neoliberalen Regierung Mauricio Macris und ihrer Unterstützung durch die konservativen Medien.

Der Trailer deutet bereits die kritische Tonlage und den Fokus des Narrativs an. Der Film erklärt Mauricio Macris unerfüllte Versprechen, aber auch, dass die Opfer zum Widerstand gegen die gewaltsame soziale Verelendung fähig waren. Das Werk setzt sich aus Eigenaufnahmen, jedoch überwiegend aus hunderten von Amateurbildern, oft mit Mobiltelefon aufgenommen, zusammen. Team und Regisseur begleiteten vier Jahre lang die Auftritte der mehrfach angeklagten und politisch verfolgten Ex-Präsidentin Cristina F. de Kirchner durch das Hinterland, sie erhielten Unmengen von Videoaufnahmen über das verbreitete Elend, sie sortierten und kombinierten das Material, aus dem ein rabiat durchgesetzter Wirtschaftsplan mit tiefgreifenden sozialen Schäden erkennbar wird.

Fernández‘ Herausforderungen

Der neue Präsident und sein Kabinett sehen sich selbst als Schadensbeseitiger und Hoffnungsträger. Bereits im November rief Fernández daher den sogenannten “Rat gegen den Hunger in Argentinien” ins Leben. Anders als bei Präsident Lulas rein staatlichem Programm “Fome Zero” (Null Hunger) aus dem Jahr 2003 berief Fernández Unternehmer, Geschäftsleute, vielfältige soziale und politische Akteure und Verbände in die Organisation, darunter selbst den konservativen Agrobusiness-Verband “Sociedad Rural”, der sich für die Beschaffung billiger Lebensmittel mitengagiert.

Die Hungerbekämpfung ist jedoch nur eine, vielleicht die weniger komplizierte Herausforderung an der Front um den integrierten Wiederaufbau. Die wahrlich explosive Aufgabe besteht in der Verhandlung mit den internationalen Gläubigern über Umfang, Zahlungsfristen und Zinserlasse – in einem Wort: der Umschuldung – der von Macri aufgenommenen und nicht zurückgezahlten sechsstelligen Dollar-Milliarden. Die neue argentinische Regierung lässt keine Zweifel an ihrer Rückzahlungsbereitschaft. Sie spekuliert mit keinem Zahlungsausfall, „doch bevor man zahlungsfähig ist, muss man erst wachsen und die Zahlungsmittel erwirtschaften”, ließ Fernández in- und ausländische Gläubiger schon vorher wissen. Der Präsident ist sich der Unterstützung der schwer angeschlagenen einheimischen Industrie sicher. Sie soll gefördert werden. „Wir werden nicht diejenigen belohnen, die spekulieren, sondern diejenigen, die produzieren”, erklärte er bei einem Treffen mit dem argentinischen Industrieverband.

Indes, von konservativen Regierungen wie Chile und Uruguay, rechtsradikalen Regimen wie Brasilien und einer hinkenden Diktatur wie Bolivien umzingelt – wie soll sich Argentinien ab 2020 außenpolitisch verhalten? US-Präsident Donald Trump übersandte als einer der Ersten Fernández und Kirchner Glückwünsche zu ihrem Sieg und richtet sich offenbar auf einige Korrekturen im bisherigen Verhältnis mit Macri ein, die frühestens Mitte 2020 deutlichere Konturen annehmen werden. Ein weiterer zentraler Punkt wird die Frage sein, ob das Freihandelsabkommen zwischen dem Mercosur und der Europäischen Union florieren wird oder nicht.

Mit einem Besuch Lulas im Gefängnis setzte sich Fernández bereits während des Wahlkampfs nachdrücklich für die Freilassung des populären Ex-Präsidenten ein, die er explizit mit Jair Bolsonaro in Verbindung brachte und sich damit den Hass des faschistischen Staatschefs zuzog, der sich weigerte, seiner Vereidigung beizuwohnen. Die “Realpolitik”, vor allem Unternehmerinteressen, zwingt wahrscheinlich beide zu annehmbaren diplomatischen Beziehungen auf Kosten persönlicher Ablehnung. Dass das Jahrzehnte alte, sogenannte “strategische Sonderverhältnis” nach Bolsonaros Attacken gegen den Wahlsieg von Fernández im Eimer ist und Argentinien zu einer alternativen strategischen Allianz trieb, machte der einzige Auslandsbesuch des neuen Präsidenten in Mexiko noch vor seiner Vereidigung deutlich. Fernández‘ Geheimdiplomatie war es zu verdanken, dass der gestürzte bolivianische Präsident Evo Morales in Mexiko Asyl erhielt. Das er nun auf Einladung des argentinischen Präsidenten gegen das Exil in Argentinien eintauschen wird. Argentinien ist schließlich auch „die Heimat aller Bolivianer”. Es sei eine Ehre, Morales zu empfangen, erklärte Alberto Fernàndez; der zugleich konziliante und scharfsinnige Hoffnungsträger nicht nur Argentiniens, sondern des gesamten lateinamerikanischen Kontinents.

Titelbild: Matias Baglietto/shutterstock.com


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