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Titel: Mindestlohndebatte – ein weiteres Beispiel der erfolgreichen CDU/CSU-Strategie des Getrennt-Marschierens und Vereint-Schlagens

Datum: 27. Mai 2020 um 10:24 Uhr
Rubrik: Arbeitsmarkt und Arbeitsmarktpolitik, Audio-Podcast, CDU/CSU, Strategien der Meinungsmache
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Die Aufregung im politischen Berlin war groß. Da hatte doch eine Arbeitsgruppe der CDU tatsächlich eine Senkung des Mindestlohns gefordert. Wenige Wochen, nachdem die Kanzlerin höchstpersönlich auch die oft zum Mindestlohn bezahlten Arbeitskräfte in den Supermärkten großzügig für systemrelevant erklärte, erscheint dieser Vorstoß dann doch – drücken wir es mal sehr wohlwollend aus – ein wenig kühn. Wie kaum anders zu erwarten, folgte dann auch wenige Stunden später der Rückpfiff durch die Parteichefin: „Hände weg vom Mindestlohn“. Hat die Parteispitze ihre Fraktion nicht im Griff? Das Gegenteil dürfte der Fall sein. Mit diesem Vorstoß erweiterte die Union den Debattenraum. Nun steht ein ganzer Reigen neoliberaler Grausamkeiten in der Diskussion und es dürfte CDU und CSU nun leichter fallen, die ohnehin geplanten Punkte wie vor allem die vollständige Streichung des Solidaritätszuschlags, von der ohnehin nur die Topverdiener profitieren, durchzudrücken. Der Koalitionspartner SPD und die Medien machen es ihnen ja auch denkbar einfach. Von Jens Berger.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Planen Kreise der CDU ernsthaft eine Senkung des Mindestlohns? Davon ist nicht auszugehen. Es ist zwar kein Geheimnis, dass die CDU den Mindestlohn lieber heute als morgen abschaffen würde, aber da die Unionsparteien bekanntlich keine absolute Mehrheit im Bundestag haben, wäre dafür die Zustimmung der SPD erforderlich und die scheint bei aller Prinzipienlosigkeit dieser Partei dann doch sehr unwahrscheinlich. Fordern kann man indes viel. Und das macht sogar Sinn, wenn man durch ohnehin nicht erfüllbare Maximalforderungen den Debattenraum erweitert und damit andere Forderungen leichter unterbringen kann.

Man darf sich das in etwa so vorstellen wie eine kleine „Koalitionsverhandlung“ im Familienkreis. Die liebe Tochter wünscht sich innerlich, dass ihre Eltern ihr Reitstunden finanzieren, weiß aber auch, dass sie mit diesem Wunsch nicht durchkommt. Was also tun? Ganz einfach: Sie wünscht sich keine Reitstunden, sondern ein Pferd; wohlwissend, dass diese „Maximalforderung“ ohnehin keine Chance hat. Sie hat jedoch den Debattenraum durch diese nicht ernsthaft gemeinte Maximalforderung erweitert und nun könnte die Finanzierung der Reitstunden bei den Eltern als rationaler Kompromiss durchgehen. Die meisten Eltern würden eine solche Taktik sicherlich durchschauen. Die SPD ist nicht so schlau und steht stets wie das Karnickel vor der Schlange, wenn die CDU mal wieder diese „Tochter-Taktik“ aus dem Hut zaubert.

Dabei ging die CDU wie stets ausgesprochen clever vor. Man verpackte die Maximalforderung zusammen mit anderen – ebenfalls unannehmbaren – Forderungen in einem Programmpapier, das man dann über dpa und Handelsblatt gezielt in den Medien streute und genüsslich die Reaktionen auf dieses „Leak“ abwarten konnte. Nun übernahm Annegret Kramp-Karrenbauer und twitterte ein Machtwort … freilich nur zur Maximalforderung, aber nicht zu den sonstigen Forderungen aus dem Programmpapier.

Die Außenwirkung dürfte für die CDU erfreulich sein: Parteichefin mit Herz pfeift die neoliberalen Trommler in ihrer Partei zurück. Hätten die Trommler das Thema Mindestlohn aus ihrem Papier herausgelassen, würden die anderen Punkte als Maximalforderung im Raum stehen und kritisiert werden. Getrennt-Marschieren, Vereint-Schlagen.

Lesen Sie dazu die beiden Artikel „Getrennt marschieren und vereint schlagen. Zur verdammt cleveren Strategie von CSU und CDU.“ und „Ein weiterer Erfolg der CDU- und CSU-Strategie des Getrennt-Marschierens und Vereint-Schlagens“ von Albrecht Müller.

Die Maximalforderung der Senkung des Mindestlohns dürfte nun erst mal vom Tisch sein. Aber was ist mit den anderen Forderungen der wirtschaftsliberalen Extremisten in der CDU-Fraktion? Was ist mit der Forderung, eine wöchentliche Höchstarbeitszeit von 48 Stunden festzulegen? Was ist mit der „verbindlichen und langfristigen“ Deckelung der Beiträge zur Sozialversicherung auf 40 Prozent? Diese Punkte werden nun in Koalitionsverhandlungen heiß mit der SPD debattiert werden, wobei abzusehen ist, dass die CDU sich auch hier nicht durchsetzen kann. Aber wollte sie das überhaupt? Wahrscheinlicher ist, dass es CDU und CSU neben der Öffnung des allgemeinen Debattenraums für neoliberale Positionen vor allem um den letzten Punkt im Forderungskatalog geht: Der sofortigen Streichung des Solidaritätszuschlags.

Hier tobt seit längerem ein Kampf zwischen den Unionsparteien und der SPD. Letztere hatte sich schon so weit über den Tisch ziehen lassen, dass sie einer Kombination aus Senkung und Streichung des Solis für den Großteil der Beschäftigten zum 1. Januar zustimmte. Fortan würde der Soli dann nur noch für die obersten 10% der Einkommen anfallen; also für eine Gruppe, die man weitläufig als „Top-Verdiener“ bezeichnen kann. Deren politischer Arm ist bekanntlich neben der CDU vor allem der bayerische Ministerpräsident Söder, der es sich zu seinem Ziel erklärt hat, den Solidaritätszuschlag ab dem 1. Juli vollständig abzuschaffen – eine Wohltat für die Top-Verdiener zu Lasten des Rests der Bevölkerung, die von Söders Initiative überhaupt nicht profitiert. Ginge es „nur“ um diesen Punkt, hätte Söder sich gegen die SPD wohl nur mit Schrammen durchgesetzt – es ist nun einmal trotz medialer Schützenhilfe nicht so einfach, eine Steuerreform zu kommunizieren, von der nachweislich nur die Top-Verdiener profitieren. Da ist es förmlich eine Steilvorlage, wenn man die SPD mit ins Boot bekommt und eben diese Steuerreform als eine Art pragmatische Übereinkunft verkaufen kann, mit der man gemeinsam die ohnehin indiskutablen Forderungen aus den Reihen der CDU in den Punkten Mindestlohn, Arbeitszeiten und Lohnnebenkosten abblocken konnte. Braucht man die SPD überhaupt noch, wenn man mit Söder den Kanzler der Herzen hat? So wird aus der eigentlichen Maximalforderung durch die Kommunikation anderer, noch weitergehender Maximalforderungen ein gefühlt pragmatischer Kompromiss.

Auch hier marschiert die Union getrennt und schlägt am Ende vereint zu. Und die SPD zieht gleich in dreifacher Hinsicht den Kürzeren:

  • Ihre eigenen Vorschläge kommen gar nicht zur Diskussion, da diese durch die Erweiterung des Debattenraums nun selbst als Extrempositionen dastehen und man nur noch im „Feld“ der Unionsvorschläge debattiert.
  • Die SPD kann noch nicht einmal mit der Abwehr der CDU-Maximalforderungen punkten, da dafür ja bereits Annegret Kramp-Karrenbauer die Lorbeeren eingeheimst hat.
  • Schlussendlich wird die SPD einem „Kompromiss“ zustimmen, den sie zuvor abgelehnt hat.

CDU und CSU siegen also auf gleich dreifacher Ebene. Und wenn die Streichung des Solis erst mal durch ist, geht es an die anderen Punkte des Programmpapiers. Sicher wird sich eine neue Maximalforderung finden lassen, die dann diese Punkte als pragmatischen Kompromiss wirken lässt.

Diese wirklich clevere Strategie kann natürlich nur funktionieren, da die Medien das Spiel lammfromm mitspielen. DPA, SPIEGEL, Handelsblatt und Co. berichten gespielt kritisch über das angeblich „geleakte“ Papier, man regt sich mit angezogener Handbremse auf und feiert dann die Parteispitze dafür, die Ordnung wiederhergestellt zu haben. Noch wichtiger – man spielt aktiv bei der Erweiterung des Debattenraums mit und diskutiert plötzlich nicht mehr über die Sinnhaftigkeit oder Sinnlosigkeit einer Streichung des Solis, sondern über Für und Wider des Mindestlohns. Besser kann es für die Unionsparteien doch gar nicht laufen. Da muss man sich dann auch nicht mehr über die surreal wirkenden Zustimmungswerte für CDU und CSU und deren Spitzenkräfte wundern. Und der Mindestlohn? Warten wir mal die nächsten Wahlen ab. Sobald die Unionsparteien in der realistischen Position sind, ihn abzuschaffen, werden sie es ohne ein Zwinkern auch tun – Merkel-Ansprachen hin, Kramp-Karrenbauer-Tweets her.

p.s.: Wer sich ernsthaft und seriös über das Thema „Mindestlohn“ informieren will, dem sei das Positionspapier des Ökonomen Gerhard Bosch ans Herz gelegt.

Titelbild: Ahmet Misirligul/shutterstock.com


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