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Titel: Coronavirus – wie wichtig sind Menschenleben?

Datum: 2. März 2020 um 11:53 Uhr
Rubrik: Audio-Podcast, Gesundheitspolitik, Strategien der Meinungsmache, Wertedebatte
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Über das Wochenende hat sich die Zahl der in Deutschland positiv auf Covid-19 Getesteten verdoppelt. Doch dies ist nur eine grobe Schätzung, die Dunkelziffer dürfte wesentlich höher sein. Denn entgegen den vollmundigen Verlautbarungen und der fortlaufenden Selbstaffirmation, man sei bestens vorbereitet, zeigt die Realität vielmehr eine erschreckende Mischung aus Inkompetenz und Verdrängung. Dahinter könnte durchaus ein zynisches Kalkül stehen, bei dem die Gefährdung von Menschenleben im direkten Zielkonflikt zu den Interessen der Wirtschaft steht. Denn wer Kindergärten bei Covid-Erkrankungen schließt, müsste konsequenterweise auch Werkshallen und Bürotürme schließen. Von Jens Berger.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

„Wir müssen die Infektionsketten konsequent unterbrechen“ – so lautet die Vorgabe der Robert Koch Instituts, die Innenminister Horst Seehofer in den letzten Tagen wie ein Mantra in die Mikrofone betete. Das ist die Theorie. In der Praxis klingt das eher so: „Wir können nicht ins Blaue hinein testen, dafür haben wir in Deutschland gar nicht die Kapazitäten“, so der Landrat des besonders betroffenen Kreises Heinsberg am letzten Freitag. Heinsberg hat reagiert und seine eigene Strategie überarbeitet – man empfiehlt den unmittelbaren Kontaktpersonen der Erkrankten nun, sich „intensiv selbst zu beobachten“; ohne Symptome kein Test und keine Quarantäne, wohlwissend, dass auch symptomfreie Patienten das Virus weiterverbreiten. Von einem „konsequenten Unterbrechen der Infektionsketten“ ist außerhalb der Pressekonferenzen schon lange keine Rede mehr. Und das gilt bei weitem nicht nur für Heinsberg.

Wer beispielsweise selbst zu den konkreten Risikopersonen zählt und sich mit oder ohne Symptome auf das Virus testen lassen will, läuft derzeit in Deutschland gegen eine Wand aus Inkompetenz und Behördenwirrwarr. Die aus Norditalien zurückgekehrte Studentin Rebekka Berthold hat ihren verzweifelten Kampf um einen Test anschaulich auf Facebook geschildert. Ähnlich erging es einem Berliner Notfallsanitäter, dessen verzweifelter Wunsch nach einem Test vom Tagesspiegel wiedergegeben wurde. Einzelfälle? Nein, ganz im Gegenteil. Freundlich könnte man formulieren, dass die „Testlust“ der deutschen Behörden sich eher in Grenzen hält und es ja ohnehin kaum Möglichkeiten und Kapazitäten gibt, diese Tests vorzunehmen. Wer nicht misst, kriegt auch keine Infiziertenzahlen und muss sich nicht aufregen. Nur keine Panik!

Auch Hausärzte laufen mittlerweile Sturm und fühlen sich mit dem Problem überfordert und alleine gelassen. Noch dramatischer scheint die Situation in den Kliniken zu sein; hier ist man bestenfalls für ein paar vereinzelte Fälle vorbereitet. Das wird jedoch schon in ein paar Wochen nicht mehr reichen und spätestens wenn ein größerer Teil des Personals wegen Erkrankung ausfällt, droht die Situation vollends zu kippen.

Zufall? Fahrlässigkeit? Inkompetenz? Das mag sein, obgleich es schwerfällt, daran zu glauben. Schließlich kommt die Epidemie ja nicht überraschend und es ist ja auch nicht so, dass die deutschen Behörden sich in der Vergangenheit nicht in Planspielen auf vergleichbare Szenarien vorbereitet hätten. Es sieht vielmehr so aus, als hätte man vor allem Angst davor, nun die „richtigen“ Antworten auf die im Raum stehenden Fragen geben zu müssen.

Ein Blick nach China und hier vor allem in die besonders betroffene Provinz Hubei zeigt, wie eine konsequente Antwort auf die Epidemie aussehen könnte. Dort hat man rigoros ganze Städte und Regionen abgeriegelt und die Infektionsketten vor allem dort gestoppt, wo sie mit hoher Wahrscheinlichkeit auftreten – und dies ist nicht bei Sportveranstaltungen, sondern auf der Arbeit und dem damit verbundenen Weg zur Arbeit. Das geht in China so weit, dass der durch die stillliegenden Fabriken rückläufige Schadstoffausstoß sogar bereits auf Satellitenbildern sichtbar ist. Können Sie sich vorstellen, dass das VW-Werk in Wolfsburg oder die Deutsche Bank in Frankfurt ihre gesamten Mitarbeiter für zwei, drei Monate nach Hause schickt? Das wäre nämlich nötig, wenn man die Infektionsketten und damit die Epidemie wirklich konsequent unterbrechen wollte.

Über welchen Maßstab reden wir eigentlich? Der keinesfalls zu Alarmismus neigende Virologe Christian Drosten geht mittlerweile davon aus, dass sich 60 bis 70 Prozent der deutschen Bevölkerung mit dem neuen Coronavirus infizieren könnten. Würde man dies auf die offiziellen Sterberaten der Weltgesundheitsorganisation und des Robert Koch Instituts (also 1,0 bis 2,0 Prozent) übertragen, käme man auf 480.000 bis 1.120.000 Millionen Tote. Diese Schätzung mag ein wenig zu hoch sein. Doch selbst wenn man eine deutlich niedrigere Sterberate von 0,5 Prozent annimmt, sprechen wir immer noch von 240.000 bis 280.000 Menschenleben. Um diese Zahl einmal ins Verhältnis zu setzen: Welche Anstrengungen, Kosten und Einschränkungen der Grundrechte war der Politik doch gleich eine zweistellige Zahl von Opfern islamistischer Terroranschläge wert? Vor diesem Vergleich wirkt das momentane Desinteresse geradezu verstörend.

Woran liegt es? Liegt es vielleicht daran, dass offenbar der Großteil der potentiellen Opfer zum Kreis der Alten und Erkrankten zählen wird? Ja, diese Frage ist zynisch. Wer sie zu zynisch findet, sollte sich selbst einmal die Frage stellen, ob sich die Politik bei der konkreten Bedrohung von mehr als 200.000 Kinderleben vielleicht auch derart gelassen zurücklehnen würde. Wohl kaum. Oder liegt es daran, dass die Epidemie nun ohnehin nicht mehr gestoppt werden kann? Das ist zwar richtig, aber jeder ernsthafte Epidemiologe weist zur Zeit mit Nachdruck darauf hin, wie wichtig es wäre, Zeit zu gewinnen. Zeit, die beispielsweise zur Entwicklung von Medikamenten oder gar Impfstoffen genutzt werden kann; Zeit, die vielleicht sogar dazu führt, dass die Virulenz in den warmen Frühjahrs- und Sommermonaten massiv zurückgeht und im besten Falle die Sterbeziffern ebenfalls zurückgehen lässt. Das wäre aber nur möglich, wenn man schnell und konsequent handelt und getreu RKI und Seehofer die Infektionsketten konsequent unterbricht … und genau dies findet ja eben nicht statt. Es geht ja (noch) nicht darum, das VW-Werk in Wolfsburg oder gar die Deutsche Bank dicht zu machen; aber wenn der deutsche Staat es noch nicht einmal für nötig oder möglich hält, eine vier- bis fünfstellige Zahl von direkten Kontaktpersonen aus dem Umfeld der Infizierten sachgerecht zu betreuen, ist eigentlich jede weitere Debatte überflüssig. Die Politik hat kapituliert. Es bleibt die Frage nach dem „Warum“.

Und diese Frage stellt offenbar eine – vielleicht zynisch klingende – Abwägung dar: Was ist gesellschaftlich wichtiger? Produktionszahlen und die Konjunktur oder die potentiellen Opfer an Menschenleben?

Was würde denn konkret passieren, wenn Deutschland – mehr oder weniger nach dem Vorbild Chinas – nun konsequent an die Sache ginge? Dann müssten nicht nur nach dem Vorbild der Schweiz oder Frankreichs Großveranstaltungen á la Leipziger Buchmesse für einige Wochen bis Monate untersagt werden, sondern man müsste generell Menschenansammlungen so gut wie möglich unterbinden. In Peking – das vom Covid-19-Cluster Wuhan ungefähr so weit entfernt ist wie Berlin vom Covid-19-Cluster in der Lombardei – sind beispielsweise seit mehr als einem Monat selbst während der eigentlichen „Rush Hour“ die U-Bahnen nahezu menschenleer; die Pekinger arbeiten so gut es geht von zu Hause aus, Lieferdienste haben den Einkauf im Supermarkt weitestgehend verdrängt. Auf den Straßen und in den Parks regiert die Leere. Das sind keine kosmetischen Maßnahmen, wie das Schließen einer Kita oder die Absage einer Messe. Hier geht es vielmehr um den Kern des Wirtschaftslebens.

Wenn die konsequente Antwort auf die offenen Fragen so aussieht, muss man wohl oder übel konstatieren, dass sie mit dem neoliberal geprägten Wirtschaftssystem des Westens nicht kompatibel ist. Unsere neoliberale Politik ist in keiner Form auf eine Epidemie vorbereitet und das liegt wohl auch daran, dass es keine zufriedenstellende „systemimmanente“ Antwort auf das Virus gibt.

„Teile meiner Antwort könnten sie verunsichern“ – so lautet ein berüchtigtes Zitat des ehemaligen Bundesinnenministers de Maizière zu den Terroranschlägen 2015 vor dem Stade de France. Es ist zu befürchten, dass nicht nur Teile, sondern vor allem die Fallzahlen zum Coronavirus die Menschen in der Tat verunsichern könnten. Also spielt man die Sache herunter und auf Zeit. Irgendwann werden die Ticker verschwinden, die Zahl der Infizierten wird erst fünf- und dann sechsstellige Ziffern erklimmen und da ja „nur“ jeder Hundertste bis Zweihundertste an dem Virus stirbt, wird schon bald nur noch ein unbequemes statistisches Rauschen bleiben. Ein paar Alte und Kranke weniger und woher die tödliche Lungenentzündung kam, weiß ja ohnehin niemand mit Sicherheit … das sind halt Kollateralschäden in unserem wunderbaren neoliberalen System. Keep Calm and Carry On.

Titelbild: All-stock-photos/shutterstock.com


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