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Titel: Brasilien – Sérgio Moro, der Abgang eines Ehrlosen und die Spaltung der rechtsradikalen Szene

Datum: 30. April 2020 um 13:12 Uhr
Rubrik: einzelne Politiker/Personen der Zeitgeschichte, Erosion der Demokratie, Länderberichte, Medienkritik
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Sérgio Moro, der ehemalige brasilianische Bundesrichter und seit dem 1. Januar 2019 amtierender Justizminister des Jair-Bolsonaro-Regimes, nahm am vergangenen 24. April seinen Hut. Ein Bericht von Frederico Füllgraf.

Die Amtsniederlegung wäre keine sonderlich bedeutende Nachricht, hätten in- und ausländische konservative Medien und Think Tanks den ideologischen Kopf der Einsatzgruppe zur Korruptionsbekämpfung – Codewort „Lavajato”/„Autowaschanlage” – nicht mehrfach mit Preisen, Medaillen und Ehrungen ausgezeichnet. Das US-amerikanische Time-Magazin bezeichnete ihn 2016 als einen der „100 einflussreichsten people” auf der internationalen Bühne und die in Berlin angesiedelte, neoliberale NGO Transparency International bemühte sich im gleichen Jahr um eine Werbeshow für Moro in Deutschland.

Moros halbstündige Presseerklärung zur Begründung seiner Entscheidung gehorchte einer raffinierten Dramaturgie, nämlich einem Mix aus respektierlichem Ton und landesweitem Knalleffekt.

Neun Minister in 15 Regierungsmonaten gefeuert

Sein gar nicht überraschender Rücktritt machte auf dramatische Weise die Labilität und Unberechenbarkeit der wirren Administration Bolsonaro deutlich, die innerhalb von 15 Regierungsmonaten 8 Kabinettsminister vor die Tür setzte; Sérgio Moro ist der neunte im Bunde. Zusammen mit Wirtschaftsminister Paulo Guedes bildete der Jurist das Duo der sogenannten „Superminister”, also die Formel, die Guedes‘ Turbo-Liberalismus zur Zerschlagung der Überreste des bescheidenen brasilianischen Sozialstaates mit Moros Lawfare-Doktrin zur Kriminalisierung der stärksten politischen Partei im Lande – Lulas Arbeiterpartei (PT) – zur Perfektion vereinigen sollte. Indes scheinen Guedes‘ Tage ebenfalls gezählt, der Chicago-Boy und ehemalige Hochschullehrer im Chile Augusto Pinochets soll nach Vermutungen brasilianischer Medien „das nächste Ziel sein”. Mit ihm zugleich könnte auch die erst seit wenigen Wochen amtierende Kulturministerin Regina Duarte – ein pensionierter Telenovela-Star der Mediengruppe Globo – gefeuert werden.

Der ausschlaggebende Anlass für den Minister-Rücktritt war Bolsonaros Nacht-und-Nebel-Entscheidung, den Moro-Vertrauten und ihm hierarchisch untergeordneten Chef der Bundespolizei (PF), Mauricio Valeixo, ohne Rücksprache mit dem Minister zu entlassen und durch einen unerfahrenen Duzfreund seines Sohnes Carlos Bolsonaro, den Polizeibeamten Alexandre Ramagem, zu ersetzen, dessen Nominierung allerdings am 29. April vom Obersten Gerichtshof (STF) untersagt wurde. Bolsonaro erklärte seine Absicht, in Berufung zu gehen und nominierte unterdessen den evangelikalen Prediger der Presbyterianischen Kirche und amtierenden Bundesanwalt André Mendonça zum Nachfolger Moros im Justizministerium.

Inmitten der Covid-19-Ausbreitung in Brasilien – die mit der höchsten Infektionsrate der Welt und mehr Toten als in China vor allem dem wahnwitzigen Negationismus und dem regelrechten Boykott der weltweit angewendeten Sanitärmaßnahmen durch den Staatschef verschuldet ist – setzt Jair Bolsonaro auf Konfrontation mit den Restbeständen der demokratischen Institutionen. Im STF sind in den vergangenen Wochen 31 Anträge auf seine Amtsenthebung eingegangen. Der Sieger des auf die Spitze getriebenen Konflikts wird in wenigen Wochen bekannt sein; entweder Bolsonaro oder die Demokratie.

Doch zurück zu Sérgio Moro.

Moros unehrenhafte Umtriebe und die Galanterie der deutschen „Leitmedien”

In ihrer Berichterstattung über Sérgio Moros Rücktritt konzentrierte die Mehrheit des deutschen Mainstreams sich auf den Fall Valeixo. Der gleiche Titel, „Bolsonaros Justizminister geht im Streit”, fand sich selbst bei ordentlichem Durchforsten des Blätterwaldes und der TV-Anstalten – von Die Welt über Handelsblatt, ntv bis hin zu Regionalzeitungen und digitalen Plattformen – in mindestens 20 unterschiedlichen deutschen Medien wieder. Ein Umstand, der niedrige Recherche-Bereitschaft, aber auch eine eloquente Trägheit im Umgang mit verfügbaren Archivdaten erkennen lässt.

Dass Moro vor einem Monat beschwichtigte, es gäbe keinen Grund, sich über die Covid19-Pandemie in den Gefängnissen Sorgen zu machen, jedoch angesichts der mit mehr als 100 Positiv-Fällen rasant ansteigenden Infizierungsrate wenige Tage vor seinem Rücktritt nun die Isolierung und brutale Einsperrung der Häftlinge in Schiffscontainer empfahl, darüber findet sich in keinem deutschen Medium ein Sterbenswort. Der Nationale Justizrat (CNJ) und der STF erklärten den hanebüchenen Vorschlag für gesetzwidrig und mehrere Menschenrechts-Organisationen, darunter die Katholischen Kirche, veröffentlichten einen empörten Offenen Brief gegen den Ex-Minister.

Doch die Unterlassungen oder die Fehlinterpretationen deutscher Medien sind sowohl im Rückblick wie als Vorschau weitreichender. Das Handelsblatt schrieb, „nach der Entlassung mehrere (sic!) Minister wird Präsident Jair Bolsonaro jetzt mit Hilfe der Militärs regieren. Die Demokratie Brasiliens ist bedroht”. Die Einschätzung beruht auf einem Missverständnis, denn Bolsonaro wurde seit 2017 von den Militärs als Kandidat aufgebaut und die Militärs beherrschen seine Regierung seit seinem Amtsantritt vom 1. Januar 2019.

Der Spiegel bediente seine Leser mit einer 40-Zeilen-Meldung. „2017 hatte er (Moro) als Bundesrichter den ehemaligen linksgerichtete(n) Präsident Luiz Inácio Lula da Silva in erster Instanz wegen Bestechlichkeit zu einer Freiheitsstrafe verurteilt. Im vergangenen Jahr wurden Vorwürfe laut, dass Moro dabei sein Amt missbraucht haben soll”, heißt es in der Meldung. Mit keinem Wort wird der vom Nachrichtenportal The Intercept 2019 enthüllte, größte Justizskandal aller Zeiten mit Moro als Protagonisten erwähnt, über den die NachDenkSeiten fortlaufend berichteten.

Die Welt vom Axel-Springer-Konzern wiederum versuchte Moro eine Ehrenhaftigkeit zu attestieren, die der Jurist erwiesenermaßen nicht besitzt. Ihr Redakteur schrieb: „Solange „der Unbestechliche” mit an Bord war, werde es in der Regierung Bolsonaro keine Korruption geben, glaubten die Bolsonaro-Wähler. Nun ist Moro weg und mit ihm Bolsonaros Glaubwürdigkeit.”

Selbst dem linken Neuen Deutschland gelang es kaum, mit Sätzen wie „der Abgang Moros trifft die Bolsonaro-Regierung hart. Der extrem beliebte Moro war eine Brücke zur politischen Mitte…”, seltsame Verbeugungen vor dem weltweit umstrittenen Juristen zu verbergen.

Den Gipfel der Beweihräucherung erreichte die öffentlich-rechtliche Tagesschau. „Moro hatte sich als Kämpfer gegen Korruption und Vetternwirtschaft einen Namen gemacht. Er leitete die Ermittlungen zum Lava Jato-Skandal, dem größten Schmiergeld-Geflecht Lateinamerikas. In dieser Funktion brachte er auch Ex-Präsident Lula da Silva ins Gefängnis. Doch jetzt sei die Unabhängigkeit der Ermittler in Gefahr, sagte Moro”, berichtete der Korrespondent aus Südamerika. Eine Info-Box verweist auf Moros „Verdienste”. Sie endet kommentarlos mit Altpräsident Lulas Verurteilung und Verhaftung, jedoch kein Sterbenswort über die seit Jahren angeprangerte und 2019 von The Intercept enthüllte Justiz-Farce.

Die Fakten

Wie die NachDenkSeiten mehrfach vor den Intercept-Enthüllungen berichteten (hier und hier, handelten Sérgio Moro und die von ihm illegal intervenierte Staatsanwaltschaft wenn nicht in direktem Auftrag, so doch unter Anleitung des US-Department of Justice (DoJ); ein Umstand, der dem Richter und den involvierten Staatsanwälten die Anschuldigung der „US-Agenten” einbrachte.

Während den mehr als vierjährigen Korruptionsermittlungen der Einsatzgruppe „Lava Jato” beging Sérgio Moro wiederholte Rechtsbrüche, Missbräuche und Gesetzwidrigkeiten, zum Beispiel in das Vorgehen der Staatsanwaltschaft und der Bundespolizei unangemessen eingegriffen und gestört zu haben. Moro, soweit geht aus dokumentierten Beweisen hervor, agierte als Ankläger und Richter und korrumpierte das Justizsystem. Die Kriminalisierung Luis Inácio Lula da Silvas und der Arbeiterpartei (PT) gehörte zu den mehrfach nachgewiesenen Obsessionen des Richters. Moro verurteilte Lula in einem ruchlosen Prozess bar jeder Beweisführung, ließ den Präsidentschaftsanwärter im April 2018 verhaften, verhinderte seine Kandidatur, begünstigte jedoch die Jair Bolsonaros, der zwei Monate vor der Wahl nur die Hälfte (18,8 Prozent) der Stimmenintentionen Lulas (37,3 Prozent) auf sich vereinigte, und wurde dafür nach Bolsonaros Wahl mit dem Justizministerium „belohnt”.

Während seiner 14-monatigen Amtszeit beging Moro ebenfalls eine Reihe politisch motivierter, gesetzwidriger Handlungen. Ja, nicht nur Bolsonaro intervenierte in die Bundespolizei – Moro tat es mehrfach als Justizminister. Zum Schutz Bolsonaros und seiner kriminellen Söhne. Mit zwei gravierenden Akten sorgte Moro für die „Panzerung” und Abwendung juristischer Schritte gegen Bolsonaro. Zum einen als Inszenierer einer vermeintlichen Messerattacke während seiner Wahlkampagne. Zum anderen als Mitwisser und Involvierter im Mord an der Stadtverordneten Marielle Franco, deren erwiesene Mörder langjährige Mitarbeiter von Bolsonaros Sohn Flávio und Nachbarn des Staatschefs sind. Ebenso gravierend hintertrieb Moro Ermittlungen über die kriminellen Fake-News-Umtriebe von Bolsonaros Söhnen Carlos und Eduardo, deren Enthüllung eventuell den Nachweis des skandalösen Wahlsiegs Bolsonaros durch einen Wahlschwindel erbringen könnten.

Sérgio Moro: vom „Operator” im Dienste der Militärs zum „Verräter”

Moros ideologische Offensive wurde seit 2014 – insbesondere wegen seines entscheidenden Einflusses auf den Sturz von Präsidentin Dilma Rousseff im Jahr 2016 – vom rechtsradikalen, revanchistischen Flügel der brasilianischen Armee mit Argusaugen verfolgt und es ist nicht auszuschließen, dass dem Ministerposten-Angebot Bolsonaros geheime Absprachen Moros mit der Generalität vorausgingen beziehungsweise dass Bolsonaro dazu überredet wurde.

Der erstinstanzliche Provinzrichter war den Streitkräften weder unbekannt noch einerlei. Schon während der Regierung Michel Temer (2016-2019) zeichnete ihn die Armee Mitte April 2017 mit dem Orden „Militärische Verdienste” aus, der ausdrücklich und ausschließlich an Persönlichkeiten verliehen wird, die der Armee „relevante Dienste“ geleistet haben. Dem war am 1. April des gleichen Jahres eine Ehrung durch das Oberste Appellationsgericht (STJ) und das Oberste Militärgericht (STM) vorausgegangen. Ende August 2017 wiederholte die Armee ihre ideologische Umarmung des Richters mit der Verleihung eines dritten Ordens – diesmal „in Anerkennung relevanter Dienste für Brasilien“. Als die Spannungen zwischen Bolsonaro und Moro zum offenen Geheimnis wurden, versuchten die Generäle Luiz Eduardo Ramos und Braga Netto den Doppelminister für Justiz und Öffentliche Sicherheit vom Verbleib zu überzeugen. Ihre Mission scheiterte jedoch, Sergio Moro schied trotz gutem Zureden aus.

Seine Entscheidung trug der Jurist mit temperierter Empörung vor. Wenige Stunden vor seinem öffentlichen Rücktritt hatte Bolsonaro, wie bereits erwähnt, Polizeichef Mauricio Valeixo fristlos entlassen. „Der Wechsel an der Spitze der Bundespolizei ohne echten Grund ist eine politische Einflussnahme, die meine Glaubwürdigkeit und die der Regierung erschüttert”, erklärte der nun arbeitslose, ehemalige Richter und demissionierte Minister. Aus den von Militärs kommandierten Ministerien im Regierungspalast Alvorada meldete sich Protest. Einzelne Generäle fühlten sich von Bolsonaros Coup gegen Valeixo „verraten” und sparten nicht mit Metaphern. Bolsonaro habe sich unwiderruflich isoliert und müsse als „Zombie” betrachtet werden.

Doch die Stimmung schlug bald nach Sergio Moros öffentlicher Rücktrittserklärung um. Nachdem der Ex-Justizminister mit der Veröffentlichung geheimer WhatsApp-Gespräche mit Bolsonaro gedroht hatte, wurde er in Handumdrehen ebenso als „Verräter” beschimpft, jedoch nicht von allen Militärs.

Grob betrachtet ist seit dem 24. April das ultrarechte, faschistoide Regime-Bündnis in zwei antagonistische Lager gespalten: in das der Bolsonaro-„Herde” und das der Moro-Anhänger. Letztgenannte zauberten aus dem Nullkommanichts eine Medienkampagne für Moro als Präsidentschaftskandidat im Jahr 2022. Ein umstrittenes Umfrage-Institut aus Moros Wohnort Curitiba will eruiert haben, dass „56 Prozent der Brasilianer Moro als Präsidenten befürworten”. Brasiliens Demokraten und Linke müssen sich zusammenraufen und sputen, um das Geschehen nicht als passive Zuschauer zu erleben.

Titelbild: Marcelo Chello / Shutterstock


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