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Titel: Das Phrasen-Virus: Steinmeier und die Solidarität

Datum: 27. März 2020 um 12:42 Uhr
Rubrik: Audio-Podcast, einzelne Politiker/Personen der Zeitgeschichte, Strategien der Meinungsmache, Wertedebatte
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Der Demaskierung der westlichen Politik versuchen deutsche Politiker eine aktuelle Offensive entgegenzusetzen: Das Bild der fehlenden Solidarität soll durch Phrasen von der Solidarität korrigiert werden. So haben gerade mit Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen einmal mehr Repräsentanten der gesellschaftlichen Spaltung zu eben jener „Solidarität“ aufgerufen. Die Verantwortung für Spaltungen soll abgewälzt werden. Von Tobias Riegel.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Dass die Folgen des Corona-Virus das Potenzial haben, den Westen zu demaskieren, haben die NachDenkSeiten gerade in diesem Artikel vermutet. Dieser Demaskierung – etwa der unmenschlichen Sanktionen nach außen und der kalten Kürzungspolitik im Innern – versuchen prominente deutsche Politiker nun eine Offensive entgegenzusetzen: Das Bild der fehlenden Solidarität soll durch Phrasen von der Solidarität korrigiert werden. So haben gerade mit Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier (SPD) und EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen (CDU) einmal mehr Repräsentanten der gesellschaftlichen Spaltung zur „Solidarität“ aufgerufen. Begleitet wird das von zahlreichen Artikeln in privaten und öffentlich-rechtlichen Medien, der Fokus soll hier aber auf den Politikern liegen. Steinmeiers Videobotschaft vom Donnerstag findet sich unter diesem Link, auf die jüngste Rede von der Leyens wird in diesem Artikel eingegangen, Zitate folgen weiter unten.

Steinmeier und von der Leyen: Repräsentanten der Spaltung

Steinmeier und von der Leyen sind zwei der exponiertesten Repräsentanten der bundesdeutschen Innen- und Außenpolitik der vergangenen Jahrzehnte. Beide sind sie Symbole der gesellschaftlichen Spaltung. Die Schwächung der staatlichen Institutionen, die Kürzungen, die Privatisierungen und die dadurch ausgelösten gesellschaftlichen Schockwellen gehen auch auf das Konto der beiden Politiker. Diese Handlungen haben nach innen höchst destruktiv gewirkt: Sie sind zentral verantwortlich für die Polarisierung und Entsolidarisierung der Gesellschaft und dadurch auch indirekt für den Rechtsruck.

Innenpolitisch sei in Bezug auf Steinmeier etwa an seine zentrale Rolle bei der Schaffung von Hartz IV erinnert – es gab wohl wenige Ereignisse in den vergangenen Jahrzehnten, die mehr zu einer gesellschaftlichen Entsolidarisierung beigetragen haben. Von der Leyen steht solchen neoliberalen Überzeugungen wohl in nichts nach. Und auch in der Außenpolitik symbolisieren Steinmeier und von der Leyen vieles – aber nicht die internationale Solidarität, die nun von ihnen beschworen wird. Bei Steinmeier sei etwa auf seine bedenkliche Rolle beim Kosovo-Krieg oder bei der Kurnaz-Affäre verwiesen. Bei von der Leyen unter vielem anderem auf ihre Agitationen gegen Russland. Beide Politiker spielen bis heute bei Wirtschaftssanktionen, z.B. gegen Syrien, keine gute Rolle.

Die Verantwortlichen benennen

Dieser Befund zu Steinmeier, von der Leyen und anderen dem Wirtschaftsliberalismus und den außenpolitischen Feindbildern verbundenen Politikern kann nicht mehr überraschen – er sollte aber dennoch empören. Die Verantwortlichen sowohl für die Kürzungen im Innern als auch für Sanktionen und Aggressionen nach außen sollten immer wieder benannt werden, auch wenn das ermüdende Wiederholungen bedeuten sollte.

Dieses Beharren auf der Feststellung der Verantwortlichkeiten ist wichtig. Zum einen, um die Verantwortlichen nicht ohne wenigstens moralische Sanktionen davonkommen zu lassen. Zum anderen, um den Opfern westlicher Sanktionen im Ausland und den Opfern von Hartz-IV-Sanktionen im Inland auf diese Weise (echte) Solidarität zu vermitteln. Zu guter Letzt müssen die Fehler der Vergangenheit mindestens eingeräumt werden, um sie in Zukunft zu verhindern.

Vom neoliberalen Saulus zum solidarischen Paulus?

In diesem Text soll natürlich nicht die Solidarität selber diffamiert werden, oder die Rufe danach. Zudem sind aktuell auch beeindruckende Szenen der Unterstützung unter den Bürgern zu beobachten. Auch wäre eine Wandlung Steinmeiers und anderer belasteter Politiker vom Saulus zum Paulus natürlich zu begrüßen: besser spät als nie – diesem Heilungsprozess sollten dann auch keine Steine in den Weg gelegt werden. Aber: Die Erfahrung mit den moralischen Appellen der Neoliberalen, die immer auch von der eigenen Verantwortung ablenken sollen, sind niederschmetternd. Allzu oft haben sie sich als Betrug offenbart. Das Vertrauen in diese Floskeln ist restlos dahin. Bereits kürzlich, nach den Anschlägen von Hanau, wurde das Vertrauen in die moralischen Phrasen der Politik strapaziert, wie die NachDenkSeiten geschrieben haben:

„Übrig bleibt zahlreichen Politikern nun die Moral. Das ist nachvollziehbar: Investitionen in Sozialstaat und Justiz sind teuer – die Moral bekommt man umsonst. Zusätzlich wälzt man dadurch die eigene Verantwortung auf die Bürger ab, die sich angeblich weigern, beim Kampf gegen Rechts ‚endlich aus der Komfort-Zone herauszukommen‘.“

Die Zeit der warmen Worte ist also vorbei – endgültig. Wer sie fortführt, ohne schnell und deutlich praktische und reale Änderungen etwa im Steuerrecht und dem Lohngefüge herbeizuführen, handelt noch zynischer als die den Paketschleppern vom Balkon aus applaudierenden Großbürger – denn Steinmeier hatte als langjähriger Top-Politiker zumindest theoretisch die Macht und den Einfluss, echte Verbesserungen für diese Menschen – also echte gesellschaftliche Solidarität – herbeizuführen. Diese Verbesserungen bestünden vor allem und unter anderem im Abschmelzen der obszönen gesellschaftlichen Ungleichheiten durch Steuern und durch einen Wiederaufbau staatlicher Strukturen durch üppige Investitionen in Personal und Infrastruktur.

Fortgesetzter Betrug: Warme Worte ohne Folgen

Doch von solchen konkreten Verbesserungen findet sich so gut wie nichts in Steinmeiers aktueller Videobotschaft. Statt dessen zahlreiche schöne und warme Worte. Dadurch, dass er keinen echten Willen zu praktischen Änderungen erkennen lässt (etwa für die hier „gelobten“ Kassiererinnen und Lehrer), wandeln sich auch diese Worte in einen mutmaßlichen Betrug. Etwa an den hier angesprochenen „Helden der Corona-Krise“:

„Sie alle, Sie sind die Heldinnen und Helden in der Corona-Krise. Einige von Ihnen habe ich in dieser Woche am Telefon gesprochen: die Filialleiterin zum Beispiel im Supermarkt, die mit ihrem Team 12-Stunden-Schichten schiebt, damit die Regale nicht leer bleiben. Oder die Grundschullehrerin, die auf dem Dachboden Lernvideos für ihre Schülerinnen und Schüler dreht.“

Teils werden merkwürdige Formulierungen verwendet, etwa: „Diese Stunde dauert keine 60 Minuten. Sie dauert womöglich Wochen.“ Der folgende Absatz erscheint heuchlerisch – nicht nur weil auch Deutschland und die EU zahlreiche Länder mit Wirtschaftssanktionen terrorisieren, wie die NachDenkSeiten gerade in diesem Artikel beschrieben haben. Die Sätze sind anmaßend, auch weil die Aufnahme der Kranken in Deutschland alles andere als selbstverständlich vonstatten ging und weil sie etwa Deutschlands Ausfuhr-Blockade für Atemschutzmasken verschweigen:

„Und Solidarität heißt auch das: Unser Blick muss weiter reichen als bis zum nächsten Grenzzaun. Uns allen zerreißt es doch das Herz, wenn wir die Bilder aus Italien sehen. Wie gut, dass Krankenhäuser bei uns in Deutschland jetzt auch schwerkranke italienische und französische Patienten behandeln. Ich wünsche mir mehr solche konkrete Solidarität im europäischen Geist.“

Pathos statt Substanz nutzte die Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen am Donnerstag, wie Medien berichten. Demnach hatte von der Leyen vor dem Gipfel im Europaparlament über nationale Egoismen in der Corona-Krise geklagt: “Als Europa wirklich füreinander da sein musste, haben zu viele zunächst nur an sich selbst gedacht.“ Europa stehe an einer Weggabel. “Die Geschichte schaut auf uns. Lassen Sie uns gemeinsam das Richtige tun – mit einem großen Herzen, nicht mit 27 kleinen.” Für diese Äußerungen gilt die gleiche Bewertung wie für jene Steinmeiers.

Die neue Front der „Solidarität“: Merkel, Steinmeier, von der Leyen

Steinmeier und von der Leyen sind nicht die ersten und nicht die einzigen Politiker, die nun durchsichtige Forderungen nach Solidarität formulieren: Es scheint, als würde sich neben dem Corona-Virus ein Phrasen-Virus ausbreiten. So hat Jens Berger gerade in diesem Artikel über einen zynischen Corona-Appell von Angela Merkel berichtet, ein anderer Auftritt der Kanzlerin wurde von Albrecht Müller in diesem Artikel analysiert. Jens Berger schreibt:

„Genau die Politiker, die sich jetzt in gespielter Ehrfurcht vor dem Pflegepersonal verneigen, haben sämtliche Mahnungen in den Wind geschlagen und durch ihre Politik erst dafür gesorgt, dass die Lage von Jahr zu Jahr noch schlimmer wurde.“

Albrecht Müller ergänzt:

„Der ganze Mist, den man hinterlassen hat – vom Kaputtsparen des Gesundheitssystems über die Privatisierung der Krankenhäuser und die Auslagerung von Laborkapazitäten bis zur Verlagerung der Produktion von medizinischen Gütern in weit entfernte Länder – wird verdeckt und stinkt nicht mehr.“

Verliert die EU den „Kampf der Bilder“?

Die jetzige hektische „Solidarität“ der großen Politik erscheint eher wie eine Reaktion auf die drohende Niederlage in einem geopolitischen „Kampf der Bilder“ denn wie eine ernstgemeinte Hilfestellung. Statt um einen “Kampf der Bilder“ sollte es aber doch um einen Wettstreit der Inhalte gehen. Weil aber so getan wird, als sei nicht eine bürgerfreundlichere Politik zentral, sondern der Wettstreit in der Propaganda – auch darum macht die EU eine schwache Figur in diesem Kampf: Die moralischen Defizite sind zu offensichtlich, als dass sie noch mit warmen Worten zugedeckt werden könnten. Andererseits lehrt die Erfahrung: Viel mehr als warme Worte wird nicht kommen. Es wäre gut, man würde nun unverhofft eines Besseren belehrt.


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Titelbild: Bjoern Deutschmann / Shutterstock


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