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Titel: „Dieses Buch ist eine Abrechnung mit der Glücksindustrie“

Datum: 7. Februar 2020 um 9:48 Uhr
Rubrik: Rezensionen, Strategien der Meinungsmache, Ungleichheit, Armut, Reichtum, Wertedebatte
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Glück boomt. Seit den neunziger Jahren explodiert die Zahl der Glücksseminare und Glücksratgeber. In den Medien werden immer wieder gerne Experten zu Fragen von Gesundheit, Sinnfindung, Selbstverwirklichung usw. interviewt. Der Grundtenor: Es liegt in der Verantwortung des einzelnen Menschen, ob er glücklich wird oder nicht. Die international renommierte Soziologin Eva Illouz hat jetzt zusammen mit dem Psychologen Edgar Cabanas ein interessantes Buch über die Glücksindustrie vorgelegt. Unser Autor Udo Brandes hat es für die NachDenkSeiten gelesen.

Sind Sie schon glücklich oder arbeiten Sie noch daran?

Eine Rezension von Udo Brandes

Kennen Sie den Film „Das Streben nach Glück“ mit dem Hollywoodschauspieler Will Smith in der Hauptrolle? Der Film beruht auf den Memoiren von Christoph Gardner, einem afroamerikanischen Handelsvertreter aus der unteren Mittelschicht. Gardner hat sich aus sehr ärmlichen Verhältnissen zum erfolgreichen Geschäftsmann, Börsenmakler und Motivationsredner hochgearbeitet. Und das, obwohl seine Lage zunächst wirklich schlecht war. Seine Frau ist im Film eine ewige Nörglerin und Pessimistin. Sie hält Gardners Optimismus und seine Karrierepläne (er will Börsenmakler werden) für absurde Spinnereien. Und verlässt dann schließlich ihren Mann und ihren Sohn zu einem Zeitpunkt, als es für die Familie scheinbar nicht mehr schlimmer kommen kann. Gardner muss nun seinen Sohn allein aufziehen. Aber ohne die finanzielle Unterstützung seiner Frau ist dies praktisch unmöglich. Er und sein Sohn fliegen erst aus der Wohnung, dann aus einem Motel und müssen schließlich in einer Obdachlosenunterkunft Zuflucht suchen. Und trotzdem bleibt Gardner optimistisch. Arbeitet in zwei Jobs Tag und Nacht, büffelt für die Abschlussprüfung seines Ausbildungsprogramms zum Börsenmakler und kümmert sich liebevoll um seinen Sohn. Diesem sagt er in einer Szene des Films:

„Lass dir von niemanden je einreden, dass du was nicht kannst. (…) Wenn du einen Traum hast, musst du ihn beschützen. Wenn du etwas willst, dann mach es. Basta“ (S.10).

Und tatsächlich: Gardner gehört zu den besten Absolventen seines Ausbildungsprogramms und bekommt schließlich seinen Traumjob als Börsenmakler. Und alles wird gut.

Der Film lief vor einiger Zeit im Fernsehen. Ich schaute ihn mir erwartungsvoll an, weil ich glaubte, er würde philosophische Fragen unterhaltsam und interessant behandeln. Meine Erwartungen wurden grundlegend enttäuscht. Die Ideologie des Films: Glück, Unglück, Arbeitslosigkeit, Armut, Leid und Krankheit sind eine Frage der Wahl. Mit anderen Worten: Jeder kann sich selbst aussuchen, ob er ein unglücklicher oder glücklicher Mensch wird. Weil dies von seiner Einstellung und seinem Verhalten abhängt. Also von selbst gewählten Faktoren.

Ich war auch geplättet, weil ich kaum glauben konnte, dass Künstler wie Will Smith sich für so eine hochideologische und lächerliche „Vom Tellerwäscher zum Millionär“- Geschichte einspannen ließen. Aber Hollywood ist eben eine Industrie, und auch Künstler wollen „Geld machen“. Wobei man hinzufügen muss, dass der Hollywoodstar Will Smith mit diesem Film wohl nicht seine Seele verkaufen musste. Er scheint tatsächlich so wie Gardner zu denken. Er sagte zum Film dies:

„Was Amerika verspricht, ist eine so großartige Idee, weil es das einzige Land ist, in dem Chris Gardner existieren könnte“ (S. 12).

Er erwähnte allerdings nicht, dass Christoph Gardner der absolute statistische Ausnahmefall in den USA ist. Und dass für die Mehrheit der US-Bevölkerung Wohlstand und sozialer Aufstieg niemals möglich sein wird.

Trotz dieses offensichtlichen Widerspruchs zwischen der Ideologie des Films und der sozialen Wirklichkeit in den USA wurde der Film ein weltweiter Kassenerfolg und spielte 307 Millionen US-Dollar ein. Genau deshalb beginnen die international bekannte israelische Soziologin Eva Illouz und der spanische Psychologe Edgar Cabanas ihr Buch „Das Glücksdiktat und wie es unser Leben beherrscht“ mit diesem Film:

„Der weltweite Erfolg des Films zeigt deutlich, welchen Raum das Ideal des Glücks und das Streben nach Glück in unserem Leben einnimmt. Das Glück ist allgegenwärtig: im Fernsehen, im Radio, in Büchern und Zeitschriften, im Fitnessstudio, beim Essen und in Ernährungsratgebern, im Krankenhaus, bei der Arbeit, im Krieg, in Schulen und Universitäten, in der Technologie, im Internet, auf dem Sportplatz, zu Hause, in der Politik und natürlich in den Regalen der Geschäfte“ (S.10).

Statt Gehorsam Arbeit am Selbst

Das Buch ist eine Abrechnung mit der Glücksindustrie. Die Autoren belegen ihre Kritik an der von dem amerikanischen Psychologen Martin Seligman begründeten Positiven Psychologie und der darauf fußenden „Glücksforschung“ vielfältig und mit sehr guten Argumenten. Ihr vernichtendes Urteil:

„Um es freiheraus zu sagen: Die Glücksforschung ist eine Pseudowissenschaft, deren Postulate und Logik sich durchweg als fehlerhaft erweisen. Der pragmatische Philosoph Charles Peirce hat einmal gesagt, eine Argumentationskette sei nur so stark, wie ihr schwächstes Glied; die Glückswissenschaft jedoch stützt sich auf zahllose Annahmen, die jeder Grundlage entbehren“ (S. 17).

Weiter kritisieren sie, was „Glücksforscher“ predigen, sei ein mächtiges Instrument für Organisationen und Institutionen, um sich „gehorsame Arbeitnehmer, Soldaten und Bürger schmieden zu können“. Während im 18. und 19. Jahrhundert der Anspruch auf individuelles Glück noch auf eine Überwindung der bestehenden Verhältnisse abzielte, sei es heute genau umgekehrt: Heute sei das Streben nach Glück „ein Werkzeug im Dienst der zeitgenössischen Macht“. Was früher der Gehorsam gewesen sei, sei heute die „Arbeit am Selbst“ (alle Zitate S. 203).

Geradezu eine Einladung für Politiker zum Nichtstun

Wieso misstrauen die Autoren der Positiven Psychologie und Glücksforschung? Dazu einige Beispiele: Die Positive Psychologie behauptet, dass das menschliche Glück zu 50 Prozent von der Genetik abhänge und zu 40 Prozent von willensmäßigen, kognitiven und emotionalen Faktoren. Äußere Faktoren wie Einkommen, Bildungsniveau und sozialer Status aber würden das persönliche Glück nur zu 10 Prozent beeinflussen.

„Diesem Rezept zufolge ist, um glücklicher zu werden, nichts so wirkungsvoll, wie das alltägliche Denken, Fühlen und Verhalten zu ändern“ (S.73),

kritisieren die Autoren zu Recht. Denn es würde darauf hinauslaufen, dass ein Obdachloser nicht deshalb unglücklich ist, weil er keine Wohnung hat und gezwungen ist, auch bei Minusgraden im U-Bahnhof zu übernachten, sondern weil er falsch denkt und fühlt – also die falsche Einstellung hat. Diese Ideen der Positiven Psychologie und Glücksforschung sind geradezu eine Einladung für Politiker, nichts gegen soziale Missstände zu tun. So verwundert es auch nicht, dass Martin Seligman, dem Begründer der Positiven Psychologie und Glücksforschung, nach eigenen Aussagen die Forschungsgelder nur so zuflogen. 2002 verfügte er für seine Forschungsprojekte über 37 Millionen Dollar. Illouz und Cabanas sehen einen eindeutigen Zusammenhang zwischen dessen Positiver Psychologie und der Glücksforschung und der neoliberalen Ideologie:

„Auffällig ist in diesem Zusammenhang, dass die wissenschaftliche Behandlung des Glücks und die Glücksindustrie, die um sie herum entstanden ist und gedeiht, ganz erheblich dazu beitragen, die Annahme durchzusetzen, Reichtum und Armut, Erfolg und Scheitern, Gesundheit und Krankheit lägen allein in unserer eigenen Verantwortung. Damit wird zugleich der Vorstellung Vorschub geleistet, es gebe keine strukturellen Probleme, sondern ausschließlich psychologische Defizite, es gehe also, um es mit Margaret Thatchers von Friedrich Hayek inspiriertem Ausspruch zu sagen, keine Gesellschaft, sondern nur Individuen. Die Vorstellung von Glück, wie sie heute von den entsprechenden Forschern und Experten formuliert und gesellschaftlich umgesetzt wird, dient dabei zuallererst der Propagierung eben jener Werte, die für die weltweite neoliberale Revolution Pate standen“ (S. 18).

Wir brauchen auch „schlechte“ Gefühle

Ein weiterer Kritikpunkt der Autoren: Die Positive Psychologie und Glücksforschung sieht in „schlechten“ Gefühlen nur etwas, das vermieden werden sollte. Sie bewertet also Gefühle wie Angst, Traurigkeit, Wut, Empörung, Neid usw. einseitig negativ. Dies, so Illouz und Cabanas, sei sehr problematisch. Mir fiel dazu eine Filmszene ein: In dem Film „Outbreak – Lautlose Killer“ spielt Dustin Hoffman einen amerikanischen Virologen, der mit seinem Team in Afrika eine gefährliche Virus-Epidemie untersucht. Wer sich mit dem Virus angesteckt hat, stirbt innerhalb weniger Tage. Als das Team in aufwendiger Schutzkleidung ein Dorf betritt, in dem viele Menschen erkrankt sind, bekommt ein junger Virologe aus dem Team eine Panikattacke und gefährdet das ganze Team. Später bittet er den von Dustin Hoffman gespielten Chefvirologen um Entschuldigung. Dieser antwortet (dem Sinn nach zitiert): „Du brauchst dich nicht zu schämen. Angst ist wertvoll. Sie ist unsere Lebensversicherung für diesen Job. Ich wollte nicht mit jemanden zusammenarbeiten, der keine Angst hat.“ Mit anderen Worten: Es hat schon seinen Grund, warum die Evolution die Angst erfunden hat. Sie ist notwendig, um zu überleben. Oder auf moderne menschliche Lebensverhältnisse übertragen: Angst oder Unbehagen kann uns zeigen, dass etwas in unserem Leben nicht stimmt, dass etwas uns zu schaffen macht. Ein Beispiel aus meinem sozialen Umfeld: Eine Frau hielt die Beziehung zu ihrem Ehemann nicht mehr aus und wollte diese beenden. Aber gleichzeitig hatte sie genau davor große Angst. Deshalb verdrängte sie ihren Wunsch, die Ehe zu beenden – und bekam Panikattacken. Oberflächlich betrachtet waren diese Panikattacken nur ein lästiger Störfaktor. Tatsächlich aber motivierten diese Panikattacken diese Frau dazu, in sich hineinzuhorchen und ihre verdrängten Gefühle endlich wahrzunehmen – und über eine Konfliktlösung nachzudenken. Auch negative Gefühle haben also einen Sinn und sollten nicht unterdrückt werden.

Es ist nicht sinnvoll, negativ gefärbte Gefühle zu verbannen

Ähnliches gilt auch in Bezug auf gesellschaftliche Verhältnisse und Konflikte. Wer keine Angst vor der Klimaerhitzung hat, kommt auch nicht auf die Idee, etwas zu verändern. Aber auch auf individueller Ebene: Wer immer wieder ungerecht behandelt und benachteiligt wird, der braucht Wut und Empörung, um sich dagegen aufzulehnen. Auch Neid ist keineswegs nur schlecht. Dieses Gefühl kann zum Beispiel dazu motivieren, sich weiterzuentwickeln, um etwas zu bekommen, um das man jemand anderen beneidet. Es ist also völlig einseitig und unter Umständen sogar gefährlich, negativ gefärbte oder belastende Gefühle aus dem Leben verbannen zu wollen, weil damit reale Konflikte verdrängt, aber nicht gelöst werden. So entsteht mit Sicherheit kein Glück, weder individuell noch gesellschaftlich.

Ein weiteres wichtiges Argument gegen die Positive Psychologie und Glücksforschung ist, dass sie den Benachteiligten und Opfern sozialer Verhältnisse das Recht abspricht, unter ihrem Schicksal zu leiden. Sie werden durch die Sichtweise der Glücksforschung quasi doppelt bestraft: Sie leiden an gesellschaftlichen Verhältnissen und werden dafür auch noch als im Grunde minderwertige Menschen verurteilt, die selbst Schuld haben an ihrem Leid.

Die Glücksforschung ist die Krankheit, die sie zu bekämpfen vorgibt

Die ganze Glücksindustrie lebt davon, dass Menschen sich nie tatsächlich „wirklich“ glücklich fühlen.

„Ob es um Schönheit, Fitness, Ernährung, Sex, Eheleben, Freundschaften oder Arbeitsbeziehungen geht (…), stets liegt den dafür angebotenen Produkten und Dienstleistungen der Gedanke zugrunde, dass niemand attraktiv, athletisch, offen, durchsetzungsfähig, engagiert, gesund, gut oder glücklich genug ist“ (S.161).

Mit anderen Worten: Die Glücksindustrie produziert systematisch „Glücksgestörte“, den immer etwas fehlt: eine wirksamere Selbststeuerung, eine gründlichere Selbsterkenntnis, eine optimistischere Einstellung zum Leben. Oder noch mehr Sinn für das eigene Leben.

Kritik und Resümee

Das Buch von Illouz und Cabanas ist für meinen Geschmack streckenweise etwas zu wissenschaftlich abgefasst. Ein etwas populärerer Stil hätte dem Buch sicher gut getan. Trotzdem kann ich es aus vollem Herzen empfehlen. Weil es die ganzen vermeintlich harmlosen Selbstoptimierungsstrategien als das entlarvt, was sie sind: Ideologien, die uns massiv manipulieren und die vor allem denen nützen, die aus der Selbstoptimierung und Glückssuche ein Geschäft gemacht haben. Diese „Glücksexperten“ vertreten einen geradezu totalitären Individualismus und leugnen gesellschaftliche Ursachen für Leid, Krankheit und Unglück. Wer diese individualistischen Glücksideologien („Jeder ist seines Glückes Schmied“) verinnerlicht, fängt zwangsläufig an, sich defizitär wahrzunehmen. Denn kein Mensch schafft es, den unrealistischen Normen der Glücksindustrie gerecht zu werden. Und genau das braucht diese Industrie: Menschen, die sich selbst als „glücksgestört“ erleben. Denn nur wenn Menschen sich selbst als defizitär wahrnehmen, besteht auch ein Grund, Glücks-, Erfolgs- und Motivationsratgeber zu kaufen. Oder noch viel teurere Seminare und Einzelcoachings zu buchen. Das Buch von Illouz und Cabanas kann deshalb eine regelrecht heilsame Wirkung entfalten, weil es den manipulativen Schleier der Glücksindustrie lüftet und in unserer Gesellschaft verbreitete Selbstverständlichkeiten in Frage stellt. Anders ausgedrückt: Es kann einem helfen, sich von einer vermeintlichen „Glücksstörung“ zu emanzipieren und innerlich ein freierer Mensch zu werden. Und ich meine: Dafür lohnt es sich auch, einen manchmal etwas spröden Text zu lesen.

Titelbild: kurhan/shutterstock.com

Edgar Cabanas, Eva Illouz: Das Glücksdiktat und wie es unser Leben beherrscht, Suhrkamp 2019, 242 Seiten, 15 Euro.


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